33~
Die Woche zog wie im Nuh an mir vorbei und in Nullkomma nichts war es Freitagnacht. Carmen verlud gerade Bohemian Rhapsody in den LKW. Gemeinsam mit Lukas und Aline war ich an einem Nachtspringen im Solothurnischen gewesen und waren alle drei todmüde. Die Runde mit Soda war nicht unbedingt die beste gewesen, wir hatten einen Steher an einem schmalen Steilsprung gehabt. Aline brachte heute die Siegerschleife nachhause. Auf der Rückbank des LKWs starrte ich nun in mein Handy. Lukas, welcher links von mir sass, schnarchte leise, Aline sah aus wie wenn sie ebenfalls bald einschlafen würde. Ich starrte auf mein Handy. Ich hatte in der letzten Woche lange überlegt ob ich Kontakt mit der Frau aufnehmen sollte, welche Michelangelos Vollbruder verkaufte. Gestern hatte ich mich endlich dazu durchringen können, ihr anzurufen. Wir hatten einen Probereittermin abgemacht, nächste Woche Dienstag. Da der Wallach in Le Chaux-de-Fonds stand, konnte sich das gut mit dem Turnier in Lignièrs, welches ebenfalls nächste Woche stattfand, kombinieren. Ich könnte in dieser Zeit zweimal den Wallach probereiten. Das einzige Problem waren aktuell meine Mutter. Sie sah nicht, weshalb ich ein zweites Pferd brauchte, mein Vater hingegen konnte meine Argumente vollkommen nachvollziehen. Es war sehr egoistisch nach all dem, was meine Eltern für mich getan haben, noch ein Pferd zu verlangen. Aber vielleicht konnte ich De Medici auch zur Verfügung gestellt bekommen. Ich stellte mein Handy aus. Jetzt musste ich mich zuerst auf den Sichtungslehrgang konzentrieren. Ich legte meinen Kopf an die kühle Scheibe des LKWs. Draussen zog die Welt vorbei, gehüllt in monotone Dunkelheit. Irgendwann fielen mir die Augen zu.
Ich erwachte erst als Carmen mich sanft schüttelte. «Geh in dein Bett, Olivia, ich versorge Soda», hörte wie durch Watte. Es war beinahe ein Uhr als ich in mein Bett taumelte. Das nervige Piepen meines Weckers riss mich viel zu früh aus dem Schlaf. Ich schlug mit der Hand auf die Aus-Taste und drehte mich um. Die Augen fielen mir fast wie von selber wieder zu, als irgendwo im hintersten Winkel meines Gehirnes eine Stimme flüsterte: Heute ist der Lehrgang. Sofort sass ich fast kerzengerade im Bett. Lehrgang. Mit Chanel. Für die Euro. Vor meinen Augen tanzten Sterne, mein Körper war nicht bereit gewesen, so schnell aufzusitzen. Ich raffte mich auf und begann mich anzuziehen. Pünktlich um zwanzig vor neun betrat ich mit Chanel die grosse Springhalle. Einige der Teilnehmer waren schon da, Aline natürlich, auf ihrer Fuchsstute Red Africa, Angélique Chevalley mit einer wunderschönen braunen Stute, sowie ein dunkelblonder Junge auf einem Rappen. Als ich mich gerade in den Sattel meiner Stute schwang, betraten weitere Teilnehmer des Lehrgangs die Halle: ein schwarzhaariges Mädchen und ein kräftiger Lichtfuchs. Keiner sagte etwas, wir ritten uns schweigend warm. Franz würde um neun zu uns stossen und dann würde das Einspringen beginnen. Eigentlich sollten wir ja zu sechst sein, aber lange Zeit drehten wir zu fünft unsere Runden in der Halle.
Um zehn vor neun öffnete sich die Hallentür erneut, aber anstelle von Franz, den ich erwartet hatte, betrat ein Mädchen mit einem grossen, schlanken Braunen die Halle. Sie wirkte wie eine Puppe: blasse Haut, unnatürlich rotes Haar und sie und ihr Wallach waren gross, aber beide so schlank, das ich fürchtete sie könnten weggewindet werden. Als ich an den beiden vorbeitrabte fiel mir die Zäumung des Wallaches auf: es sah aus wie eine seltsame Variante eines Pelhams oder einer Kandare. Ich zuckte mit den Schultern, es war schliesslich jedem selber vorbehalte mit dem Gebiss zu reiten, welches das Pferd am besten annahm. Darum ritt ich Chanel auch seit neuestem auf Pelham. Um Punkt Neun stiess Franz zu uns. «Herzlich Willkommen zum Sichtungslehrgang für die Europameisterschaften. Damit jeder kurz die Namen der anderen Mitreiter gehört hat, bitte ich euch reihum sowohl euren Namen, als auch den eures Pferdes zu nennen.» Aline und ich machten den Anfang, dann fuhr Angélique fort. Ich erfuhr dass Angéliques Stute Trendy Leva hiess, der Junge mit seinem Rappen waren Kevin Bürer und Champ of Glass, Mariella Cassis und Ikarus waren das Schwarzhaarige Mädchen und der etwas kräftigere Fuchs. Das sechste Paar waren Lia Merlin Maier und Marchesi.
