5. Wanderlust

"You are caught with the fact that a man is a creature who walks in two worlds and traces upon the walls of his cave the wonders and the nightmare experiences of his spiritual pilgrimage."

Eine gefühlte Ewigkeit verstrich, bevor in Elisabeths Brust erstmals wieder der Samen der Hoffnung aufkeimte. Obgleich der Regen weiterhin in Strömen fiel, spürte sie ihn kaum mehr. Zügig bildete sich ein Lächeln auf den Lippen der jungen Frau, sobald ihr Blick erstmals auf jenes Schild traf, das kaum mehr als ein paar Meter von ihrem aktuellen Standort entfernt stand und dabei wie ein vermodertes Totem in die Luft ragte.

Links neben dem Wegweiser ebnete sich ein serpentinengleicher Weg in die Höhe, der über und über mit herab gefallenen Herbstblättern bedeckt zu sein schien. Zu aller Zeit lag ein unverkennbarer Hauch von Fäulnis in der Luft, der Elisabeth nicht nur einmal streng in der Nase kitzelte.

Gemeinsam näherten sich die drei Freundinnen jener hölzernen Markierung an, die ihnen hoffentlich den schnellsten Aufstieg zur Höhle lotsen würde. Sobald das Trio sein Ziel erreichte hatte, warf Elisabeth das Licht ihrer Taschenlampe auf die dort festgehaltenen Wege, während sich Antonia ein wenig herab beugte und sich zur gleichen Zeit in die Deutung der Karte vertiefte.

»Wenn ich die Bedeutung des Meilensteins richtig interpretiere ... dann müssen wir auf jeden Fall einen guten Kilometer hinter uns bringen, bevor wir auf den Eingang der Höhle treffen!«

»Mist, verdammter! Schon wieder ein Wald! Ich sag's euch.... langsam hab ich so richtig die Schnauze voll. Überall, wohin ich auch schaue, sehe ich nur Bäume, Bäume - und ach ja - Bäume!«, schnaufte Rosalie, nun offenbar völlig mit dem Nerven am Ende, bevor sie wie zur Unterstützung des Gesagten die Hände in die Luft warf.

»Vorhin hast du noch große Töne gespuckt, das der Vorschlag, in dieser Höhle Schutz zu suchen, für dich in Ordnung geht!«, entgegnete eine genervt dreinblickende Antonia. »Ist das geplante Vorhaben unserer lieben Madame de Pompadour jetzt also doch zuwider?«

»Wie hätte ich auch ahnen können, dass uns ein weiterer Todesmarsch nach Mordor bevorsteht?«

Elisabeth massierte sich derweilen ihren Nasenrücken, um wegen des Gezänks nicht augenblicklich laut aufzuschreien. Unweigerlich kam es ihr so vor, als hätte ihre kurzlebige Erheiterung nun einen tiefen Fall erlitten und sich dabei auf grausame Art und Weise das Genick gebrochen.

»Rosalie...Mach jetzt kein Mätzchen! Sei lieber froh um die Möglichkeit, sich irgendwo unterstellen zu können!«, erläuterte die Brünette mit einer erstaunlichen Engelsgeduld, da ihr eigentlich auch ihr zerfleddertes Nervenkostüm bereits klaffende Löcher aufwies.

»Bevor wir hier Wurzen schlagen...lasst uns lieber weiter gehen. Dann sitzen wir hoffentlich bald im Trockenen und können uns dort dann weiter bekriegen!«, empfahl Antonia mit leiser Stimme, während sie mit zusammen gekniffenen Brauen die bestätigende Blicke ihrer Weggefährtinnen aufsuchte.

Alle drei nickten schweigend einander zu, bevor sich ihre Körper in Bewegung setzten und sich sogleich in Richtung des Serpentinenbeginns begaben. Nur wenige Minuten später betraten die Gruppe jene Anhöhe, die einem stetig steiler werdenden Verlauf unterlag.

Lange dauerte es nicht, bis sich die aus der Erde sprießenden Laubbäume lichteten. Immer mehr Tannen begannen den Weg zu säumen und tünchten dabei die vegetierende Landschaft in ein wunderschönes, dunkles Grün ein.

Zum Glück reichte, wie Elisabeth im Stillen feststellte, das strahlende Licht der Taschenlampen aus um nicht wie ein kompletter Tollpatsch über den rechten Rand des Abstiegs hinab in eine weit entlegene Tiefe zu stürzen. Sicherheit ging über allem vor, denn eine Tatsache galt zu wohl zu jeder Zeit: Mutter Natur kannte ausnahmslos weder Moral noch Gnade und unterschied bei ihrem Urteilsspruch auch nicht zwischen Gut und Böse.

