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Als die Zeit gekommen war, auch die Pferde zu verladen, war es schon später Nachmittag. Nun sass ich auf dem Beifahrersitz von Kathrins Auto, irgendwelche Popsongs spielten im Hintergrund, und ich starrte auf die Goldene Schleife in meinem Schoss und konnte immer noch nicht glauben, dass diese jetzt meine war. Als ich mein Handy anschaute, war die Flut von Nachrichten und verpassten Anrufen beinahe überwältigend. Es waren Glückwünsche von meinen Freunden und sogar einigen Verwandten. Aber als ich die Nachricht meiner Mutter sah, schlug mein Herz schneller. Endlich hatte sie meine Erfolge wahrgenommen und nicht nur meine Fehler. Doch als ich die Nachricht las, war die Enttäuschung gross. Es war in keinem Satz auch nur erwähnt, dass es sie gekümmert hat, was ich erreicht habe. Nein, es ging um ein Stadtapartment in Lausanne. Meine Mutter wollte eins, mein Vater nicht. Genervt klickte ich den Chat weg und öffnete den Klassenchat.
Beinahe brachte die Flutwelle an Nachrichten mein Handy zum abstürzen. Es waren ungelogen 780 Nachrichten. Ich überflog die ersten, es ging um irgendeinen Zickenkrieg. Dann kam eine Diskussion, ob es normal ist Ananas auf Pizzas zu tun. Zu meiner Überraschung gab es tatsächlich Leute die so etwas taten. Ich scrollte weiter runter. Die letzten 50 Nachrichten überraschten mich. Zuerst kam ein Video von Fiona. Sie hatte meinen Ritt mitgefilmt. Ihr Kommentar dazu: drückt mal alle die Daumen. Und als Lou das Video von der Siegerehrung teilte, eskalierten einige Leute, darunter Lou, Fiona und sogar Orlando, komplett. Was ich mitbekam, war das heute im Gemeinschaftsraum eine Party steigen würde. Wäre ja nicht so, dass wir gerade erst Simons Geburtstag gefeiert hatten. Vorfreude stieg in mir auf. Es war schön zu wissen was für eine soziale Klasse man hatte. Leider war meine Klasse da eine ziemliche Ausnahme. Es war kein Geheimnis dass Mobbing am Tschaler-Internat keine Seltenheit war. Doch solange jeder wegschaute, konnte ein einzelner kaum etwas ausrichten.
Schliesslich widmete ich mich den Anrufen. Zuerst mein Bruder. Wenigstens einer in der Familie, der normal war. Ich ging davon aus dass es normal war, seiner Tochter oder Schwester zu gratulieren, wenn sie Schweizermeisterin geworden ist. «Olivia, du bist einfach die Beste», sagte mein Bruder als er endlich ranging. «Danke. Aber ohne Michelangelo hätte ich das nicht geschafft.» Stille am anderen Ende der Leitung. «Meinem Pferd», fügte ich hinzu, da mein Bruder offensichtlich nicht wusste wen ich meinte. «Und was heisst das jetzt?», fragte er, «Ich meine, Schweizermeisterin ist nicht das Ende oder?» Ich lachte. «Nein, vielleicht darf ich auch Fontainebleau an die Europameisterschaften.» «Das hoffe ich für dich. Werden wir uns diesen Sommer sehen?» Ich dachte kurz nach. «Vielleicht kann ich dich ja mal Besuchen kommen. Dann kannst du mir Stockholm zeigen und ich komme an einen Match.» Alex und ich hatten uns zuletzt an Weihnachten gesehen, ein Treffen war also wieder einmal nötig. «Klingt gut. Vielleicht kann ich ja auch wieder nach Basel kommen.» «Ich weiss nicht, ob ich nach Basel gehe.»
