13~Hätte ich dann bei dir bleiben dürfen?
"Wie war es so in Peru?"
Die Sonne schien durch das große Küchenfenster und das Licht brach sich in den vielen bunten Gläsern, die auf der Anrichte standen.
Verwirrt sah ich Julietta an. "Hm? Wie meinst du das?"
"Nun ja" Julietta stellte einen Teller in den Schrank, sah dann wieder zu mir. "Senõra Lopez hatte erzählt, dass du dort mit deinem Abuelo gelebt hattest."
"Achso.", sagte ich und kratzte mich am Kopf. "Ich weiß nicht genau. Als ich sechs Jahre alt war, bin ich zu meinem Abuelo gekommen. Damals lebte er in Peru, das ist richtig. Aber nichtmal ein Jahr später, sind wir umgezogen und das mehrmals."
"Verstehe.", sagte sie und sah mich nachdenklich an. "Ich will dir mit der Frage nicht zu nahe treten, aber stimmt es, dass du kurzzeitig in einem Waisenhaus gelebt hattest?"
"Ja.", sagte ich nickend. "Das war echt nicht schön. Besonders von Abuelo getrennt zu sein, war furchtbar."
"Darf ich mal sehen? Zeigst du es mir?", fragte ich, noch bevor er das Schreiben ganz durchgelesen hatte. "Was steht darin? Sind es gute Nachrichten? Darf ich bleiben? Bitte sag mir, dass ich bleiben kann. Gibst du es mir?"
Abuelo sah mich traurig an. "Nun, es ist....Es ist nicht..." Zum ersten Mal schien es ihm die Sprache verschlagen zu haben.
Er reichte mir das Schreiben und ich hielt es ins Licht.
>> Sehr geehrter Hugo Delgaldó,
die staatliche Behörde für das Kinderwohl setzt Sie hiermit darüber in Kenntnis, dass sich die Verfahren hinsichtlich der Vormundschaft für weibliche Personen im Alter zwischen zwölf und achtzehn Jahren geändert haben.<<
Ich zog eine Grimasse. "Was soll das Geblubber?"
Amtliche Schreiben, verabscheute ich, weil ich von ihnen in eine nervöse Anspannung versetzt wurde. Leute, die solche Schreiben verfassten, schienen einen Registrierschrank an Stelle ihres Herzens zu haben.
"Du musst weiter lesen, Y/n." Abuelo klang viel düsterer als üblich.
>> Der amtliche Ausschuss ist einhellig zu dem Schluss gelangt, dass eine junge Frau von einem alleinstehenden, nicht als Familienmitglied registrierten Mann nicht erzogen werden sollte. Ihr Mündel, Y/n Delgaldó, erweckte den Eindruck, dass gewisse Umstände ihrer Erziehung für ein Kind weiblichen Geschlechts vollkommen unpassend sind.<<
"Gewisse Umstände? Was soll das heißen?" Ich stieß den Zeigefinger gegen das Schreiben. "Ich weiß nicht, was das heißen soll."
"Ich auch nicht. Aber ich habe keine Ahnung."
"Sie meinen meine Hosen, richtig?", sagte ich. "Das ist ja verrückt! Diese Leute sind Teufel!"
"Weiterlesen.", sagte Abuelo.
>> Daher teilen wir Ihnen mit, dass Sie der Vormundschaft für Ihr Mündel enthoben werden. Ihr Mündel wird in das Waisenhaus Nueva Vida in Concordia, Argentinien eingewiesen. Im Falle einer mangelnden Bereitschaft zur Zusammenarbeit drohen Ihnen eine gerichtliche Verfügung sowie eine Höchststrafe von fünfzehn Jahren Zuchthaus. Die Entscheidung des Ausschusses ist endgültig und tritt mit sofortiger Wirkung in Kraft.<<
"Zuchthaus? Was hat das zu bedeuten?"
"Gefängnis.", meinte Abuelo und ich schluckte.