Unterhalb des geradigen Abschnittes gedieh hingegen eine kleine, freie Bergwand in Hülle und Fülle. Zerklüftete Felsvorsprünge, sprudelnde Bäche und pechschwarze Gräser bildeten dort ein beeindruckendes Panorama, tatkräftig unterstützt durch das leise Rauschen des Windes oder durch den Klang von aufgewirbelten Blättern.

Bei jedem einzelnen Tierruf rieselte Elisabeth hier und da ein kleiner Schauder über den Rücken hinweg. In jenen Momenten war es der jungen Frau, als hätte ihr Blick aus den Augwinkel als eine grausige Fratze entdeckt, die sich allerdings beim genaueren Hinsehen als ein Produkt ihrer eigenen Vorstellungskraft entpuppte.

Bisschen mehr Contenance, wenn ich bitten darf.

»Passt bitte auf, wohin ihr tretet. Wir wollen doch kein zweites antoniastisches Fiasko erleben«, näselte Elisabeth hochnäsig, doch der Schalk, der in ihren grünen Augen aufblitzte, strafte dem gewählten Tonfall eindeutige Lügen.

Augenblicklich lachte Rosalie laut auf, ehe ihr die leicht empört wirkende Rothaarige einen sanften Ellbogenstoß zwischen die Rippen verpasste.

»Falsch, komplett falsch. Ich bin runter- und nicht raufgefallen. Ein großer Unterschied, wie ich finde!«, korrigierte Antonia würdevoll das Gesagte und erntete daraufhin leises Gekicher ein.

»Haarspalterei, wichtig ist nur...«, meinte die erheiterte Blondine, welche den begonnenen Satz allerdings nicht bis zu Ende führen konnte. Denn nur für eine winzige Sekunde schien ihre Aufmerksamkeit abgelenkt, ein fataler Fehler, wie sich bereits im Nachhinein heraus stellte.

Eine unter Laubblättern versteckte Wurzel genügte, um die Blondhaarige im wahrsten Sinne des Wortes zu Fall zu bringen. Ausvollem Halse kreischend, fiel Rosalie unweigerlich mit dem Oberkörper nach vorne und schloss somit eine durchaus intime Bekanntschaft mit dem überaus matschigen Boden.

»Igitt. Ist ja widerlich«, fluchte die junge Frau wie ein betrunkener Seemannlaut auf, während sie das dreckig gewordene Gewand mit leidvollen Augen musterte. Als Rosalie genug um die Unversehrtheit ihrer Kleidung getrauert hatte, gab sie sich einen Ruck und rappelte sich mühsam wieder auf beide Beine auf. Sobald die Gefallen wieder aufrecht stand, traf ihr warnender Blick sogleich auf breit grinsende Gesichter.

»Tja. Wer anderen eine Grube gräbt...«, frohlockte Antonia, bevor ihr die schnaubende Freundin ihr sofort ins Wort fallen konnte.

»Ja, ja. Ich habe meine Lektion gelernt. Können wir bitte weiter gehen und diesen Vorfall nie wieder erwähnen?«

»Keine Chance!«, flöteten Elisabeth und Antonia wie aus einem Munde, bereits in Insgeheimen so manch böse Pläne schmiedend.

»Mit solchen Freunden brauche ich keine Feinde mehr«, grummelte Rosalie, doch die zuckenden Mundwinkel verrieten ihre eigene Erheiterung über die gegebene Situation. »Aber ich würde trotzdem gerne weiterziehen, mir friert nämlich langsam der Hintern ab!«

Leise plaudernd stoben die drei Freundinnen von dannen und erreichten viele Minuten später und mit heilen Hälsen den Anbeginn der angepeilten Höhle.

Fast wie ein gieriger Schlund ragte der finstere Eingang aus der unteren Bauchgegend des Sanften Josefs hervor.

Spärlich wachsende Grashalme, dunkelgrünes Efeu und fleckige Moosstellen zierten gesamtheitlich den steinernen Einlass und erinnerten in ihrer Form an ein durchaus interessantes Kunstwerk. Ganz so, als hätte ein Maler seine unverkennbaren Pinselstiche auf der wettergegerbten Oberfläche hinterlasse und sich dort auf immer verewigt.

Wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen, dass sich der Einlass auf ungefähr zwei Meter Höhe beläuft. Damit dürften wir hier ja ohne Probleme Schutz suchen können. Manchmal hatte es durchaus seinen Vorteil, nicht zu den körperlich Größten zuzählen.

Ohne Zögern betrat die junge Frau die schaurig aussehende Kavität auf Gutdünken, dabei dicht auf den Fersen gefolgt von ihren beiden Freundinnen. Wie im Vorhinein bereits angenommen, bot das Innere der Höhle nicht nur überraschend guten Schutz gegen den andauernden Regen, sondern wies auch die aufgezogene Kälte halbwegs in ihre Schranken.

