3. Nachtwanderung
"Glück und Unglück wandern auf einem Steg."
»Rosalie, bitte schieb jetzt kein Drama. Lasst uns lieber darüber sprechen, welche Dinge wir mitnehmen ... oder fürs Erste zurücklassen müssen«, fasste Antonia sogleich die Lage mit einem Tonfall zusammen, der so scharf wie der kalte Winde im aufziehenden Sturm erklang.
Scheinbar gelassen trommelten ihre Finger immer wieder auf das beschlagene Glas des Autofensters herab, doch in den dumpfen Bewegungen schwang nichtsdestotrotz eine kaum greifbare Anspannung mit.
»Geldbeutel, Handy und Schlüssel - auf jeden Fall die Basics!«, schlg Elisabeth ihrerseits vor, ohne den Blick von dem Unwetter abzuwenden, das sich wie ein träge wogendes Meer am Horizont aufbauschte.
»Und natürlich warme Sachen. Auf'ne Blasenentzündung kann ich echt gut und gerne verzichten", mischte sich Rosalie nun mit ins Gespräch ein, die wohl ihre vorherige Aufregung auf einen Schlag vergessen zu haben schien.
Keine Minute verstrich, ehe das Trio sein geplantes Vorhaben in die Tat umsetzte: Nämlich in den gepackten Taschen nach brauchbaren Utensilien zu stöbern. Sowohl Rosalie als auch Antonia hatten sich in aller Eile ihre Jacken und Mäntel geschnappt und schnell über die zitternden Schultern gestreift.
Elisabeth, die sich zu ihrem ausgesprochenem Leidwesen mit einem schwarzen Strickschal begnügen musste, seufzte kurz laut auf, ehe sie das kratzige Bündel notdürftig um den Hals schlang.
Nicht unbedingt das Gelbe vom Ei, aber besser als nichts, dachte sich die Brünette, ehe sie flink ihre Handtasche schnappte und sich zu ihren beiden besten Freundinnen gesellte. Auf beider Mienen spiegelte sich eine sichtbare Aufbruchstimmung wider.
»Fehlt noch was?«, fragte Elisabeth leise in die düstere Stille hinein, hielt aber ihren Blick weiterhin fest auf ihre Kumpaninnen gerichtet. Antonia, die sich ein paar lose Strähnen aus dem Gesicht strich, zögerte für einen Moment, bevor sie schließlich zum Reden ansetzte.
»Definitiv Wasser. Und ... Taschenlampen. Man weiß ja nicht, welche bösen Überraschungen dort draußen auf uns lauern können.«
»Mit Ersterem kann ich auf jeden Fall dienen«, zwitscherte Rosalie fröhlich auf, bevor sie sich Kopf über in den Kofferraum stürzte, für einen langen Moment in ihrem Koffer herum kramte und schließlich jeder Freundin stolz eine Flasche in die Hand drückte.
»Seht ihr? Da zahlt sich doch mein Trinkpensum mal wirklich aus. Hättet ihr nicht gedacht, was?«
Augenverdrehend begab sich Antonia sogleich in Richtung des Fahrersitzes, in dessen unterem Fach sie stets die wichtigsten Dinge für eine vermeintliche Panne lagerte. Wenige Minuten später tauchte die Rothaarige bereits wieder mit dem erbeuteten Fang auf der Bildfläche auf.
Ohne sich nur einmal umzudrehen drückte die junge Frau den Knopf ihres Autoschlüssels, woraufhin sich die Türen mit einem metallischen Klicken von selbst verriegelten.
»So, meinte Antonia, während sie den Schlüssel in ihre Tasche stopfte, die Taschenlampen verteilte und schließlich auch die mitgebrachte Karte wieder ausbreitete und in die Höhe hielt. »Hat jetzt jeder seine sieben Sachen? Dann sollten wir besser los, bevor wir hier noch Wurzeln schlagen.«
Unlängst knipste Elisabeth ihre Taschenlampe an, woraufhin der aufleuchtende Lichtkegel die hiesige Dunkelheit sogleich wie ein scharfes Messer schnitt. Rosalie und Antonia folgten in Windeseile ihrem voraus gegangenen Beispiel und erhellten somit zu gleichen Teilen die überaus düstere Stimmung.
