28~

Nervös ritt ich auf dem Abreiteplatz meine Trabrunden. Bohemian Rhapsody lief wie eine eins, das einzige was mir Sorgen machte war der Regen. Auf dem Platz begannen sich schon Pfützen zu bilden. Aber der Sand war noch griffig genug um zu springen. Ich galoppierte den Dunkelbraunen an und drehte in dem Chaos meine Runden. Den meisten schienen die Bahnregeln egal zu sein, was ich auf diesem Niveau erschreckend fand. Ich wollte meinen ersten Sprung machen, rief «Steil frei», wie es sich gehörte. Einige Reiter machten Platz und so zog Soda an. Auf einmal nahm er den Kopf hoch. Ich spähte durch die dunkeln Ohren nach vorne. Mein Herz stoppte. Ritt da gerade jemand anderes auf den gleichen Sprung zu? Ich versuchte Soda abzuwenden. Der Wallach legte einen astreinen Sliding Stop hin, in dem er sich wie ein Westernpferd beinahe auf die Hinterhand setzte.

Doch dann sackte der grosse Wallach unter mir weg. Er war mit dem einen Hinterhuf ausgerutscht. Bevor er ganz in den nassen Sand fallen und mich unter sich begraben konnte, war er wieder auf den Beinen. Ich hatte unwillkürlich das Vorderzeug umklammert, was auch der einzige Grund war, weshalb ich nicht im Dreck lag. «Geht’s noch?», fuhr ich den anderen Reiter an. Bis ich das Gesicht erkannte und ich grosse Augen machte. Das konnte nicht sein, es war unmöglich. Aber es musste so sein. Auf einem Schimmel sass jemand den ich jahrelang bewundert hatte. Und dieser jemand hiess zufällig Martin Fuchs. Der junge Springreiter runzelte nur die Stirn. «Hast du mich nicht gehört?», fragte er eher verwirrt. «Ich habe Steil frei gerufen», verteidigte ich mich über den Steil hinweg. «Tut mir leid. Geht es deinem Pferd gut?» Überrascht blickte ich auf den grossen Dunkelbraunen. Er stand auf allen vier Beinen und schien gesund. Nur dreckig war er durch den Beinahe-Sturz. Seine ganze rechte Hälfte war von hellbeigem Matsch verschmiert. «Ich glaube bis auf die Kriegsbemalung geht es ihm gut. Ist deiner auch ok?» Der Reiter nickte.

Äusserlich versuchte ich mich ganz ruhig zu geben. Es ist nur Martin Fuchs, redete ich mir ein, was nicht klappte, da die andere Hälfte von mir: DAS IST MARTIN FUCHS! Schrie und beinahe hyperventilierte. «Sorry nochmal, geh du zuerst.» Somit wendete ich und ritt im Schritt zu Carmen, welche am Zaun stand. «Geht er normal?», rief ich meiner Pflegerin zu. Diese öffnete nur das Tor neben ihr. «Trab schnell über den Asphalt, damit ich mir sicher bin.» Nach einem «Tor frei»; trabte ich auf dem Asphaltweg vor dem Platz auf und ab. Bohemian Rhapsody war glücklicherweise nur mit einem Schock davongekommen. Ich wollte mir gar nicht vorstellen wie eines von Franz Schwerenhofs Pferden sich wegen mir verletzte. Ich schwor mir ab jetzt doppelt so aufmerksam zu sein. Ich ritt wieder auf Abreiteplatz. Abermals galoppierte ich erst einige Runden und rief dann extra laut und deutlich: «Steil frei.»

Diesmal kam kein anderer Reiter und nach einem kurzen Zögern sprang der Hannoveraner darüber. Erleichtert klopfte ich ihm den Hals. Wäre er wegen mir verritten gewesen, hätte ich vermutlich bis ans Lebensende ein schlechtes Gewissen gehabt. Bevor ich in den Parcours einritt, versuchte Carmen vergeblich den halb getrockneten Dreck auszubürsten. So ritt ich mit einem, von links gesehen, auf Hochglanz poliertem Wallach mit eingeflochtener Mähne in die Prüfung. Als das Publikum seine rechte Seite bemerkte, machte sich Getuschel breit. «Die Noten für Angélique Chevalley und Cinderella, bitte. Ich sehe eine 8.6, eine 8.5 und eine 8.9. Das macht eine Wertnote von 8.67 für die Waadtländerin. Das bedeutet in der laufenden Wertung die Führung.» Die Stimme des Moderators schallte über den Sandplatz und das Publikum applaudierte. Ich liess meinen Blick noch einmal über den Parcours gleiten. Zwölf Hindernisse, keine Zeitfehler, nur der Stil zählte.

