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Auf der Rückbank des kleinen Opels sassen Louisa, Orlando und ich dicht gedrängt, Schulter an Schulter. Fiona sass auf dem Beifahrersitz, um ihren Arm vor der Enge der hinteren Reihe zu bewahren. Carmen fuhr uns nach La Chaux-de-Fonds. Zu Michelangelos Geburtsort und zu seinem Bruder. Meine Pflegerin schien über die Musikwahl von mir und meinen Freunden mässig begeistert zu sein. Während wir laut und vermutlich ziemlich falsch zu Bohemian Rhapsody mitsangen, hatte sie nur tief geseufzt. Als wir im Tunnel de La Vue des Alpes waren, hätte ich schwören können, sie war kurz davor uns allen den Hals umzudrehen. Soweit die gutmütige Carmen zu so etwas fähig wäre. «Hört ihr eigentlich auch Musik die nicht dreimal so alt ist wie ihr?», fragte sie, als der Tunnel de La Vue des Alpes in den Tunnel du Mont Sagne wechselte, was ich auf dem Navi erkennen konnte. «Ja», antworteten Orlando, Lou und ich, Fionas «Nein» ging beinahe unter. «Gut, wie wäre es, wenn ihr eurer Freundin noch andere Lieder zeigt, um ihren Horizont zu erweitern?» Carmens Freude schien sich noch mehr in Grenzen zu halten, als Lou ihre Stunde gekommen sah, um über One Direction zu schwärmen, aber daran war sie selbst schuld.

Eine Lobeshymne auf One Direction später kamen wir endlich aus dem Tunnel und über einige schmale, gepflasterte Strässchen fuhren wir durch die flache Landschaft. Einige Hügel, winzig im Vergleich zu den Bergen Graubündens und klein im Vergleich zu den Hügeln Küssnachts, zierten den Horizont. Über eine mit Obstbäumen gesäumte Strasse kamen wir zu einem kleinen Hof. Ein Holzschild über dem Eingang des Stalles verriet uns, dass es sich hier um das Gestüt Haras Dubois sur Colline handelte. Ich erhaschte einen Blick auf einige Weiden auf denen Pferde grasten. Carmen parkierte vor dem Wohnhaus und wir stiegen aus.

Gegenüber des Hauses war ein alter Stall aus Holz. Aus einem Fenster sah uns der Kopf eines Pferdes an. Zwischen Haus und Stall lag ein Reitplatz. Aus dem Haus kam uns eine ältere, untersetze Frau mit graumelierten Haaren entgegen. «Guten Tag, Herzlich Willkommen in unserem kleinen Paradies. Ich bin Esther Dubois, aber ihr könnt mir Esther sagen.» Sie hielt uns die Hand hin und wir schüttelten sie. «Ich bin Olivia Dreher, wir haben telefoniert», stellte ich mich vor. «Das sind meine Freunde Fiona Narrodini, Louisa Rossi und Orlando Turner. Und das», ich wies auf Carmen, «Ist meine liebe Pflegerin Carmen da Silva.» «Sehr erfreut, dann zeige ich euch mal den lieben De Medici.»

Der Fuchswallach stand auf einem Paddock hinter dem Haus. Er war etwas grösser als Michelangelo, schätzte ich, aber ich sah sofort die Ähnlichkeit. Die gleichen langen Beine, der angedeutete Araberknick in der Nase und den edlen Kopf. Allerdings sah ich auch die Unterschiede: De Medici hatte blaue Augen und einen kleinen Heubauch. Aber er war, wie sein Bruder, bildhübsch. Als ich, begleitet von Esther auf den Paddock trat, spitzte er die Ohren und kam neugierig zu uns hinüber. Ich liess ihn an meiner Hand schnuppern und er schnaubte entspannt. Brav liess er sich aufhalftern und in den Stall führen.

Wir banden ihn beidseitig an und ein weiterer Schecke schob seinen Kopf aus einem der Fenster. Esther strich dem älteren Pferd über die Stirn, welche von weissem Stichelhaar überzogen war. «Das ist die Mutter von De Medici und Michelangelo, Mareike.» Ich legte den Striegel in den Putzkoffer und kam andächtig zu der Stute hinüber. Michelangelo und De Medici waren ihr, bis auf die Farbe, wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie war ein Dunkelfuchs, De Medici war deutlich heller. Aber die Gesichtszüge und vor allem die grossen, gütigen Augen räumten jegliche Zweifel aus dem Weg. Die alte Stute schnaubte und widmete sich wieder ihrem Heunetz.