Der Streit mit meiner Mutter schwebte immer noch wie ein Damoklesschwert über mir. Auch sie hatte ich an Weihnachten zuletzt gesehen und im Gegensatz zu meinem Bruder vermisste ich sie nicht. Alex klang besorgt. «Olivia, du musst mir ihr reden. Ihr müsst euch versöhnen.» Ich verwarf die Hände und liess dabei fast mein Handy fallen. «Alex- Ich- Du weisst genau das ich todgeweiht bin, wenn ich in Basel aufkreuze», der Schulverweis kam mir in den Sinn. Ich seufzte. «Ich bin tot, sobald sie Wind davon bekommen haben, was passiert ist.» «Was ist denn passiert? So schlimm kann es nicht sein?», fragte Alex lachend. «Stimmt, ich reagiere über. Ich wurde ja nur von der Schule verwiesen», ich wurde immer lauter. Ann-Kathrin sah mich schräg an, aber um sie konnte ich mich gerade nicht kümmern. «Du machst Witze, Schwesterchen.» Die Stimme meines Bruders klang trocken. «Nein, eben nicht. Wenn sie das erfahren, kann ich die Pferde gerade vergessen.» «Mein Beileid, Schwesterherz.» Alex setzte gerade an, noch etwas zu sagen, doch die Verbindung wurde unterbrochen, als Ann-Kathrin in einen Tunnel fuhr.
Als ich nachher nochmals versucht, ihn zu erreichen, ging er nicht mehr ran. Die restlichen Gratulationen, waren von Leuten, die vielleicht einmal im Jahr etwas schrieben oder von denen ich gar nicht wusste dass ich deren Nummer hatte. Als ich schliesslich meine Mailbox öffnete, bekam ich beinahe einen Herzinfarkt. Ein Mail von der Direktorin, in dem sie um ein persönliches Treffen mit mir und meinen Eltern bat. Es wurde zwar nicht erwähnt um was es ging, aber das konnte sich vermutlich jeder ausmalen, der eins und eins zusammenzählte. Als wir endlich am Stall ankamen, versorgte ich Michelangelo und fuhr mit Fionas geborgtem Fahrrad in die Schule. Die Siegerschleife hatte ich an einer meiner Taschen befestigt. Die Party fand im Gegensatz zum Freitag draussen auf dem Campus statt. Jemand hatte den Fernseher rausgetragen und auf die Tischtennisplatte gestellt, das Kabel hing durch das Fenster. Daneben standen Schalen mit Snacks und Schüler, vorallem aus meiner Klasse waren da, aber auch einige aus anderen Altersstufen und sogar ein oder zwei Lehrer. Als ich auf das Gelände fuhr, konnte ich kaum Absteigen, schon wurde ich von Lou umarmt. Ich war nicht so der Fan von engem Körperkontakt, aber ausnahmsweise erwiderte ich die Umarmung. «Gratulation, du warst die Beste.» Ich sah mich um. «Fiona ist...» «Zuhause», beendete Lou meinen Satz. «Sie darf leider nicht kommen, aber jetzt geniess deinen Abend.» Meine Taschen brachte ich in den Aufenthaltsraum. «Kannst du deine Schleife herzeigen?», fragte eine jüngere Schülerin, als ich mir gerade etwas zu Essen holen wollte. Die goldene Schleife ging an diesem Abend durch viele Hände und ich genoss die Feier richtig. Als es dämmerte stellte jemand den Fernseher an, und wir versammelten uns darum. Das Sportprogramm wurde eingeschaltet. Jedes Resultat von Fussball über Leichtathletik bis zu Rugby wurde von manchen bejubelt, von anderen verflucht. Bis das Thema aufs Reiten kam. Die meisten wurden ruhig, um besser zu verstehen was gesagt wurde, die die es nicht wurden, waren spätestens bei Lous: «Klappe halten» still. Als ich meine Ritt sah, fielen mir sofort 200 Dinge auf, die ich bemängeln konnte, doch der Moderator tat dies als: «Definitiv der Beste Ritt des Tages ab.» Fand ich überhaupt nicht. Trotzdem tat es gut das Glück zu geniessen, auch wenn es nicht lange andauerte.
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