Ein langer Moment der Stille zog ins Land, ehe sich die drei Freundinnen ermutigend zunickten und sich schließlich in Bewegung setzten.
Antonia, die mehr oder weniger die Landkarte hoch hielt, wies lautstark den Weg und lotse die Truppe schon bald von der Straße weg und direkt in Richtung der weitläufigen Wiesenfläche. Elisabeth kam nicht ohnehin zu sehen, wie das nasse Gras unheilvoll im Schein der Taschenlampen glitzerte.
»Vorsicht, hier ist alles nass und matschig! Passt bitte auf, wohin ihr tretet!«, warnte die Brünette, während sie ihren wachsamen Blick zu aller Zeit auf das angepeilte Endziel, nämlich den angrenzenden Wald, gerichtet hielt. Schnell betrat die junge Frau das feuchte Grün, dessen gurgelnde Konsistenz sich unter ihren Füßen allerdings mehr wie wackliger Puddingschleim als begehbare Erde anfühlte.
»Tausend Dank, aber ich will lieber gar nicht erst wissen, durch welche Arten von Dreck ich waten muss«, meckerte eine sichtbar angeekelte Rosalie, die immer wieder den Kopf zur Seite schüttelte. »Super, jetzt ruiniere ich auch noch meine tollen Schuhe. Dreihundert Euro für nichts und wieder nichts!«
Antonia, die sich ihren Weg mit energischen Schritten zu bahnen versuchte, stieß schon bald ein lautes Seufzen, das tief aus ihrer Herzregion zu stammen schien, aus. »Ich mein ja nur ... Vielleicht hättest du ja bei dem verregneten Wetter auch im Vorhinein robustere Stiefel anziehen können. Deine silbernen Sneakers sind zwar ganz schick, aber nicht unbedingt praktisch.«
Rosalie starrte sie daraufhin finster an.
»Als hätte ich aus irgendeinem Grund wissen können, dass wir heute Nacht mitten im Nirgendwo stranden! «
Während die Zwei schnell in eine angeregte Diskussion über organisatorisches Vorausdenken verfielen, blieb Elisabeth hingegen still und suchte stattdessen mit ihren Augen das schlummernde Ödland ab.
Bisweilen ließ sich keine bedrohliche Gefahr aus irgendeiner Richtung wahrnehmen.
Dagegen fegten immer wieder heftige Windböen, stets begleitet von wolfsgleichem Geheule, vom grauen Himmel herab und wiegelten das umliegende Gras im melodischen Rhythmus auf und ab.
Fröstelnd zog sich die junge Frau ihren Schal halb über das Gesicht, damit ihre mittlerweile kalt gewordenen Wangen zumindest ein klein wenig Wärme erfuhren. Seufzend stapfte sie durch den schlicken Morast, sorgsam darauf bedacht, zumindest den größeren Löcher bestmöglich aus dem Weg zu gehen.
Nach wenigen Minuten, die sich aber eher wie Stunden anfühlten, erreichte die Truppe endlich die Grenze des Waldes. Aufmerksam ließ Elisabeth ihre Sicht durch das dichte Gehölz schweifen. Hier und da erklang ein Knacksen im Gebüsch und tierisches Geschrei, doch eine bösere Überraschung blieb bis jetzt zum Glück aus.
»Alles klar«, meinte Rosalie, um das anhaltende Schweigen allmählich zu durchbrechen, welches sich bislang wie schweres Geröll auf aller Launen niedergeschlagen hatte.
»Sehen wir's positiv. Die erste Etappe haben wir lebend erreicht. Jetzt kommt wohl der fabelhafte Abschnitt unserer streng geheimen Mission: Drei Freundinnen bewegen sich nachts allein durch einen Wald. Quasi eine All-you-can-eat-Einladung für jeden hier lebenden Serienkiller!«
»Ich weiß, die Situation ist nicht unbedingt ideal ... aber Augen zu und durch, oder?«, bemerkte Elisabeth ruhigen Tonfalls, während sie mit ihrem Fuß einen kleinen, unschuldigen Stein weg kickte.
