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Carmen hatte uns den grössten Teil der Anlage gezeigt. Die Hallen, Reitplätze, Stallungen und natürlich das Reiterstübchen. Jetzt standen wir vor einer weitläufigen Weide, von der ich mir mein erstes Probepferd holen sollte. «Siehst du den Apfelschimmel dort drüben», Carmen wies auf ein Grüppchen Pferde, die ihre Köpfe im Gras versenkt hatten. Ich nickte. Die Pferdepflegerin reichte mir einen Strick. «Das ist Westminster. Er steht auf der Liste der potentiellen Pferde für dich.» Ich stutzte. "Dafür gibt es eine Liste?», fragte ich erstaunt. Carmen nickte und holte ein kleines zusammengefaltetes Zettelchen hervor. «Wenn du aber noch lange Fragen stellst, kannst du heute nicht alle Pferde reiten. Ich öffnete das Gatter und machte mich auf dem Weg zu dem dunklen Apfelschimmel. Er hatte, soweit man es noch erkennen konnte, eine schmale Blesse. Brav folgte der Wallach mir auf den Putzplatz.

Gemeinsam mit Carmen und Fiona sattelte ich ihn und wir gingen zum kleinen Springplatz, der etwas abseits lag und wir so ungestört waren. Der Wallach war zwar unglaublich angenehm im Umgang, aber zum Reiten gefiel er mir überhaupt nicht. Er reagierte sehr schlecht auf Schenkelhilfen und versuchte sich andauernd aus der Anlehnung auszuheben. Wir sprangen nicht, da es einfach kein harmonisches Bild war. Fiona stimmte mir zu, dieses Pferd war eher nichts für mich. Carmen verkündete, die nächste auf der Liste war eine Schweizer Warmblutstute namens Madame Chasseral. Die Dunkelfuchsstute war zwar zickig, aber wir gaben laut Fiona ein sehr harmonisches Paar ab. Auch Carmen fand, es wäre zumindest einen Versuch wert, auch wenn Madame Chasseral noch kein sechs Jahre alt war, weshalb sie keine Kandidatin für die Europameisterschaft war.

Der nächste Kandidat war ein Hengst namens Cornetto. Er war ziemlich anstrengend zu reiten, da er vor dem kleinsten Geräusch scheute. Einmal wäre ich beinahe gestürzt, weshalb ich für mich entschied, das er nichts für mich war. Ich traute mir einfach nicht zu einen Hengst händeln zu können. «Das ist Bohemian Rhapsody», verkündete Carmen als wir vor der Box eines schokoladenbraunen Wallachs standen. Ich lachte. «Wirklich?», fragte ich nach. Der Name dieses Pferdes war mir schon mal sympathisch. Carmen verwies auf das Boxenschild. Bohemian Rhapsody III stand in geschwungener Schrift darauf. Bei ihm Sprang der Funke sofort rüber. Er unglaublich fein zu reiten und reagierte schon auf die kleinste Hilfe. Ich lobte den Wallach ausgiebig. «Das wäre wirklich einer für dich. Ihr seht echt gut aus zusammen», lobte Fiona. Ich streichelte dem riesigen Wallach den Hals. «Nur vielleicht etwas gross», scherzte ich.

Während wir redeten war Franz Schwerenhof an den Zaun des Reitplatzes getreten. «Na, wie geht's?», fragte er interessiert. Ich lächelte. «Bis jetzt super.» Carmen lächelte ebenfalls. «Bohemian Rhapysody und Madame Chasseral wirken sehr harmonisch mit ihr.» Schwerenhof musterte mich auf dem Pferd. «Sieht wirklich nicht schlecht aus. Hat sie Chanel schon ausprobiert?» Carmen schüttelte den Kopf. «Ich weiss nicht ob das was werden würde. Sie ist gestern schon wieder mit einem Bereiter durchgegangen.» Schwerenhof winkte ab. «Wer Madame Chasseral reiten kann, kann auch Chanel reiten.» Ich hatte das Gespräch mitangehört, konnte mir aber keinen Reim daraus machen. Carmen machte sich auf in Richtung Stallungen, während ich weiterhin Schritt ritt.

