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Die Nervosität hatte sich zu einem harten Knoten in meinem Magen geformt. Carmen hielt Chanels Zügel und führte uns für das Stechen abermals zum Sandplatz. «Mit Michelangelo hätte ich das locker geschafft», seufzte ich. Carmen drehte sich um. «Olivia, du sitzt aber nicht auf Michelangelo. Wenn du nach Fontainebleau willst, musst du dich jetzt mit diesem Pferd arrangieren.» Ich öffnete den Mund um etwas zu erwidern, aber die Dunkelhaarige fiel mir ins Wort. «Kein aber, entweder hast du die Eier um jetzt da reinzureiten oder nicht. Aber bitte reiss dich zusammen.» Ihre dunkeln Augen funkelten wütend. Dann liess sie die Zügel los und trat einen Schritt vom Pferd weg. Ich schluckte, nahm die Zügel auf und trieb Chanel an. Wir trabten zum zweiten Mal auf den Sandplatz.
Ich zeigte ihr kurz den einen Plankensprung, welcher mit grossen Blumenkübeln dekoriert war. Dann schob ich mein äusseres Bein zurück und die Stute sprang willig ein. In einem grossen Bogen fokussierte ich den ersten Sprung. Die Stute wollte schon losstürmen, aber ich hielt sie zurück. Unwillig schüttelte sie sich. Dann gab ich ihr nur etwas mehr Zügel und sie schnellte vorwärts. Ihre Hinterbeine katapultierten uns über den ersten Steilsprung. Ich nahm das Tempo etwas zurück um die enge Wendung auf den nächsten Sprung besser zu erwischen. Chanel reagierte, auch wenn die Stute lieber in vollem Galopp über den Platz gerast wäre. Den Einsprung in die Kombination trafen wir nicht ganz passend und ich konnte ein Klappern hören. Aber es blieb keine Zeit um nachzusehen ob die Stange gefallen war. Der Aussprung war ebenfalls nicht perfekt und wieder klapperte es. Ich trieb sie an. Sofort verlängerten sich ihre Galoppsprünge und sie legte an Tempo zu. Die Umgrenzung des Platzes hinter dem mächtigen Plankensprung behielt ich fest im Blick. Die weissen Ohren spitzten sich und sie nahm den Sprung flüssig aus dem Rhythmus. Schon kurz nach der Landung liess ich sie wenden. Der helle Sand spritzte unter ihren Hufen auf. Nur noch die Mauer und dann die Abschliessende Kombination aus Steil, Oxer, Steil. Die Mauer war ein fieses Hindernis: sie war in einem hellen Beige gehalten, welches sich gegen den Sand nur wenig abhob. Chanels unglaubliche Erfahrung zahlte sich einmal mehr aus und sie segelte einfach darüber hinweg.
Auf die letzte Linie liess ich sie rennen. Sofort wurde schneller, ihr Kopf schnellte in die Höhe. Ihre Hufe schienen den Sand nur noch zu streifen und mit einem gewaltigen Satz überflog sie den Steil. Aus den zwei Galoppsprüngen zum Oxer wurden schlussendlich nur einer, und den letzten Steil machte sie als In-Out. Was mir aber mehr als egal war. Sie wurde ausgiebig gelobt. Der französische Kommentator überschlug sich beinahe. Als ich auf die Anzeigetafel schaute, hätte es mich beinahe aus dem Sattel geschmissen. Fehlerfrei und eine unglaubliche Zeit. Ich parierte Chanel durch und lobte sie überschwänglich. Carmen erwartet mich wieder am Ausgang. Ihr Gesichtsausdruck war unlesbar. «Tja, siehts du. Michelangelo ist nicht der einzige der Springen kann», ihre Stimme war jedoch freundlich. Etwas zerknirscht tätschelte ich Chanel den Hals. Klar, Chanel war mir wichtig, aber Micky war mein Pferd. Er würde immer meine Nummer eins sein. Während ich auf dem Abreiteplatz meine Schrittrunden drehte, sah ich aus dem Augenwinkel wie ein älterer Mann, welcher nicht unbedingt der dünnste war, Carmen ansprach. Carmen nickte und deutete auf uns. Ich lenkte Chanel in die Richtung der beiden, ich wollte mitbekommen um was es ging. Die beiden waren in eine angeregte Unterhaltung vertieft, von der ich gerade noch: «... wirklich vielversprechend», mitbekam.
