Kapitel 12

Thomas starrte mich auch völlig verängstigt an. Er war völlig geschockt, wie ich auch und wir erstarrten beide wie Statuen. Wir hatten beide schon verstanden, dass mein Bruder damit gemeint hatte, dass ich ein böses Monster war und er unbedingt wollte, dass ich umgebracht wurde.

Er erkannte mich nicht nur nicht, es war noch viel schlimmer. Er sah in mir eine schlimme Kreatur, die ihn bedrohte. Er hatte panische Angst vor mir. Ich wusste nicht, woher das kommen konnte. Wie konnte das geschehen? Seit er hier war, hatte ich doch gar nichts zu ihm gesagt, das etwas in seinem Kopf auslösen könnte und er dadurch denken könnte, dass ich ihm etwas Böses wollen würde.

Hatte sein Psychologe ihm etwa erzählt, dass ich nicht gut für ihn sein würde und er sich generell besser von mir fernhalten sollte und das hatte sich nun durch seinen Zustand noch so krass verstärkt, dass er nun dachte, dass ich böse war?

Ich verstand es einfach nicht und es schockierte mich so sehr, dass ich merkte, wie mich hier an diesem Platz in dieser Sekunde die Kraft zu verlassen schien. Ich fing an zu zittern und ich war mir sicher, dass wenn ich mich nicht in den nächsten Sekunden irgendwo festhalten würde, dann würde ich einfach wie ein gefällter Baum umkippen, wahrscheinlich auch noch, ohne mich abzustützen.

Vor allem, wenn er so etwas Schlimmes mit mir assoziierte, warum dann nicht mit Thomas? Warum erkannte er ihn und mich nicht? Er kannte ihn doch schließlich durch mich und es kaum eigentlich auch echt selten vor, dass die beiden sich sahen, ohne dass ich auch kurz dabei war, um wenigstens ‚hallo' und ‚auf Wiedersehen' zu sagen. Das ging alles nicht in meinen Kopf rein.

„Jason, das ist May! Erkennst du sie denn nicht? Sie ist deine Schwester! Sie würde dir nie etwas tun! Du siehst Sachen, die nicht da sind, aber keine Sorge, wir sind hier und beschützen dich, da kann dir gar nichts passieren!"

Thomas wollte ihn gerade berühren und sanft über seinen Arm streichen, um ihn zu beruhigen, da passierte es, dass Jason seine Hand und seinen Arm mit Gewalt wegschlug und wie ein Verrückter anfing, herumzufuchteln und um sich zu schlagen. Seine Augen öffneten sich auf eine gruselige Art und Weise und er starrte mich aus blutunterlaufenen Augen an. Ich sah keinen Funken des Erkennens in seinem Blick und das war, als wenn man einen Dolch durch meine Brust stechen würde. Ich konnte das nicht verkraften. Ich musste dringend weg von hier!

In dieser Sekunde sah ich auch, wie die Krankenschwestern an sein Bett gestürmt kamen und ihn festhielten. Sie hatten es echt schwer, sie mussten sich mit ihrem ganzen Gewicht auf Jason lehnen, damit er sich nicht wieder freikämpfen konnte. Sie hatten ein paar Sekunden zu kämpfen, bis sie ihn endlich in ihrer Gewalt hatten.

Eine von ihnen gab ihm eine Spritze, damit er sich beruhigte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er aufhörte, wie ein Fisch zu strampeln, der gerade aus dem Wasser gezogen wurde. Sein Blick verankerte sich mit meinem und es war so, wie wenn man seinem Angreifer in die Augen sehen würde, bevor man starb. Es war so wie in diesen Filmen, wenn das Opfer in der letzten Sekunde noch einmal in die Augen des Bösen sah und man all die Angst sah und die Schuld, dass der andere an all dem Schuld war und dass man jetzt sterben musste, bevor der finale Schlag kam, der all dem ein Ende gesetzt hatte.

Genau so sah mein Bruder mich gerade an. Als würde ich an all dem Schuld sein und alle müssten jetzt wegen mir leiden und er müsste sogar wegen mir sterben.

Bevor die Wirkung der Spritze vollends einsetzte und er wegdämmerte, sah ich diesen Blick erfüllt voller Hass, doch auch einen gewissen Trotz, als würde er mir meinen Triumph, dass ich gewonnen hatte, nicht gönnen. Dann schloss er die Augen und sein Atem ging nun wieder normal. Er entspannte sich und der Arzt konnte endlich wieder dafür sorgen, dass Jasons Arme in einer natürlichen Position dahingen und nicht so, als wäre er gerade im Inbegriff, sich zu erdrosseln.

Ich lehnte mich an die Wand und legte meinen Kopf in den Nacken, sodass ich an die Decke sah. Ich konnte nicht mehr, das war gerade alles zu viel für mich gewesen. Ich musste wohl kreidebleich sein, so fühlte ich mich auf jeden Fall. Ich hatte das Gefühl, jede Sekunde das Bewusstsein zu verlieren, wenn mich nicht jemand stützen würde.

Ich wusste nicht, wann ich mich das letzte Mal so schwach und nutzlos gefühlt hatte. Dass ich nichts tun konnte, damit es meinem Bruder besser ging.

„Hey, May, es ist vorbei. Er ist nun erst mal weg und wenn er wieder aufwacht, dann wird sich um ihn gekümmert. Sie schaffen es schon wieder, dass er der Alte wird. Sie haben hier die besten Leute und keine Sorge, bald wird er dich auch schon wieder erkennen und dann kannst du vielleicht sogar bei seiner Therapie helfen und wir können ihn hier auch wieder öfter besuchen."

Ich klammerte mich an Thomas, wie ein Ertrinkender, der sich an einem Stück Holz festhielt, damit er nicht unterging. Er war mein Fels in der Brandung! Wenn er nicht wäre ... ich wüsste nicht, was ich dann tun sollte. Ich verdankte ihm so sehr, ohne ihn könnte ich das alles hier einfach nicht schaffen, dafür wäre ich nicht stark genug.

„Gehen Sie bitte. Ihr Bruder braucht jetzt ganz dringend Ruhe und ich bitte Sie dringend, ihn in der nächsten Zeit nicht zu besuchen. Wir müssen erst einmal an ihm arbeiten und das wird sicherlich seine Zeit brauchen. Er wird Sie wieder als seine Schwester erkennen, doch das dauert und in dieser Zeit wäre es von Vorteil, wenn er nichts mit Ihnen zu tun hat. Wir melden uns dann wieder bei Ihnen, wenn wir so weit sind. Bitte gehen Sie nun."

Ich bekam nur wie in Trance mit, wie Thomas mich an der Hand nahm und wir beide die Psychiatrie verließen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top