06~Hört sich das nicht wie achttausend Vögel an?

Ich liebte Bücher.

Vermutlich lag das an Abuelo. Schon als ich ein kleines Kind war hatte er mir ständig erzählt, wie toll das lesen doch war. Ich erlernte es früh.

Das Abuelo einen Bücherladen führte, war da doch mehr als praktisch, denn so hatte ich immer wieder neuen Lesestoff.

Sobald ich eines fertig gelesen hatte, wanderte es direkt wieder zu Abuelo ins Zimmer. Er brachte sie dann wieder zurück in den Laden.

Genauso war es auch jetzt. Mit dem Stapel Bücher in meinem Armen, trat ich in Zimmer, indem Abuelo wartete, um die Bücher in Empfang zu nehmen.

"So, hier!", sagte ich schnaufend und er neigte den Kopf. "Danke, mi pequeño."

Mein Blick haftete auf dem Schreibtisch, denn ein...naja ein etwas...stand wie ein quadratisch, in Zeitungen verpackter Turm, auf der Holzplatte.

"Was ist das?", fragte ich neugierig. "Etwa ein Geschenk? Für mich?"

Er lachte auf. "Ja, was denn sonst?"

"Was ist denn da drin?" Das Geschenk war ungefähr so groß wie ein Badezimmerschränkchen, und das wäre- obwohl es von einem so ungewöhnlichen Menschen wie Abuelo stammte- ein höchst unerwartetes Geschenk.

"Na los! Mach es auf!"

Ich riss das Papier auf. "Oh!"

Mir stockte der Atem. Es war ein Stapel von Büchern mit Ledereinbänden on den unterschiedlichsten Farben. Obwohl es im Zimmer ziemlich dunkel war, leuchtete das Leder.

"Gefallen sie dir nicht? Ich kann sie auch gerne-"

"Sie sind wunderschön", meinte ich und strich über das Leder. "Aber Abuelo...dieses Leder ist doch sicher schrecklich teuer." Ich betrachtete die Bücher genauer. Für gewöhnlich war keines der Bücher aus seinem Laden in solches Leder eingebunden.

Abuelo zuckte mit den Schultern. "Ich dachte, es wäre genau der richtige Punkt, um damit anzufangen, schöne Dinge zu sammeln. Besonders jetzt, wo wir in einem anderen Dorf wohnen und unser Leben quasi von vorne Anfangen. Jedes dieser Bücher", sagte er. "war eine meiner Lieblingslektüren."

Ich grinste. "Also auch Shakespeare?"

"Vielleicht."

"Ich finde es herrlich. Danke! Vielen Dank." Ich schlug eines auf und schnupperte dran. Das Papier roch nach Brombeergestrüpp und Zinnkesseln.

"Das freut mich sehr.", sagte Abuelo. "Wenn du die Seiten weiter so umknickst, werde ich dich allerdings mit Robinson Crusoe zu Tode prügeln müssen."

Ich kicherte und begutachtete, dass nächste Buch (es handelte ich um eine Ausgabe der Märchen der Brüder Grimm mit einer verheißungsvollen Illustrationen auf der ersten Seite)

"Wie weit bist du eigentlich mit deiner Theorie?", fragte ich beiläufig, während ich weitere Bücher betrachtete. Als wir das letzte Mal Eiscreme gegessen hatten, war Abuelo der Meinung das es nicht schmecken würde, weil wir es am falschen Ort aßen.

Er fand, dass man an schönen Orten essen musste: in Gärten oder mitten auf einem See oder in einem Boot.

"Tatsächlich, ja! Meine Theorie lautet", sagte er. "dass Speiseeis am besten schmeckt, wenn man es bei Regen auf dem Bock einer vierspännigen Kutsche ist."

Blinzend sah ich zu ihm auf. Manchmal konnte ich schwer einschätzen, ob er scherzte oder nicht. "Ach, ja?"

"Glaubst du mir etwa nicht?", fragte Abuelo.

"Nein, bestimmt nicht." Ich bemühte mich, das Gesicht nicht zu verziehen, denn ich spürte, dass ich gleich lachen musste. Es fühlte sich an wie der Drang zu niesen; es füllte meine ganze Brust aus.

"Tja, ich auch nicht, um ehrlich zu sein.", meinte er schulterzuckend. "Aber es wäre durchaus möglich, finde ich."

"Und ich finde, dass Eis bestimmt auch super toll bei den Madrigals schmecken würde.", sagte ich und schaute zur Uhr.

