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Noch mehr überraschte mich die rote Fliegendecke die Ann-Kathrin unter dem Arm trug. Sie strahlte bis über beide Ohren und wies mich an abzusteigen. Sobald ich festen Boden unter den Füssen hatte, umarmte sie mich überschwänglich. Überrascht japste ich nach Luft. «Was ist?», fragte ich, als ich mich aus der engen Umarmung löste. Mein Herz schlug schneller. Ich hatte eine Vorahnung. «Gratulation», Franz Schwerenhof schüttelte meine Hand. «Für was?», fragte ich etwas perplex, auch wenn mein Herz höher schlug. Wenn Schwerenhof mir gratulierte, konnte das eigentlich nur etwas bedeuten, oder? «Zum Titel der Schweizermeisterin.» Zuerst stand ich ausdruckslos da, bis die Information langsam in mein Gehirn durchsickerte. Schweizermeisterin, das Wort hallte in meinem Kopf nach. «Olivia, bist du ok?», vernahm ich Ann-Kathrins Stimme wie durch Watte.

Schweizermeisterin. Ich, Olivia Dreher. Endlich konnte mein Gehirn diese beiden Informationen miteinander verbinden. Ich schlug mir die Hände vor den Mund. «Nicht im Ernst», brachte ich heraus. Ann-Kathrin nickte nur. «Wo ist dein Sattel?», fragte sie. Ich wies auf das Boxenzelt. Schwerenhof warf Michelangelo die Fliegendecke über. «Dafür ist keine Zeit, Olivia, du musst sofort kommen, die Siegerehrung ist jetzt.» Jetzt erst sah ich die ganze Pracht der Siegerdecke. Sie war in einem satten Rot gehalten, mit einem weissen Schweizerkreuz an der Flanke. Darunter stand gross: 1. Platz Schweizermeisterschaften 2018. Diese Decke war jetzt meine, mit allem was sie bedeutete. Ann-Kathrin half mir aufs Pferd. Ich ritt zum Eingang des Stadions, flankiert von Ann-Kathrin und Schwerenhof. Jetzt galt es keinen Zeit mehr zu verlieren, es wäre schon peinlich zu spät zur Siegerehrung zu kommen. Die anderen Reiter machten Platz, damit ich an der Spitze ins Stadion einreiten konnte, wie es sich gehörte.

Hier standen wir nun und nichts fühlte sich real an. Ich spürte die Blicke der anderen Reiter in meinem Rücken. Ein Schecke fiel auf, ein Schecke mit einer knallroten Decke und einem Mädchen, welches ohne Sattel drauf sass, noch mehr. Ich streichelte beruhigend Michelangelos Hals, auch wenn er es gar nicht nötig hatte. Die Schranke vor uns ging auf und ich ritt auf den Platz. Das Publikum jubelte. Und da begriff ich erst richtig. Ich und Michelangelo, wir waren Schweizermeister, und die Leute hier jubelten für uns. Ein breites Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. Ich winkte den Leuten auf der Tribüne zu, während wir uns der Mitte des Platzes näherten, wo einige, offiziell aussehende Leute warteten. Michelangelo kam etwa fünf Meter vor ihnen zum Stehen. Ich grinste immer noch wie ein Honigkuchenpferd. Wieder lobte ich meinen Wallach, welcher nur zufrieden schnaubte. Ihn schien das hier kein bisschen zu stören. Der Moderator begann zu reden.

«Auf dem achten Platz: Mirco Aschwanden mit Vevey du Montpensier.» Das Publikum applaudierte. «Auf dem siebten Platz: Beatrice Sala auf Erebor's Ravenhill.» Wieder Applaus. «Auf dem sechsten Platz: Sabrina Prevost auf Higgins' Mindset.» Michelangelo begann sich zu langweilen. Zuerst scharrte er in der Erde, um sich eine Belohnung zu erbetteln, als ich ihn zurechtwies, entschied der Schecke sich, einfach versuchen zu grasen. Auf einer Siegerehrung. Die Live im nationalen Fernsehen übertragen wurde. Mit grösster Mühe konnte ich meine Blamage vermeiden und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Moderator. « Auf dem fünften Platz: Angélique Chevally auf Trendy Leva.» Die Nervosität stieg, was sich auf Michelangelo übertrug, welcher einige nervöse Tritte zur Seite machte, bevor ich ihn bremsen konnte. «Auf dem vierten Platz, Jeremy Rutschi auf Vivaldi Spring.»