>>Der für Ihre Gemeinde zuständige Beamte der Staatlichen Behörde für das Kinderwohl, Señor Lopez, wird ihr Mündel am Donnerstag, dem fünften Juni, abholen.
Mit freundlichen Grüßen
Martin Regalder<<
Plötzlich fühlte ich mich wie ausgehöhlt. Ich suchte nach Worten. "Sie haben meinen Namen falsch geschrieben."
"Stimmt."
"Wenn sie mir schon das Herz brechen müssen, hätten sie wenigstens meinen Namen richtig schreiben können."
Traurig sah ich Abuelo an. Er zeigte keine Reaktion.
"Abuelo?" Eine Träne rollte mir über mein Gesicht. Wütend leckte ich sie weg. "Bitte. Bitte, sag etwas."
"Du hast das Schreiben also verstanden?"
"Ich werde dir weggenommen. Du wirst mir weggenommen."
"Ja, sehr richtig. Das wollen sie tun."
Das Schreiben wollte ich nicht mehr anfassen. Ich ließ es fallen und trat darauf. Dann hob ich es wieder auf, um es doch noch einmal zu lesen.
Die Worte >>vollkommen unpassend<< fand ich unerträglich. "Und wenn ich Röcke getragen hätte? Oder wenn ich hübscher wäre? Oder meinetwegen niedlicher? Hätte ich dann bei dir bleiben dürfen?"
Abuelo schüttelte den Kopf. Er weinte lautlos, ein Anblick, der mich sehr verblüffte.
"Und was nun?" Ich griff in seine Tasche, zog das Taschentuch heraus und drückte es ihm in die Hand. "Hier. Bitte sag etwas, Abuelo. Was sollen wir jetzt tun?"
"Das tut mir ja so leid, mi Princesa." Vorher hatte ich noch nie einen so kreidebleichen Mann gesehen. "Ich fürchte, uns sind die Hände gebunden."
Plötzlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich stürmte in mein Zimmer, wobei ich über die Stufen stolperte.
Die Tränen in meinen Augen ließen meine Welt verschwimmen.
Unwillkürlich griff ich nach einem Buch und ließ es auf den kleinen Holzkasten, unter meinem Bett niedersausen, bis dieser krachend splitterte.
"Ich gehe hier nicht weg", zischte ich bei einem weiteren Hieb. "Nein, ich gehe nicht weg!"
In dem Holzkasten waren Bilder meiner Familia, welche mein Abuelo mir gab, damit ich mir ihre Gesichter einprägen konnte und meine Erinnerungen an sie zurückerlangte- doch kam mir keines der Gesichter bekannt vor.
Neben den Bildern, befanden sich glänzende Diamanden- jeder Diamand stand für eine Träne, die ich weinte.
Ich holte noch einmal aus und zerschlug den neben meinem Bett stehendem Wasserkrug, sodass Scherben und Wasser auf meiner Decke und meinem Kopfkissen landeten.
Dann vernahm ich von unten einen Ruf, dann hörte ich hastige Schritte auf der Treppe.
Doch war es mir egal.
Noch immer wutentbrannt begann ich, auf den Holzkasten einzustampfen und zertrat ihn.
Lackierte Holzstücke flogen quer durch das Zimmer.
Langsam stellte ich fest, dass sich mein Atem allmählich wieder beruhigte.
Zwar strömten noch immer Tränen über mein Gesicht, doch bekam ich wieder Luft. Und ich fand einen Rhythmus- Zuschlagen, Luftholen, Zuschlagen, Luftholen.
"Ich gehe nicht.", flüsterte ich. "Nein."
Zack.
"Sie dürfen mich nicht wegnehmen."
Bumm.
"Nein."
Es dauerte einige Minuten, bis mir bewusst wurde, dass Abuelo in der Tür stand. "Noch am Leben, mein Lieber Schatz?"