«Mit der Nummer 45, Olivia Dreher auf Bohemian Rhapsody. Anscheinend haben sie auf dem Weg hierher noch ein Schlammbad genommen.» Ich biss mir auf die Lippen. Solche Kommentare gingen meiner Meinung nach gar nicht. Schliesslich wusste er nicht das beinahe ein Unglück passiert war. Ich hielt an und grüsste. Aber ich musste dem Kommentator recht geben. Nicht einmal meine Sattel und Schabracke waren vor Spritzern verschont geblieben. Etwas beschämt wich ich den Blicken der Richter aus und galoppierte den grossen Wallach an. Flüssig ritt ich ihn vorwärts, sehr auf meinen Sitz und sein Tempo bedacht. Wer schon dreckig startete, sollte wenigstens eine gute Show abgeben. Soda schnaubte leise bei jedem Galoppsprung. Dann richtete ich ihn auf den ersten Sprung, einen einladenden Oxer. Sofort zog der Dunkelbraune an und katapultierte sich darüber. Nach dem Sprung setzte ich mich sofort wieder hin. Eine alte Aussage von Ann-Katrin schoss mir durch den Kopf, als ich in einem grosszügigen Bogen den Steil anritt. «Dein Sitz ist deine Stärke, Olivia, zeige das auch.» Ich richtete mich auf, drückte meine Waden sanft an den Leib des Wallaches und er legte etwas zu. Wäre das ein Zeitspringen gewesen, hätte ich nach dem Steil eine enge Wendung geritten und den folgenden Steil beinahe aus der Kurve gesprungen. Aber das wäre stilistisch nicht so hübsch anzuschauen, weshalb ich dem grossen Wallach auch hier viel Platz gab um zu wenden. Wir segelten über den Steil und überwanden den folgenden ebenfalls nicht so schlecht.

Nach einem weiteren Steil, einer Mauer und einem Oxer kam unsere grösste Schwäche: ein Wassergraben. Soda raste beinahe los. Wir sprangen etwas zu früh ab, der schokobraune Wallach streckte sich und erreichte die andere Seite des Sprunges. Ich wusste nicht ob die Hinterhufe nicht auf dem Band gelandet waren, welche das hintere Ende des Grabens markierte, aber dafür blieb keine Zeit. Vor uns baute sich ein mächtiger Steilsprung auf. Abermals nahmen wir das Hindernis, als ob es nichts wäre. Ich ritt die Linien so gut wie möglich aus, dachte nicht einmal ans abkürzen. Einige Sprünge später tauchte eine gewaltige Trippelbarre vor uns auf. Ich war mir unsicher mit der Distanz danach, auf den abschliessenden Steil. Vier oder fünf, vier oder fünf, in meinem Kopf fiel alles übereinander. Ich musste mich jetzt entscheiden. Kurz vor dem Sprung beschloss ich vier Galoppsprünge zu machen. Soda kooperierte und machte brav vier Galoppsprünge und flog über den letzten Steil. Sobald wir über die Ziellinie geritten waren, parierte ich den Hannoveraner durch und lobte ihn überschwänglich.

«Und jetzt die Noten für Bohemian Rhapsody, geritten von Olivia Dreher. Ich sehe eine 8.7, da eine 8.8 und sage und schreibe eine 9.0, was als Wertnote von 8.83 für die Baslerin macht, welche sich somit an die Spitze setzt. Nach der Notenverkündung lobte ich Soda nur noch mehr. Dieses Pferd war ein Knaller. «Und hier die Nummer 46, Martin Fuchs auf Faberlys.» Ich winkte Fuchs kurz zu, als sich unsere Wege kreuzten und ritt am langen Zügel vom Platz. Carmen ging neben mir hinüber zum Abreiteplatz. «Gute Leistung», gratulierte sie mir, «Damit solltest du mindestens in den Top 5 sein, so viele Reiter starten jetzt nicht mehr. Aber jetzt machen wir mal Soda sauber.» Mit Zackenstriegel und Schwamm bekamen wir den gröbsten Dreck einigermassen raus. Es war Ironie des Schicksals dass wir auf der Siegerehrung besser aussehen würden als während der Prüfung.

Gerade schwang ich mich wieder in den Sattel als Aline und Red Africa auf uns zukamen. Das Mädchen mit den hellbraunen Haaren sah uns überheblich an. Obwohl ich auf dem Pferd grösser war als sie. «Gratulation, du bist vierte», sagte sie herablassend, was keinen Zweifel daran liess dass sie besser war. «Danke, wie bist du platziert?», fragte ich anstandshalber. «Red Africa ist zweite», antwortete die Brünette mit einem überlegenen Grinsen. «Und Camaccio?», bohrte ich nach. Sofort war das Grinsen wie aus Alines rundem Gesicht gewischt. «Sechzehnter», nuschelte sie, wendete ihre Stute und ritt in zackigem Schritt davon. Nach der Ehrenrunde, welche von Martin Fuchs angeführt wurde, durfte Bohemian Rhapsody auf einem Grasstreifen etwas grasen, während Carmen ihn verladefertig machte. Für unsere erstes Turnier war es gar nicht mal so schlecht gelaufen und ich war sehr stolz auf den Wallach

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