Etwa eine Viertelstunde später kam Carmen mit einer schneeweissen Schimmelstute zurück, welche bereits gesattelt war, so dass ich sie nur übernehmen musste. Sie wirkte auf mich nicht besonders hübsch. Ihr Kopf war gross und kantig, ihre Stehmähne zerzaust und sie hatte sich den Schweif halb abgescheuert. Als ich nachgurten wollte, schnappte sie nach mir. «Das ist Chanel», stellte Carmen mit mitleidigem Blick vor. «Unsere Zimtzicke.» Chanel war nicht einfach zu reiten. Man musste sie immer zurückhalten. Sobald sie einen Sprung sah, zog sie gewaltig an. Nach dem ich sie eine halbe Stunde abgeritten hatte, traute ich mich einen kleinen Steilsprung zu wagen. Sobald ich auf der Distanz zum Sprung war, gab sie mächtig Gas und übersprang den Steil in so einem hohen Satz, dass es auch ein doppelt so hoher Sprung sein hätte können. Als ich versuchte sie nach dem Sprung wieder in einem anständigen Arbeitstempo zu reiten, legte sie sich auf den Zügel und begann zu buckeln. Ich fiel nach vorne und hielt mich in letzter Sekunde noch auf dem Pferd. Ich nahm die Zügel kurz und ritt eine Volte, immer und immer kleiner, bis sie in den Trab durchparierte und schliesslich in den Schritt. Ich galoppierte nochmals an und ritt den Steil in einem ruhigeren Tempo an, was gar nicht so einfach war. Nach dem Sprung wendete ich direkt ab, um das Tempo etwas zu verringern, dieses Mal klappte es.

Ich gab den Zügel hin und lobte die Schimmelstute. «Und, wie ist dein Gefühl?», fragte Schwerenhof. Ich zuckte mit den Schultern. «Ich weiss nicht. Wenn sie so ist, wie beim letzten Sprung ist sie super, aber sonst eher anstrengend. Ich weiss nie ob meine Hilfen angekommen sind.» Schwerenhof nickte. «Chanel ist nicht einfach, aber sie ist definitiv eines der besten Pferde auf dem Hof. Sie ist sogar Olympia gelaufen.» Erstaunt musterte ich das Pferd unter mir. Das kam überraschend. «Ich weiss, sie sieht etwas zerrupft aus, das kommt vom Sommerekzem.» «Wie alt ist sie eigentlich?», fragte ich. Die Kuhlen über ihren Augen liessen darauf schliessen, dass sie nicht mehr sehr jung war, genauso wie ihr komplett ausgeschimmeltes Fell. «Neunzehn», antwortete Carmen. Ich machte vor Erstaunen grosse Augen, genauso wie Fiona. «Also ihr sieht man es kaum an», meinte diese. Carmen nickte. Ich ritt noch weiter Schritt, Schwerenhof musste wieder gehen. «Ich glaub ich nehm sie», sagte ich beim Absteigen. Wir versorgten die Stute in aller Eile, da sie anscheinend kein Fan vom Putzen war und lieber schnellst möglich in ihrer Box war. Das Box hielt eine weitere Überraschung bereit. Die Boxentür war tapeziert mit kleinen Blechtafeln, welche von früheren Erfolgen der Stute erzählten. «Also, dann sag ich Schwerenhof, dass Madame Chasseral, Bohemian Rhapsody und Chanel etwas für dich sind.» Ich nickte. «Gerne. Ich würde auch noch mit ihm persönlich reden, geht das.» Carmen zuckte mit den Schultern. «Ich weiss nicht. Ich würde es um vier Uhr beim grossen Springplatz versuchen. Dort sieht er sich gerne das Training der Junghengste an.»

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