«Was ist vielversprechend?», fragte ich. Carmen zuckte kurz zusammen, sie hatte mich nicht kommen sehen. «Herr Reichlin, das ist Olivia, unser Juniorentalent.» Ich streifte den weissen Handschuh von der Hand um dem älteren, glatzköpfigen Mann die Hand zu schütteln. «Guten Tag Olivia, ich bin Andreas Reichlin, Zuständig für das Sponsoring des Waldstättenguts durch die Schwyzer Kantonalbank.» Ich setzte ein Lächeln auf, welches ich mir von meiner Mutter abgeschaut hatte. Wer mich nicht gut kannte, würde es nicht durchschauen. Der Mann widerte mich an. Er hatte ein ebenso falsches Lächeln auf dem Gesicht wie ich, nur das seines leichter zu durchschauen war. «Freut mich Sie kennenzulernen.» Er nickte gönnerhaft. «Du bist eine perfekte Botschafterin für uns. Jung, sympathisch und erfolgreich.» Das klang mir verdächtig nach einer auswendig gelernten Phrase, aber ich musste mitspielen. Franz wäre nicht begeistert wenn ich seinen Sponsor vergrault hätte. «Was treibt sie dann nach Lausanne? Sind sie nur gekommen um mich reiten zu sehen?» «Ich muss doch das neue Juwel in Schwerenhofs Team in Aktion sehen. Du bist wirklich ein Ausnahmetalent.» Sagt der, der mit Pferden nichts am Hut hat, dachte ich mir, schwieg jedoch. «Danke, aber das Talent hat eher mein Pferd, Chanel.»
Die weisse Stute tänzelte herum. Ihr gefiel das Stehen nicht. Carmen warf mir einen warnenden Blick zu, den ich als: Bitte vergraul nicht den Sponsor, ich will am Ende des Monats noch meinen Lohn sehen, deutete. «Ein gutes Pferd hast du da. Franz hat einen hohen Kredit aufgenommen um sie zu kaufen.» Reichlin streckte seine Hand aus um der Stute über den Nasenrücken zu streicheln. Die weissen Ohren schnellten sofort nach hinten, die Nüstern kräuselten sich. «Nicht», warnte ich, «sie schnappt.» Was natürlich gelogen war, Chanel schnappte nicht, aber dieser Mann widerte sie ebenso an wie mich. Carmen rettete die Situation in dem sie schnell sagte: «Ja, Chanel ist ein Einzelstück. Sie ist ja schon 2012 Olympiade in London gelaufen, unter Taizo Sugitani. Sie wird Olivia eine hervorragende Lehrmeisterin sein.» Reichlin konzentrierte sich wieder auf die Portugiesin, während ich weiter meine Runden ritt.
Als der letzte Reiter den Abreiteplatz verliess um am Stechen anzutreten, sprach mich ein junges Mädchen auf einem kräftigen Fuchs an. Sie war dunkelhäutig und unter ihrem Helm schauten schwarze Locken hervor. Am auffälligsten war jedoch ihr Gesicht. Auf der linken Wange war die Haut vernarbt, vermutlich verbrannt, so wie es aussah. «Du bist Olivia?», fragte sie mit einem starken französischen Akzent. Ich nickte. «Wenn der nächste Reiter nicht schneller ist als du, haben wir gewonnen.» Überrascht lächelte ich. «Wir?», fragte ich etwas perplex. «Du hattest 56.9 Sekunden, ich auch», stellte sie fest. Wir schwiegen uns eine Weile an. Als schliesslich das Resultat des letzten Reiters bekannt war, er hatte einen unten gehabt, drehte ich mich wieder zu ihr um. «Glückwunsch. Sieht so aus, als hätten wir gewonnen.» Sie lächelte breit und es fiel mir schwer nicht auf ihre Narbe zu starren, denn das wäre sehr unhöflich gewesen. Ich versuchte meinen Blick auf ihre dunkeln Augen zu fixieren, was mir auch mehr oder weniger gelang. «Glückwunsch zurück. Ich bin übrigens Angélique Chevalley und das ist Manou.» Sie tätschelte ihrem Fuchs den Hals.
Als Carmen mich am Bein antippte, wäre ich vor Schreck beinahe vom Pferd gefallen. «Ihr beiden müsstet langsam euch für die Siegerehrung bereitmachen.» Sie wies auf die anderen Reiter, welche mit ihrem Pferden schon am Ausgang des Abreiteplatzes Stellung bezogen. Ich liess Angélique mit ihrem Manou vor und trottete mit Chanel hinterher. Als wir uns auf dem Hauptplatz aufstellten, konnte ich mein Glück kaum fassen. Ich hatte in meiner ersten Springprüfung mit Chanel gewonnen. Gestern in der Dressur waren wir komplett neben der Spur gewesen und heute würden wir eine Schleife bekommen. Die Schleifen wurden den anderen Pferden angesteckt. Als der Mann mit den goldenen Schleifen auf Chanel zukam, streichelte ich ihr schon vorsorglich beruhigend über den elegant gebogenen Hals. Aber sie störte es nicht ein bisschen. Als der französische Moderator endlich aufgehört hatte zu sprechen, begann die Musik zu spielen, das Signal für die Ehrenrunde. Ich und Chanel galoppierten neben Angélique Chevalley und Manou her. Und Chanel schien vor Stolz zehn Zentimeter grösser zu werden. Die Stute wollte gesehen werden. Voller Stolz lobte ich sie.
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Hey, ich melde mich auch mal wieder. Wie ihr vielleicht gemerkt hat, ist es in letzter Zeit still um mich und diese Geschichte geworden. Das wichtigste vorweg: Mid Air wird natürlich weitergehen, allerdings werde ich aktuell durch eine hartnäckige Sehenenscheidenentzündung sehr ausgebremst mit schreiben. Bis Weihnachten sind die Kapitel aber noch gesichert. Nachher sehen wir dann, wie schnell mein Handgelenk heilt.
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