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Am Abend lag ich lange wach. Ich hatte nichts mehr von Angélique und Leva gehört seit sie in die Klinik gefahren sind. Meine Gedanken kreisten. Wer würde anstelle von Angélique nach Fontainebleau mitkommen? Aline und Kevin würden ganz sicher dabei sein, jetzt ging es nur noch um mich, Lia und Mariella. Bei Lia und Marchesi lief es aktuell nicht wirklich, aber sie hatten mehr Erfolge vorzuweisen als Mariella und ihr Ikarus. Ikarus war auch eigentlich kein Spingpferd, der stämmigere Wallach war ein Araber-Freibergermix, der einfach gerne sprang. Aber er war deutlich weniger vermögend als die restlichen Warmblüter. Trotzdem hatte er ein riesiges Talent und den Willen zu siegen. Und ich, naja ich hatte Erfolge, aber den grössten Teil mit einem anderen Pferd. Gegen Mitternacht beschloss ich, dass ich mich genug hin und her gewälzt hatte und stand auf. Ich zog mir eine dünne Jacke und Leggins an und beschloss eine Runde raus an die frische Luft zu gehen. Sollte ja beim Einschlafen helfen.

Draussen war es kühl, aber nicht kalt. Die Sterne glänzten wie Diamanten auf dem dunkeln Nachthimmel. Der See lag beinahe spiegelglatt da. Meine Füsse trugen mich zu den Koppeln, auf welchen einige Pferde die Nacht verbrachten. Die hellen Strahlen der Scheinwerfer reichten nicht ganz bis zum Tor, aber der silberne Schein des Vollmondes tauchte alles in ein unwirkliches Licht. Ich konnte zuerst nichts sehen auf der Wiese, als meine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, konnte ich die Schemen von grasenden Pferden ausmachen. Das Bild erfüllte mich mit einem inneren Frieden, den ich in den letzten Wochen so schmerzlich vermisst hatte. Immer Höher, Schneller, Weiter und ich selbst hatte mir keine Pause gegönnt. Ich lehnte mich an den Zaun und stützte das Kinn auf die oberste der weissen Holzlatten. Ich wusste nicht wie lange ich dort verharrt hatte, irgendwann wurde ich schläfrig und begann in der kühlen Nachtluft zu frösteln. Ich zog meine Arme an den Körper und machte mich auf in mein Bett.

Sonntage waren bei normalen Menschen ja die Tage an denen man lange schlafen konnte, aber wer Pferde hat, wird das nur vom Hörensagen wissen. Ich schälte mich um halb sieben aus meinem Bett und ging in den Aufenthaltsraum des Mitarbeitertraktes um zu Frühstücken. Ich nickte Carmen kurz zu, welche gerade den Raum verlassen wollte. Sie blieb vor mir stehen und sah sich kurz um. Ausser uns waren noch einige andere Leute im Raum, welche aber beschäftigt schienen. «Hast du es gehört?», wisperte sie eindringlich. Ich schüttelte leicht den Kopf. Wovon sprach sie. «Die Stute, die gestern zusammengebrochen ist,» ich ahnte Böses, «sie ist in der Nacht gestorben. Vergiftet.» Mir stockte der Atem und ich spürte wie alle Farbe aus meinem Gesicht wich. Das durfte nicht wahr sein. «Wie…», sagt ich, meine Stimme kaum mehr als ein Hauch. Dann traf mich die Wahrheit wie ein Schlag.

Die Teilnehmer des kleinen Mini-Turniers am Ende des Lehrgangs trafen sich in Franz Schwerenhofs Büro. Ich entdeckte Mariella, Kevin und Aline, sowie die Bereiter die ebenfalls teilnahmen. Unter ihnen waren auf Lukas und Florence, weshalb ich mich zu ihnen gesellte. Als letzte traf Lia ein und ich unterdrückte die Wut die in mir aufkeimte. Ich hatte gar keine Beweise und wenn sie unschuldig war, stand ich wie die Zicke da, die sie des Mordes an Trendy Leva beschuldigt hatte. «So, da alle da sind», begann Franz, «beginnen wir. Das Turnier beginnt um 13 Uhr auf dem grossen Springplatz. Abgeritten wird in der Springhalle. Wir sind 13 Teilnehmer, Angélique Chevalley startet nicht.» Er verlor kein Wort über Trendy Leva, vermutlich um uns nicht zu verunsichern.

«Es geht darum, Turnieratmosphäre zu simulieren, weshalb nur mit Tenue gestartet wird. Die Startnummern werden gelost und ich schreibe das Ergebnis auf. Getauscht wird nicht. Soweit alles klar?» Wir nickten. «Gut, zuerst Andermatten, Florence. Die schlaksige Brünette zog die Neun und wirkte zufrieden mit dem Ergebnis. «Bürer, Kevin» Der Junge, welcher mindestens zwei Köpfe grösser war als die eh schon riesige Florence würde als Letzter starten. «Cassis, Mariella» würde als vierte ihr Glück versuchen. Da die Liste alphabetisch nach Nachnamen ging, würde ich vermutlich die nächste sein. Ich zog wahllos eines der ordentlich gefalteten Zettelchen aus der Schachtel. Auf dem Zettelchen stand die Nummer acht, ich würde unmittelbar vor Florence starten. Lia wenig später.

Carmen hatte mir Chanel schon reingeholt und führte gerade Michelangelo aus dem Stall. «Ich mache heute mal etwas mit ihm, damit du dich auf das Turnier konzentrieren kannst.» Ich winkte ab. «Also Turnier kann man das aber wirklich nicht nennen.» Carmen schmunzelte. «Das ist der Schlüssel nach Fontainebleau. Ich denke schon dass es wichtig ist.» Mit diesen Worten spazierte sie mit Michelangelo in Richtung Wald. So sehr ich Michelangelo liebte, war ich froh dass er und Carmen sich gut verstanden. Ich betrat den Stall und lockte Chanel mit einigen Leckerlies an die Boxentüre. Als ich sie jedoch genauer betrachten konnte, traf mich beinahe der Schlag. Die Schimmelstute war über und über mit Dreck verschmiert. Auf ihrer linken Wange prangte ein Grasfleck, auf der rechten ein gelblicher Mistfleck. Das weisse Fell ihrer Seite zierte eine Kruste aus halbfeuchtem Schlamm. In ihrem Schweif und Schopf war gefühlt eine halbe Wiese: Löwenzahn, Grashalme und einige Kletten waren in den Haaren hängengeblieben und verliehen der Schimmelstute ein ungepflegtes Aussehen. Ich beschloss sie zu waschen, anders würde ich sie nie im Leben sauber bekommen. Zuerst entfernte ich aber die Pflanzen aus Chanels Langhaar. Es war ein Wunder wie dreckig ein Pferd innerhalb von knapp zwei Stunden werden konnte, vor allem da sie ja eigentlich eine Ekzemerdecke trug. Aber dreckige Pferde waren glückliche Pferde.

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