Zumindest einer kleiner Trost inmitten all des geschehenen Unglücks.

Flink stellten die Drei ihre Taschenlampen und Handtaschen auf dem felsigen Boden ab und sahen sich zu allen Seiten interessiert um.

»Na, das hier ist doch schon mal um Welten besser als wie blinde Maulwürfe durch tausend Wälder zu jagen", gab sich Rosalie versöhnlich, während ihre Finger nach der mitgeschleppten Wasserflasche griffen und sich diese rasch zu Munde führten.

Erst zu diesem Zeitpunkt nahm Elisabeth überhaupt Notiz von ihrem eigenen Durst. Umgehend dem Beispiel ihrer Vorgängerin folgend, schnappte sich auch die Brünette ihre kostbare Fracht und genoss vollends die prudelnde Flüssigkeit auf ihrer ausgetrockneten Zunge.

»Ich hoffe, dass es hier keine Bären gibt!«, merkte Rosalie wie aus dem Nichts flüsternd an, während ihre verengten Augen in die düstere Finsternis der Höhle stierten, »so süß wie ich diese Tiere auch finde, auf eine Begegnung mit Tatzen und Reißzähnen kann ich wirklich gut und gerne verzichten!«

»Glaub mir, es gibt hier keinerlei Anlass zur Sorge, Bären gelten in Mitteleuropa als fast ausgerottet«, gab Elisabeth bereitwillig Auskunft, in Gedanken sogleich über diese traurige und wütend machende Aussage nachgrübelnd.

Wahrlich eine Schande. Als besäßen diese Tiere nicht die gleiche Daseinsberechtigung wie der Homo Sapiens. Aber schon seit Anbeginn der Zeit hat es der Mensch geliebt, Gott zu spielen. Sobald man etwas fürchtet oder nicht versteht, wird es lieber zerstört. Furchtbar.

Zur gleichen Zeit beobachtete die Gedankenverlorene wie zahlreiche Wassertropfen von der mit Rissen übersehenen Decke ploppten und im Anschluss darauf eine stetig größer werdende Pfütze auf dem felsigen Grund bildeten. Gleich darauf suchte bereits ein fröstelnder Schauder ihren frierenden Leib heim, woraufhin sich die junge Frau die Arme instinktiv um die abgewinkelten Knie schlang.

Rosalie erweckte derweilen den Anschein, als suchte sie in ihrer geöffneten Tasche nach irgendeinem gewünschten Objekt. Sobald sich ihr pinkfarbenes Handy im fahlen Licht der aufgestellten Taschenlampen zeigte, bildete sich augenblicklich auf dem Gesicht der Blondine ein Ausdruck des schieren Triumphes.

»Laut der Anzeige ist es nun kurz vor ein Uhr ... Geiiissssterstuuunnde!«, zischelte die Blondine wie eine aufgeregte Klapperschlange, während sie wohl ihren Kumpaninnen mehr oder weniger das Fürchten lehren wollte.

Schwankend zwischen Erheiterung und Genervtheit winkte Elisabeth schließlich das dargebotene Schauspiel mit einer ausgestreckten Hand ab.

»Hör schon mit dem Quatsch auf, du Kindskopf! Du bist nicht so lustig wie du denkst!«

»Ihr habt wirklich gar keinen Humor. Elendige Spielverderber. Und sowas schimpft sich Freunde«", gab sich Rosalie seufzend geschlagen, ehe auch sie sich als Letzte im Bunde auf dem kühlen Untergrund gemütlich machte.

Im Handumdrehen breitete sich eine angenehme Stille über den Köpfen der drei Frauen aus, die alle im Insgeheimen darauf Acht gaben, sich bestmöglich von den Strapazen der langen Wanderung zu erholen und dabei mitunter auch gleich neue Kräfte zu schöpfen. Denn es bestand kein Zweifel an dem Umstand, dass sie hier wohl die Nacht verbringen und sich wieder am helllichten Tag in Richtung einer menschlichen Zivilisation vorkämpfen mussten.

Doch wie der Zufall eben spielte, setzte den drei Verlorengegangenen schon bald eine weitaus gefährlichere Laune als reiner Hunger oder Durst zu.

Nämlich Langweile.

Rosalie, die unruhig mit einem Bein auf und ab zappelte, schenkte Elisabeth und Antonia einen durchdringenden Blick, der wahrlich nichts Gutes für die zwei Freundinnen in petto bereithalten konnte.

»Was haltet ihr eigentlich von dem Vorschlag, die Höhle ein wenig zu erkunden? Wenn Elisabeths These stimmt, dann sollten uns dort drinnen nicht viele Gefahren erwarten, oder? Zumindest hab ich noch nie gehört, dass sich drei Freundinnen in einem Berg verloren haben und nie mehr wieder aufgetaucht sind!«




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