"Ach, wir essen Eis bei den Madrigals? Gibt es etwa ein Buffet?", fragte Abuelo erstaunt und ich zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung, vielleicht ja. Also, gehen wir dann?"

"Meinetwegen gern. Ich schlage allerdings vor, dass du dir vorher etwas anderes anziehst. Dieser Rock da ist eine faszinierende Erfindung; du siehst darin aus, als hättest du gerade einen Bibliothekar abgemurkst.", sagte er.

"Ja! Ich beeile mich." Ich lud mir den Bücherstapel auf. Er war so hoch, dass ich kaum noch etwas sehen konnte. "Du ziehst dich aber auch noch um, oder?"

"Warum sollte ich denn?" Er drehte sich einmal um sich selbst. "Steht mir doch, außerdem habe ich die Sachen vorgestern schon gewaschen."

"Ach, Abuelo!", meinte ich lachend und wankte aus dem Zimmer. "Zieh dich trotzdem einfach um. Der erste Eindruck ist alles!"

~

"Komm Abuelo!", rief ich. Abuelo trug seinen Hut mit der schlaffen Krempe und brauchte gefühlte Stunden, um die Knöpfe seines Hemdes zuzuknöpfen...oder war es Bluse?

Ich trug mein Hemd nicht. Nicht, weil mir Senõra López heute Morgen einen langen Vortrag über Knöpfe gehalten hatte, sondern weil ich es hässlich fand.

An sich war das Hemd schön und ich hatte es vorhin mit großer Überzeugung zum Anziehen rausgelegt, aber plötzlich war es nicht mehr so schön wie heute Morgen.

"So", sagte Abuelo und kam mir entgegen. "Wir können!"

Ich öffnete die Tür und die warme Luft kam mir entgegen. Der Himmel war fast wolkenlos und leuchtete in verschiedenen Farben, denn die Sonne ging bereits unter. Eine leichte Brise wehte über die Hügelketten und Felder, die rund um das wundersame Dorf Encanto zu finden waren.

Abuelo hakte sich bei mir unter und pfiff auf dem Weg die Streicherpartie von Così fan tutte.

"Musik, Y/n! Musik ist herrlich und verrückt!", rief er aus. Seine Aufregung war ansteckend. "Ja!"

Auf den Straßen war schon reges treiben, denn ein jeder wollte anwesend sein, wenn ein weiterer Madrigal seine Tür und somit auch seine Gabe erhielt.

Rund um den Brunnen auf dem Marktplatz, von dem aus das bunte und quirlige Haus der Familie Madrigal- die Casita- sehr gut zu sehen war, waren Stände und Girlanden aufgebaut worden.

Wir kamen der Casita immer näher.

Ich erkannte Luisa und Camilo, wie die beiden die ankommenden Gäste begrüßten.

Luisa half einem Bauern mit seinem Esel, und drückte ihm noch ein kleines gelbes Kärtchen in die Hand. Als sie mich sah, nickte sie mir zur Begrüßung zu.

Währenddessen verwandelte sich Camilo immer wieder in die Person, die er gerade begrüßte.

Ich lachte, als er gerade eine kleine Familie Willkommen hieß und sich in jeden von ihnen verwandelte, sogar in das Kind, welches auf den Schultern seines Vaters saß.

"Hola Y/n! Na, alles klar?", fragte Camilo mit der Andeutung zu einem High- Five.

Ich wollte einschlagen, doch er verwandelte sich in mich, woraufhin ich dann schnell auswich und kicherte. "Lass das, Idiota!"

Damit er sich sofort zurück in seine eigene Form verwandelte, schnippste ich dem Gestaltenwandler gegen die Stirn.

Er sah mich mit einem provokanten Lächeln an. "Tja, ein Versuch war es ja wert! Außerdem hätte ich wirklich gedacht, du fällst drauf rein."

"Ganz sicher werde ich mir nicht selbst ein High- Five geben, Camilo.", kicherte ich. "Und ich glaube, jeder hätte das geahnt."

Daraufhin kam er mir mit seinem Gesicht immer näher. "Schlau schlau Y/n."

"Ich möchte euch zwei Turteltauben ja nicht bei irgendwas stören, aber Camilo...Du sollst mit mir die Gäste begrüßen!", meinte Luisa und wir lösten uns mit hochroten Köpfen.

"Geht klar.", erwiderte Camilo und sah mich nochmals an, bevor er einen Mann mit dickem Bauch begrüßte. (Ihr wisst hoffentlich, WER damit gemeint ist, oder?)

"Wo ist denn Maribel?", fragte ich als ich durch die Türe trat. Ich sah mich suchend um. "Und Abuelo? Wo ist er denn jetzt schon wieder hin?"