Schon beim Einspringen war spürbar dass die anderen Paare schon deutlich mehr als einem Monat zusammen trainierten. Mir wurde bewusst, was ich die letzen Wochen verdrängt hatte: wie unglaublich blöd diese ganze Idee war. Wenn ich in den Kader kam, dann nur weil mein Pferd gut war, nicht weil wir ein gutes Paar waren. Ich galoppierte Chanel an und wir nahmen das kleine Kreuz ohne Probleme. Ich lobte sie kurz und versuchte meine Sorgen zu verdrängen. Franz hätte mich sicher nicht eingeladen, wenn er glaubte das würde nichts werden. Als wir unsere Pferde fertig vorbereitet hatten, verschob Franz das Training aus der Halle auf den grossen Rasenplatz. Ein Parcours war aufgestellt. «Dieser Parcours ist ein Nachbau des Parcours der letztjährigen Europameisterschaft. Aline und Kevin können sich vielleicht noch erinnern. Wir werden heute einige schwierige Stellen anschauen und morgen werden wir den ganzen Parcours springen und auch ein bisschen Turnieratmosphäre simulieren. Einige Bereiter machen auch mit und unter den Zuschauern werden auch einige Sponsoren sein.» Bei seinen Worten wurde mir etwas flau im Magen. Nach dem ersten Zusammentreffen mit Andreas Reichlin hatte ich keine Lust auf ein zweites. Ich schüttelte meine Gedanken ab und fixierte mich wieder auf das Hier und Jetzt.
«Die erste schwierige Linie haben wir von Sprung 3 auf 4. Hier ist exaktes Reiten gefragt, schliesslich muss eine 180° Wende in möglichst kurzer Zeit geritten werden. Lia und Mariella, ihr werdet mit euren eher grossen Pferden vermutlich etwas mehr Platz brauchen um zu wenden. Der Springständer zwischen den Sprüngen gilt als Wendemarke, da aussen rum muss jeder. Kevin, du machst den Anfang.» Der Junge und sein Rappe galoppierten eine Volte, dann zogen sie auf den Sprung an. Der pechschwarze Hengst schnellte in die Luft und überflog den Sprung. Sein Reiter ging auf Nummer sicher und ritt die Wendung gut aus. Ich würde mit Chanel versuchen näher an die Wendemarke heranzureiten. Franz nickte zustimmend. «Angélique, du als nächste.» Angélique nahm die Zügel auf und Trendy Leva sprang willig ein. Die zierliche Stute raste auf den ersten Sprung zu. «Viel zu schnell», hörte ich Mariella neben mir flüstern. Leva machte einen gewaltigen Satz und es schien wie wenn die beiden im Sprung schon nach rechts wendeten, denn kaum gelandet rasten sie schon um die Wendemarke herum und flogen über den Oxer. «Machs gleich nochmal, aber viel langsamer», rief er der dunkelhaarigen Reiterin zu. Sie ritt eine Volte um die Stute zu versammeln, dann fokussierte sie abermals den ersten Steilsprung. Leva schlug unzufrieden den Kopf, sie wollte in ihrem Tempo über den Sprung, aber Angélique versammelte das Tempo abermals. Diesmal kamen sie in einem normalen Arbeitstempo um die Kurve und über den Oxer. Die Westschweizerin lobte ihre Stute und parierte sie dann in den Trab durch.
Aline war die nächste. Sie ritt Red Africa in einem guten Grundtempo hinein, auf perfekter Linie um die Wendemarke und fehlerfrei über den zweiten Sprung. Ihr Ritt war sehr harmonisch, ruhig und trotzdem schnell gewesen. Ich konnte keinen Fehler entdecken. Anders als bei Lia und Marchesi, welche die nächsten waren. Der Wallach hatte das Maul aufgerissen und liess die Zunge raushängen als sie ihn im Galopp auf den ersten Sprung richtete. Er versuchte den Kopf hochzureissen und das Martingal spannte sich. In seinen dunklen Augen war das Weisse zu sehen. Ich fragte mich woher diese Panik auf einmal kam. Beim Abspringen hatte er doch so ruhig gewirkt. Kurz vor dem Sprung geschah es: der Wallach verweigerte. Seine Reiterin konnte sich gerade noch so oben halten, wendete und ritt ihn erneut an. Ihre Miene war verkniffen und als der Wallach zögerte, touchierte sie ihn kurz mit der Gerte. Angespannt sprang er trotzdem, berührte aber mit den Hinterbeinen die Stange, welche klappernd zu Boden fiel. «Machs nochmal», reif Franz, während er die Stange wieder auflegte. Als die Rothaarige den Wallach abermals auf den Sprung richtete, blockierte sich in ihm alles. Er brach nach Links aus und bockte, wie wenn er versuchte seine Reiterin loszuwerden.
Lia hielt sich oben und trieb ihn nach vorne. Gehetzt galoppierte er auf den Sprung zu. Ich sah wie sehr die Zügel gespannt waren, wie verkniffen Lias Gesichtsausdruck und den panischen Ausdruck in Marchesis Augen. Er riss den Kopf immer höher, Lia gab ihm einen entschiedenen Klaps mit der Gerte als er zögerte und der Wallach bohrte seine Hufe tief in den Rasen. Der abrupte Stopp hätte Lia beinahe aus dem Sattel geschleudert, aber sie hielt sich tapfer am Vorderzeug fest. Marchesi bäumte sich auf, die grossen Hufe wirbelten durch die Luft, die Stollen liessen die Fetzen des Rasens durch die Luft fliegen. Er stieg senkrecht, Lia rutschte langsam nach hinten, die Schwerkraft zog sie beinahe aus dem Sattel. «Spring ab», hörte ich Franz rufen. Er versuchte sich dem Wallach zu näheren ohne von dessen Hufen getroffen zu werden. Die anderen Teilnehmer und ich sassen wie in Schockstarre auf unseren Pferden. Ich hatte schon viele Pferde gesehen die sich aufgeführt hatten, aber noch keinen der so partout nicht springen wollte wie Marchesi. Und dann fiel mir etwas auf: Wenn Lia und ihr Brauner an diesem Lehrgang teilnahmen, dann musste der Braune gesprungen sein und zwar nicht schlecht. Weshalb führte er sich jetzt so auf?
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