Kapitel 10

Thomas und ich sahen uns verstört an. Das war gerade echt eine wirklich komische Begegnung gewesen. Ich hatte mir ja schon bei unserem ersten Aufeinandertreffen gedacht, dass die beiden etwas Großes zu verbergen hatten und dieser Glaube hatte sich jeden Tag verstärkt. Gerade in den letzten Minuten hatte ich allerdings angefangen, daran zu zweifeln, dass die beiden überhaupt noch normal waren.

Sie verhielten sich, als wäre mein Bruder für all das verantwortlich, was in der letzten Zeit geschehen war und sie wollten auf jeden Fall, dass er hier bleiben würde. Dazu war ihre Ermittlung aber auch noch so schlecht, dass man sich eigentlich fragen konnte, wie sie überhaupt zu diesem Job gekommen waren.

„Ich werde aus den beiden einfach nicht schlau. Ich glaube, es ist das Beste, einfach zu versuchen, sie zu ignorieren und so zu tun, als wären wir ihnen niemals begegnet. Hoffen wir mal, dass sie Jason nicht zu sehr verschreckt haben. Wir kümmern uns nun erst einmal darum, dass es deinem Bruder so schnell wie möglich wieder besser geht und vergessen alles Andere. Sicherlich wird es nicht das letzte Mal gewesen sein, dass wir den beiden begegnet sind, aber wir ignorieren sie dann in nächster Zeit einfach so gut wie es geht. Wir wollen nicht Teil ihrer Ermittlungen sein und bald wird ihnen auch klar werden, dass Jason nicht zu ihren Ermittlungen passt und sie werden sich jemand anderen suchen, den sie nerven können."

Thomas nahm meine Hand und lächelte mich an, damit ich mich besser fühlte. Ich erwiderte sein Lächeln, obwohl ich nich nicht genau wusste, wie ich mich fühlen sollte. Aufgebracht, verwirrt, nervös, weil ich gleich meinen Bruder sehen würde, verliebt, weil Thomas mich so ansah, alle Gefühle waren gerade ungefähr gleich stark in mir vertreten und man konnte am ehesten sagen, dass es eine Mischung aus allem zusammen war.

Ich wollte nun einfach wissen, wie es meinem Bruder ging und vielleicht sogar ein bisschen mit ihm reden. Hoffentlich würde er von sich aus anfangen, mit uns ein Gespräch anzufangen, da wir das ja nicht tun sollten. Wenn ich ehrlich war, ich hatte große Angst davor, dass er nicht mehr normal war, dass ich ihn nicht mehr als den Bruder, den ich über alles liebte, erkennen würde. Das war eines der schlimmsten Sachen für Menschen, wenn die Personen, die man liebte, auf einmal total verändert waren und man nicht mehr erkennen konnte, wo die Person, die man all die Zeit über gekannt hatte, geblieben war.

„Bringen wir es hinter uns. Dein Bruder ist sicherlich auch aufgeregt, weil er dich vermisst. Wir wollen ihn doch nicht unnötig lange warten lassen. Gehen wir lieber zu ihm hinein, damit wir die Besuchszeit noch so lange wie möglich ausnutzen können. Ich hoffe, dass wir es mit der Uni oft genug schaffen, ihn zu besuchen. Ich habe mir auch schon einmal überlegt, ob ich vielleicht mal meine Lernsachen zu ihm mitnehmen soll, damit ich wenigstens ein bisschen bei ihm bin und er nicht ganz so alleine ist. Was hältst du davon?"

Ich grinste Thomas an und nahm ihn in den Arm, legte meinen Kopf an seine Brust. „Das ist eine ganz wundervolle Idee, ich freue mich wirklich, dass du das machen willst. Du bist wirklich so ein guter Freund für ihn, ich weiß, dass du sein bester Freund bist und dass er doch lieb hat, auch wenn das bei euch Jungs ja oft nicht wirklich so gesagt wird. Er ist wirklich froh, dich zu haben, das merke ich, auch wenn er das nicht immer so zeigt."

Nun hatte ich es geschafft, Thomas zum Lächeln zu bringen.

Also war es, meiner Meinung nach, der beste Zeitpunkt, um sein Zimmer zu betreten. Ich atmete noch einmal tief durch, drückte Thomas' Hand ganz fest und klopfte mit der anderen Hand an die Tür. Es klang gruselig, als ich hörte, dass es hier so still war und mein Klopfen das Einzige war, was diese Stille durchbrach.

Es kam keine Antwort, weder ein ‚Herein' noch öffnete jemand die Tür. Es war leise, wie wenn niemand zu Hause sein würde. Das war äußerst merkwürdig. Normalerweise empfing Jason uns immer überglücklich und es dauerte nie lange, bis er uns die Tür öffnete.

Das war das erste Indiz, das bewies, dass er nun nicht mehr der Jason war, den ich kannte.

Auch nach einem weiteren Klopfen tat sich gar nichts und es war auch vollkommen still. Ich lauschte, hörte allerdings nicht, ob Jason sich bewegte oder irgendwas tat. Es war still wie auf einem Friedhof. Richtig beängstigend. Das half natürlich nicht wirklich dabei, meine Angst zu lindern.

„Ist mir jetzt völlig egal, wir gehen jetzt einfach rein. Wir haben uns jetzt oft genug angekündigt, wenn er mit irgendetwas Wichtigem beschäftigt war, hatte er genug Zeit, das zu beenden. Wenn wir das Zimmer jetzt nicht betreten, können wir rein theoretisch auch gleich wieder gehen. Das will ich aber auf keinen Fall."

Ohne auf eine Antwort von mir zu warten, öffnete er einfach die Tür und trat zu Jason ins Zimmer. Ich blieb erst einmal noch draußen und machte dann ein paar vorsichtige Schritte ins Zimmer.

Es war rein weiß und sah so steril aus, dazu noch so unbelebt, dass ich mich in der ersten Sekunde fragte, ob er überhaupt hier war. Es war gar nichts zu sehen, dass darauf hinweisen würde, dass hier eine Person wohnte.

Ich blickte in die Richtung, in die Thomas sah und dann sah ich ihn. Ich erkannte ihn nicht wieder und es war wie ein Stich in mein Herz, als ich ihn so sah. Er sah nicht mehr lebendig aus, er sah eher aus, als würde er nur noch vor sich hinvegetieren. Mein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Ich spürte, wie sich ein dicker Kloß in meinem Hals bildete und ich anfing zu zittern.

Wo war mein Bruder? Wieso sah er mich nicht an? Ich wollte seinen Namen sagen, wollte, dass er mich ansah und ich sah, dass er mich erkannte, doch das durfte ich ja nicht. Ich sollte ihn in Ruhe lassen.

Jason sah einen kurzen Augenblick von der Decke weg und in meine Augen. Er starrte mich so an, dass es das Blut in meinen Adern gefrieren ließ. Und dann fing er an, wie ein Verrückter zu strampeln und zu brüllen, wie wenn er abgestochen werden würde.

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