Kurze Zeit später standen wir auf dem Sandplatz. Als ich auf ihm sass, fühlte es sich gut an. Mit leichtem Druck meiner Schenkel bewegte er sich vorwärts. Er war nicht nervös, wie Chanel, aber auch nicht so faul wie sein Bruder. Aber er hatte viel von dessen Einstellung zu Arbeit. Sein Trab war deutlich schwungvoller als Michelangelos und nicht so bequem um auszusitzen, aber es ging. Was mich aber definitiv störte war der Sattel. Es war ein Vielseitigkeitssattel, meiner Meinung nach viel zu hart und richtig Dressurreiten konnte man damit nicht. Egal, dachte ich mir und achtete darauf einfach das Bein lang zu bekommen. Meine Freunde standen am Rand des Reitplatzes und Lou filmte. Nachdem ich lange getrabt war und auch ein Schulterherein gewagt hatte, beschloss ich zu galoppieren. «Muss ich beim Galopp etwas beachten?», fragte ich Esther zur Sicherheit. «Der buckelt gerne beim Angaloppieren», rief sie mir zu. Ich gab ihr zu verstehen, dass ich sie gehört hatte und bereitete mich vor. Ich nahm einige Strähnen der mehrheitlich weissen Mähne in die Hand, sicher ist sicher. Dann schob ich mein Bein zurück und sofort erlebte ich was Esther meinte.

Das Hinterteil des Schecken flog in die Luft und er stiess ein freudiges Quietschen aus, ich versuchte so gut wie möglich mit der Bewegung mitzugehen. Nach zwei Sprüngen hatte er sich aber beruhigt und galoppierte normal. Oder, besser formuliert, wunderschön. Sein Galopp fühlte sich sehr weich an und war wunderbar zu sitzen. Seine Ohren waren gespitzt. Nachdem ich einige Male ganze Bahn geritten bin, beschloss ich über die Diagonale einen Galoppwechsel zu machen. Auf dem Sandplatz waren keine Buchstaben, weshalb ich ungefähr schätzte wo wir durchmussten. Als wir die Mittellinie kreuzten, sprang der Wallach beinahe von selber um. Ich lobte ihn kurz. An der nächsten langen Seite stemmte ich mein Gewicht in die Bügel und ging in den leichten Sitz. Ich liess De Medici vorpreschen und der Wallach machte, für seine Grösse, riesige Galoppsprünge, mit denen auch Bohemian Rhapsody mithalten könnte.

Ich war gerade dabei abzusteigen und plauderte etwas mit Esther, vor allem um mehr über De Medici zu erfahren. «Warum verkauft ihr ihn eigentlich?», fragte ich, während ich den Fuss aus dem Steigbügel nahm und mich vom Rücken des Wallachs schwang. «Meine Tochter Elise hat ihn bis vor einem Jahr geritten, ist dann aber nach Kanada ausgewandert und sie hat einfach kein Geld ihn rüber zu holen. Und da wir nächstes Jahr erwarten fünf Fohlen erwarten, haben wir wirklich keinen Platz für ihn.» Der Fuchsschecke wollte loslaufen, aber ich hielt ihn zurück.  «Aber eigentlich finde ich es schade ihn wegzugeben. Er wurde zwar wegen seiner Grösse nicht gekört, aber er wäre ein Traumhengst gewesen. Talentiert, freundlich und ein absolutes Verlasspferd», Esther seufzte, «Aber wir haben auch nicht unendlich viel Platz.» Mir kam spontan eine Idee: «Was wäre, wenn ihr mir De Medici zur Verfügung stellt. Ich nehme ihn mit nach Küssnacht, er wäre also weg, aber wenn Ihre Tochter ihn doch noch nach Kanada holen kann, wäre er nicht verkauft.» Esther nickte. «Ich werde das mit meiner Tochter besprechen, aber das ist per se keine schlechte Idee.»

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