Michelle

Ich glaube, niemand kennt Michelle.

Jeder, sowohl Lehrer als auch Schüler, hier an der Red Valley High würde mir widersprechen. Wer kennt Michelle denn nicht? Außer vielleicht ein paar neuen Schülern.

Michelle ist Schülersprecherin. Sie hat diese High School quasi revolutioniert, und das in nur wenigen Wochen, nachdem sie ins Amt gewählt wurde.

Der Spielplatz der anschließenden Grundschule bestand nur noch aus Schrott und Müll? Michelle hat einen tagelangen Keksverkauf organisiert, mit dessen Erlös sie eine Erneuerung sämtlicher Spielgeräte finanziert hat.

Die Website der Schule sah aus, als wäre sie noch im letzten Jahrhundert programmiert worden? Michelle hat einen Club gegründet, der die Website erst überarbeitet hat und jetzt immer auf dem neuesten Stand hält.

Die Schule blamierte sich bei nahezu jedem Footballspiel durch das chaotische Team der Cheerleader? Michelle hat ein paar Wochen mit ihnen trainiert und das Team ist wettbewerbsfähig.

Michelle ist ein Allround-Talent. Es gibt nichts, was sie nicht kann.

Jedenfalls ist es das, was alle sehen. Das ist es, was sie meinen, wenn sie sagen, dass sie Michelle kennen. Aber keiner weiß, wer Michelle wirklich ist. Wer sie war, bevor sie zu Beginn dieses Schuljahres plötzlich wieder auftauchte.

Sie hatte nie eine Mutter. Zumindest nicht wirklich. Die Frau war heroinabhängig, so lange sich Michelle erinnern kann. Sie hatte sich kaum um ihre Tochter gekümmert und Michelle war froh, dass sie zumindest so verantwortungsbewusst war, keine weiteren Kinder in die Welt zu setzen. Vermutlich wäre die Betreuung eines kleinen Geschwisterkindes so oder so an ihr hängen geblieben.

Michelles Vater hat seine Frau eines Tages tot im Badezimmer gefunden.

Er war eigentlich ein guter Mann. Er hat sich um seine Tochter gekümmert, oder hat es zumindest versucht. Aber irgendwie ist er dabei gescheitert.

Als Michelle einen Freund hatte, der sie schlecht behandelt hatte, hat er ihn krankenhausreif geschlagen.

Die beiden hatten nach dem Tod von Michelles Mutter kaum Geld, also hat ihr Vater angefangen, in der Pornoindustrie zu arbeiten. Eigentlich sollte ich es mir nicht erlauben, über Menschen zu urteilen, die ich nicht kenne, aber ich glaube, Geldmangel war nicht der einzige Grund dafür, dass er sich ausgerechnet für einen solchen Job entschieden hat.

Ihre Umgebung hat Michelle nicht gutgetan. Der Tod ihrer Mutter und das Verschwindet ihres Vaters aus einem großen Teil ihres Lebens – er war ziemlich oft mit seinem neuen Job beschäftigt – haben ihr zugesetzt. In der Schule saß sie immer ganz hinten, wenn sie denn überhaupt einmal da war. Und am Unterricht hat sie sich auch nicht wirklich beteiligt.

Stattdessen hing sie nachts mit alten Bekannten ihrer Mutter in den dreckigsten Vierteln der Stadt herum. Ihr LSD bekam sie für einige kleine Gefallen, die sie ihnen tat.

Aber niemand wusste etwas von dem ganzen Wahnsinn, den Michelle täglich durchlebte. Wie auch, seit sie ihre Mutter verloren hatte, verbrachte sie die Nächte zumeist in einem der Motels etwas außerhalb der Stadt. Wer würde auch an den Ort zurückkehren wollen, an dem die eigene Mutter starb?

Keiner ahnte, was es mit dem stillen Mädchen in der letzten Reihe wirklich auf sich hatte. Zumindest nicht, bis sie vor etwas über einem Jahr mitten in der Nacht vor meiner Tür stand.

Sie hatte ein blaues Auge, Regen und Tränen hatten ihr Makeup verschmiert und sie war nur noch halb bekleidet. Sie schrie mich an, wie ich all das hätte zulassen können.

Vor dieser Nacht hatten wir noch kein einziges Wort miteinander gewechselt.

Ich ließ sie hereinkommen, brachte sie ins Wohnzimmer und gab ihr ein Glas Wasser, da ich selbst nicht wusste, wie ich mit ihr umgehen sollte. Sie beschuldigte mich, dass ich für sie hätte da sein müssen, dass ich auf sie hätte aufpassen müssen, dass ich hätte verhindern können, was mit ihr geschehen war. Bevor ich überhaupt wusste, was genau das war.

Erst Stunden später ließ der Trip, auf dem sie scheinbar war, nach. Ich hatte die ganze Zeit ratlos auf dem Sofa gesessen und ihr dabei zugesehen, wie sie mich mal beleidigte und andeutete, mich zu schlagen und mir mal ihre Preise erklärte. Als sie langsam wieder zu sich kam, wollte sie mir eigentlich meine Frage beantworten, was passiert sei, doch stattdessen schlief sie auf dem Wohnzimmerteppich ein.

Den konnte ich nachher wegschmeißen, denn sie hatte sich dreimal darauf erbrochen.

Was genau in der Nacht passiert ist, weiß ich noch immer nicht, denn Michelle selbst konnte nur noch in groben Zügen erklären, was geschehen war.

Eine der Schauspielerinnen in den Filmchen ihres Vaters war minderjährig gewesen und er war im Gefängnis gelandet, obwohl er nichts davon gewusst hatte. Eine Bekannte hatte sich als Michelles Mutter ausgegeben, damit das Mädchen nicht vom Jugendamt mitgenommen werden würde.

Nur wenige Tage später war Michelle allein und musste sich so gegen den Vermieter ihrer Wohnung behaupten. Ihr Vater war noch immer mit der Miete einige Monate im Verzug.

Also hatte Michelle sich in dieser Nacht in einen der berüchtigten Clubs im Rotlichtviertel der Stadt eingeschlichen und einen Mann gefunden, der sie für Sex bezahlen würde. Irgendwas lief jedoch schief, er schlug sie und ließ sie außerhalb des Ortes einfach am Straßenrand stehen.

All das, ihre Lebensgeschichte und die Geschehnisse dieser Nacht, erzählte sie mir auf dem Boden kauernd und dauerhaft den Tränen nah, als die Sonne bereits aufging.

Ich habe Michelle nicht dafür verurteilt, was sie getan hat. Aber ich habe das Jugendamt über sie informiert. Und dann habe ich sie ein ganzes Jahr lang nicht gesehen, bis am Anfang des Schuljahres Schüler begannen, Plakate aufzuhängen, die dazu aufriefen, Michelle zur Schülersprecherin zu wählen.

Michelle selbst habe ich erst wiedergesehen, als sie Kekse verkaufte, um von dem Erlös die Erneuerung des Grundschulspielplatzes zu finanzieren. Sie sah aus wie eine vollkommen andere Person. Sie wirkte so selbstbewusst und hatte ein strahlendes Lächeln auf den Lippen. Erst ab dann war sie die Michelle, die jeder kennt.

Ich kaufte ihr eine Tüte Kekse ab.

„Dankeschön für Ihre Unterstützung, Mr Sterling", sagte sie, und nur mir allein war klar, dass sie das nicht bloß sagte, weil ich Kekse gekauft hatte.

Denn niemand kennt Michelle wirklich.

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