Jetzt kam das Podest. Ich hatte in der Eile nicht geachtet wer genau noch dabei gewesen war, aber ich glaubte mich zu erinnern, dass Aline Schwerenhof auf ihrem Fuchs bei der Schranke gewartet hatte, was sogleich bestätigt wurde. «Auf dem dritten Platz, Aline Schwerenhof auf Red Africa.» Die Zuschauer jubelten. Ich konnte sie, wie alle anderen Teilnehmer der Siegerehrung nicht sehen, da sie hinter mir standen, weshalb ich mich vorsichtig ein bisschen drehte. Aline Schwerenhof sass auf ihrem prächtigen Fuchs, welcher eine weisse Schleife angesteckt bekam, das Zeichen für den dritten Rang. Und trotzdem warf sie mir so einen vernichtenden Blick zu, dass ich mich mit einem Schauern abwandte. «Auf dem zweiten Platz: Kevin Bürer auf Champ of Glass.» Die Leute applaudierten abermals. «Und die Schweizermeisterin 2018 ist», der Moderator machte eine dramatische Pause. Ich hielt den Atem an, obwohl ich die Antwort schon kannte. «Olivia Dreher auf Michelangelo.»

Das Publikum applaudierte, die Realität traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Meine Sicht verschwamm, Tränen stiegen mir in die Augen. Ich betet dass meine Eltern und vorallem meine Mutter, mich jetzt sahen. Dass sie sehen konnte, was ich erreicht hatte, in einem Sport, der ihrer Meinung nach nicht einmal einer war. Ich kämpfte gegen die Tränen an, während Michelangelo die Goldene Schleife angesteckt wurde. Aber als am anderen Ende des Platzes, direkt vor mir, die Schweizer Fahne den Mast hochgezogen wurde, während die Nationalhymne spielte, war es mit aller Fassung vorbei. Freudentränen rannen mir die Wangen hinab, während meine Lippen die mir wohlbekannten Worte formten, welche jeder Schweizer vermutlich schon mal am ersten August gesungen hatte. Als die Hymne endete, fiel ich Michelangelo um den Hals. Ohne ihn würde ich heute nicht hier stehen. «Und nun die Ehrenrunde. Musik ab für die erfolgreichen Junioren.»

Die ersten Takte von Final Countdown ertönten und Michelangelo machte einen so grossen Satz nach vorne, dass ich beinahe von meinem Pferd fiel. Er wusste was jetzt kam, denn es war sein Lieblingsteil der Siegerehrung. Wir galoppierten voraus, die anderen folgten uns. Voller Freude buckelte Michelangelo, was mich beinahe von seinem Rücken warf. Ich griff in seine Mähne, hielt mich mit einer Hand fest, während ich mit der andere dem Publikum zuwinkte. Die Freudentränen waren immer noch in meinen Augenwinkeln, während ich jubelte. Die Geschwindigkeit, der Jubel und die Emotionen berauschten mich. Viel zu schnell war die Ehrenrunde vorbei. Die Helfer an der Schranke öffneten diese und wir parierten zuerst in den Trab und dann in den Schritt durch. Ann-Kathrin stand da, mit einem breiten Lächeln. Ich schwang mich von Michelangelos Rücken, was natürlich nicht ging, ohne dass ich beinahe an der Fliegendecke hängen blieb. Gemeinsam gingen wir zum Stallzelt. Alles fühlte sich surreal an, am meisten aber die Goldene Schleife an Mickys Trense. Vorsichtig berührte ich die Stoffbänder. Sie waren real, auch wenn mir mein Gehirn einredete, dass dies alles nicht sein konnte. Das wäre einfach zu schön.

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