"Oh! Ich habe nur-"
"Das sehe ich. Sehr vernünftig." Er sah sich im Zimmer um, nahm mich bei der Hand und führte mich nach unten.
Mit jeder Stufe ging es weiter nach unten, immer tiefer- und mein Herz rutschte auch ein Stück tiefer.
Mein Kopf war wie leer gefegt.
Als wir unten ankamen, schaffte ich es nur zum Teppich im Flur. Dort gaben meine Beine unter meinem Gewicht nach und ich ließ mich auf den Boden sinken.
Dort lag ich in einem Dämmerzustand und starrte ins Leere.
"Mi pequeño...geht es dir gut?" Abuelo blinzelte mit einem leeren Gesichtsausdruck in den Augen.
Erschöpft und mit aller Kraft setzte ich mich auf.
Mein Mund war trocken und mein Kopf fühlte sich an, als wäre ein Zug mitten durch mein Gehirn hindurchgerast. "Sie können mich dir nicht einfach wegnehmen, Abuelo."
"Leider habe ich nichts in der Hand, um diesen Leuten Einhalt zu geben. Rechtlich gehörst du nicht mir. Rechtlich bist du Eigentum des Staates. Verstehst du?"
"Nein, das verstehe ich nicht. Das ist doch Blödsinn!", sagte ich und merkte, wie mir wieder Tränen in die Augen stiegen.
"Da stimme ich dir voll und ganz zu. Trotzdem verhält es sich so, mi pequeño."
"Wie kann es sein, dass ich dem Staat gehöre? Der Staat ist doch keine Person und kann niemanden lieben." Ich begann am ganzen Körper zu zittern. "Sieh können mich dir nicht weg nehmen...Du bist doch mein Abuelo. Wir gehören zur selben Familie!"
Plötzlich erwachten seine Augen wieder zum Leben und er sah mich begeistert an. "Y/n! Du blitzgescheites Wesen!"
Verwirrt musterte ich ihn und schniefte. "Was ist denn?"
"Der Brief, Y/n.", sagte Abuelo und half mir aufzustehen. "Der Brief deiner Mutter!"
"Wie bist du wieder zu deinem Abuelo zurück gekommen?", fragte Julietta und ich wich ihren Blick aus, sah auf meine Hände. "Er hatte einen Brief eingereicht."
"Einen Brief?"
Unsicher nickte ich. "Den hatte meine Mamà an meinen Abuelo geschrieben bevor...sie starb."
Betreten schüttelte die Frau den Kopf. "So etwas sollte ein so junges Mädchen nicht erlebt haben. Mein tiefstes Beileid."
"Schon gut.", sagte ich und zwang mir ein Lächeln auf. "Ich bin froh bei Abuelo zu wohnen und ich erinnere mich auch nicht mehr so genau an meine Familia. Also ist es okay...denke ich."
Zaghaft suchte ich ihren Blick und sie nickte sanft, ergriff meine Hände. "Du bist so stark, Y/n. Sieh nur was aus dir geworden ist, obwohl du eine so schwere Vergangenheit hast. Erst der... Tod deiner Familie und dann die Schwierigkeiten, welche dir und Hugo, ich meine deinem Abuelo, gemacht wurden."
"Danke, Julietta.", sagte ich und lächelte sie an. Die Frau strich sich eine ihrer leicht ergrauten Haarsträhnen hinters Ohr und sah mich liebevoll an. Sie legte ihre warme Hand, an meinen Wange und strich sanft über meine Haut. "Dafür doch nicht, Liebes. Ich möchte nur das du weißt, dass du nicht alleine bist."
Ich konnte mir ein schüchternes Lächeln nicht verwehren und sie fuhr mir beruhigend durchs Haar. "Du hast deinen Abuelo und uns. Was auch immer sein mag, wir sind für dich da. Die Türen stehen dir immer offen."
"Julietta ich-"
"Y/n!"
Überrascht hebe ich den Kopf. "Mirabel?"
1476 Wörter
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