Dann hörte ich etwas.

Klassische Musik.

Abuelo hielt sein Geburtstagsgeschenk an mich, vor mir geheim, doch war seine Aufregung ansteckend.

Ich lehnte mich zu ihm rüber. "Was werden wir hören?"

"Klassische Musik, Y/n." Er strahlte vor Glück, und seine Fingerspitzen zuckten. "Kluge, vielschichtige Musik."

"Oh. Das ist...Ja wunderbar." Ich war noch nie sonderlich geübt im Lügen. "Das wird bestimmt ganz toll."

In Wahrheit, wäre ich viel lieber in den Zoo gegangen. Bisher habe ich nur sehr selten Klassische Musik gehört (und meist auch nur dann, wenn Abuelo auf dem Klavier spielte) und hätte auch weiterhin darauf verzichten können.

Ich war mir aber auch ziemlich sicher dass es nur sehr wenige frischgebackenen Neunjährige gab, die behaupten würden, Klassische Musik zu mögen, ohne dabei wenigstens ein bisschen zu flunkern.

Das Konzert begann nicht besonders vielversprechend, fand ich. Das Klavierstück war endlos lang.

Der schnurrbärtige Pianist zog beim Spielen Grimassen, die ich mit Leuten Verband, die es am ganzen Körper juckte.

"Abuelo?" Ich warf einen Blick auf ihn. "Abuelo?"

"Was denn, Y/n? Du musst bitte flüstern."

"Wie lange geht das noch weiter, Abuelo? Ich meine- nicht, dass es nicht supertoll wäre...Ich würde es nur gern... einfach wissen."

"Leider nur eine Stunde, mi pequeño. Ich würde mich auf diesem Sitz am liebsten häuslich einrichten. Du nicht auch?"

"Oh. Eine Stunde?" Ich versuchte, still zu sitzen, was sich jedoch als schwierig erwies.

Nach einer Weile, dämmerte ich schon zwischen Schlaf und Wach, bis drei Geiger, ein Cellist und eine Bratschistin auf die Bühne kamen.

Sie begannen zu spielen und diese Musik war ganz anders. Sowohl lieblicher als auch stürmischer. Ich setzte mich wieder gerade hin und glitt auf dem Sitz so weit nach vorn, dass ich gerade noch Halt fand und nicht vom Sitz fiel. Diese Musik war so schön, dass es mir fast den Atem verschlung.

Wenn Musik leuchten könnte, dachte ich mir, dann wäre es hier der Fall.

Es klang, als würden alle Chöre dieses Dorfes gemeinsam eine Melodie singen. Mir ging das Herz auf.

"Das hört sich wie achttausend Vögel an, Abuelo. Abuelo! Hört sich das nicht an wie achttausend Vögel?"

"Ja. Aber bitte sei still, Y/n."

Die Melodie legte an Tempo zu und mein Puls mit ihr.

Diese Musik klang sowohl vertraut als auch fremdartig. Sie zupfte an den Fingern und Füßen.

"Abuelo!", riskierte ich ein Flüstern. "Abuelo! Hör mal! Die Geigen singen, Abuelo!"

Nach dem Ende des Stücks applaudierte ich mit den anderen und noch lange, nachdem alle aufgehört hatten. Ich klatschte, bis meine Hände heiß und voller roter Flecken waren. Solange, bis sich alle Leute im Publikum zu mir umdrehte.

"Irgendwie kommt mir die Musik so bekannt vor. Sie gibt mir das Gefühl, zu Hause zu sein.", sagte ich zu Abuelo. "Verstehst du wie ich meine? Fandest du die Musik nicht auch so toll?"

Er nickte. "Das Stück war wirklich schön."

"Nicht nur schön!", beteuerte ich. "Sie ist...Sie ist wie ein frischer Wind!"

"Tatsächlich?", fragte Abuelo mich. "Tja, in diesem Fall sollte ich wohl öfters mal Geige spielen, nicht wahr?"

Ungläubig betrachtete ich ihn. "Du...kannst Geige spielen?"

"Natürlich!"

Und da stand er.

Oben in der Menschenmenge, obwohl er große Veranstaltungen über alles hasste, und spielte Geige.

Er spielte Valse sentimentale von Tschaikowsky, mein Lieblingsstück.

"Ist das da dein Abuelo der spielt?"

Ich drehte mich zu Camilo und lächelte stolz. "Ja. Er kann Geige spielen!"

"Ach. Was du nicht sagst.", erwiderte er nur lachend- Es war ein herzliches Lachen.

1769 Wörter

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