35~
Die Bescherung hatten wir knappe vierzig Minuten später als wir Franz halfen die Gymnastikreihen für das Training am Nachmittag aufzubauen. Lia kam über den Springplatz gerannt. Wo sie gewesen war, und warum sie eine Viertelstunde später kam als alle anderen wussten wir nicht. «Ein Pferd ist im Stall zusammengebrochen», rief sie, noch während sie auf uns zu rannte. Sofort liessen wir alles stehen und liegen und folgten Lia. Sie führte uns zum Stall der Gastpferde. «In der hintersten Box», keuchte sie atemlos. Angélique eilte an uns allen vorbei, spähte durch die Gitterstäbe und stiess einen erstickten Schrei aus. Auf dem Boden lag ihre braune Stute, Leva. Sie wirkte apathisch, schwitze und atmete heftig. Franz hatte schon sein Smartphone in der Hand und rief den Tierarzt. Noch während er die Nummer wählte wies er Angélique an die Stute mit der Abschwitzdecke zu zudecken. Den Rest, inklusive mir scheuchte er aus dem Stall, wir sollten die Gymnastikreihen fertig aufbauen.
Ich war gerade dabei die Distanz der Trabstangen zu korrigieren, als Franz wieder zu uns stiess. Er seufzte tief. «Die Stute wird in die Klinik gebracht. Der Tierarzt konnte nicht feststellen an was es lag.» Wir alle schwiegen. «Deshalb werden wir den Lehrgang erst morgen weiterführen.» Ich konnte seine Entscheidung verstehen, es wäre unfair Angélique gegenüber und nach so einem Vorfall würde sich auch kaum einer richtig konzentrieren können. «Ihr dürft aber selbstverständlich selbstständig auf der Anlage des Hofes trainieren, wenn ihr wollt.» Ich nutzte die freie Zeit, in dem ich zu Michelangelo ging. Der Wallach würde ausgiebig geputzt, geschmust und verwöhnt werden, da Florence sich nächste Woche mehrheitlich um ihn kümmern würde. Bohemian Rhapsody und Chanel sollten von Mittwoch bis Sonntag auf einem Turnier in der Westschweiz sein. Und die Woche darauf eventuell auf der Europameisterschaft…
Ich riss mich aus meinen Gedanken und holte den Wallach aus seiner Box. Dafür, dass er das einzige Pferd des Stalles war, welches um diese Zeit nicht auf der Weide war, verhielt er sich sehr vorbildlich. Er stand am Fenster, döste und liess sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Als ich ihn leise rief, kam er an die Tür getrottet und nahm das Leckerlie in Empfang. Ich führte ihn aus dem Stall und band ihn draussen auf dem Platz an. Er wirkte so zufrieden und glücklich. Zuerst kontrollierte ich, wie immer, die Wunde an seinem Bauch, aber diese entwickelte sich grossartig. Das Ödem war verschwunden und die Naht trocken. Alles in allem sah er grossartig aus, wenn er auch durch die Boxenruhe ein kleines Bäuchlein bekommen hatte. Aber sein Fell glänzte und seine honigbrauen Augen wirkten wach und klar.
Ich verbrachte beinahe eine Stunde mit putzen, schmusen und frisieren, denn die zweifarbige Mähne war etwas lang geworden. Allerdings schnitt ich sie nicht ab, denn irgendwie sah es ganz süss aus, sondern versuchte sie zu vielen Zöpfen zu flechten, was ihn aussehen liess wie ein Indianerpony. Ich führte ihm am Halfter vom Hof. Kurz schaute ich auf meinem Handy die Route nach, damit sie auch nicht zu lange war um den Wallach nicht zu überarbeiten, schliesslich waren die sechs Wochen Schonzeit noch nicht um. Dann spazierte ich mit Michelangelo in Richtung des nächsten Dorfes, Greppen. Mein Plan war simpel: zum Klosterinternat spazieren, um unauffällig die Schule anzuschauen, dort würde ich auch eine Pause machen, in der Micky grasen und sich ausruhen durfte. Dann zurück zum Gut.
Der gekieste Feldweg führte in leichten Schlenkern auf das Dorf Greppen zu. Das Kloster lag etwas weiter den Hügel hinauf. Die Aussicht von dort über den See musste sicher einmalig sein. Wir spazierten langsam den Hügel hinauf. Den Strick hielt ich ganz locker in der Hand, Michelangelo war ja schliesslich brav. Die Sonne brannte beinahe herab und wir hatten unangenehm warm. Ich bemerkte wie Micky begann zu schwitzen, da er aber sonst topfit aussah, schob ich es auf die Hitze. Er hatte auch ein sehr dickes Sommerfell. Ich würde Carmen mal bitten müssen ihn zu scheren. An einem Brunnen am Waldrand machten wir eine ganz kurze Pause und tranken etwas. Würden wir die letzten Kehren auf der sanft ansteigenden Strasse hinauflaufen, kämen wir zu einem schmiedeeisernen Tor, ähnlich dem des Tschaler-Internats. Dahinter war eine grosse Kirche mit zwei Türmen zu sehen. Das Gebäude war weiss getüncht und links war ein ebenfalls weisses Haus mit roten Fensterläden angebaut. Durch ein riesiges, offenes Holztor konnte man in einen Innenhof blicken. Ich setzte mich ins Gras. Michelangelo stand grasend etwas abseits von mir. Ich beobachtete zufrieden den Wallach. Nach einer Viertelstunde erklang eine Glocke und eine Gruppe Mädchen in rot-weisser Schuluniform eilte über das Gelände. Sie blickten kurz zu mir rüber, gingen aber weiter. Ich liess meinen Blick über den See gleiten. Ich spürte Michelangelos warmen Atem im Nacken und fasste nach hinten um ihn zu streicheln. Er schnaubte zufrieden und ich stand auf. «Na Micky, gehen wir wieder zurück?», mit diesen Worten zupfte ich leicht am Strick und der Wallach folgte mir.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top