Rosalie, die den Kopf nun in den Nacken gelegt hatte, seufzte hörbar laut auf.
»Also schön, setzen wir eben unsere Nachtwanderung fort. Aber wenn wir dabei draufgehen sollten, komm ich als Gespenst zurück und nerve euch bis alle Ewigkeit! Nur, dass ihr euch darauf schon einmal gefasst machen könnt!«
Einen letzten Blick austauschend, betraten die drei Freundinnen schließlich jenes Gehölz, in dessen bleierner Finsternis sich selbst die stärksten Schatten trollten.
Innerhalb der Düsternis offenbarten sich so manch am Tage verborgen gebliebene Dinge. Bekannte Umrisse wiesen schon bald fremde Konturen auf, einst vertraute Geräusche wie das Rascheln von Blätter ähnelten nun mehr schaurigen Naturmelodien.
Weiterhin tanzten flüsterne Windböen durch die kargen Baumkronen, sodass sich die dünnen Zweige stets zur Seite neigen mussten.
Ich liebe den Herbst Ich finde es herrlich, das Sterben der Natur zu beobachten ... bis sie sich im Frühling wieder erhebt, grübelte Elisabeth im Stillen nach, während ein modriger Geruch sogleich ihre Nase heimsuchte, hauptsächlich bestehend aus folgenden Komponenten: Feuchtes Laub, würzige Kräuter und verfaulte Pilze.
Auf dem erdigen Grund konnte ihr neugieriger Blick hingegen nasses Blattwerk, hagere Büsche und tiefschwarze Pflanzen ausmachen, deren Konturen weit in die Höhe ragten und dabei im hellen Lichte der Taschenlampen an schattenbehaftete Ölfiguren erinnerten.
Wäre dieser Gedanke allein nicht schon gruselig genug, so fühlte sich die junge Frau bei dem Anblick der herausragenden Wurzeln unweigerlich an lebendig Begrabene erinnert, die verzweifelt ihre Finger durch die Erde gruben und nach einer lang ersehnten Freiheit gierten.
Je tiefer sich die Freundinnen in den Schlund des Waldes begaben, desto öfter berührten herunter hängende Äste ihre Oberarme, strichen wie kalte Hände über die Kleidung und jagte ihnen nicht nur ein Mal eisige Schauder über den Rücken hinweg.
Lange dauerte es aber nicht, bis ein weiteres Ereignis an diesem denkwürdigen Abend geschah. Binnen weniger Sekunden durchbrach, wie aus heiterem Himmel ein markerschütternder Aufschrei die nächtliche Ruhemauer und ließ das Trio auf der Stelle vor Schreck zusammenzucken.
»Was... war das? Bitte sagt mir, ihr habt das auch gehört!«, fluchte Rosalie wie ein Rohrspatz auf, ehe sie geschwind eine seitliche Stellung einnahm und eine Hand auf die Hüfte legte. Ganz so, als wollte sie sich geradewegs auf einen Schwertkampf vorbereiten.
Elisabeth ließ daraufhin ein schiefes, aber leicht spöttisches Grinsen aufblitzen.
»Sei beruhigt. Das Geräusch klang definitiv nach einem ein Uhu. Ein kleiner, unschuldiger Nachtvogel. Du hast also nichts zu befürchten.«
»Ein Uhu?«, keuchte Rosalie, ehe sie sich genervt die Schläfen massierte. »Warum zur Hölle machen diese Biester so einen Krach? Ich hab fast einen Herzinfarkt bekommen! Gott, ich bin als zertifizierter Stadtmensch einfach nicht für die unverfälschte Natur geschaffen. Habt doch daher bitte Nachsicht mit mir und meinen armen Nerven.«
Auf der Stelle verfielen die anderen Zwei in ein glockenhelles Auflachen.
»Schön zu sehen, wie mein Leiden euch erheitert. Tolle Freundinnen habe ich mir da ausgesucht«, maulte die Blondine, doch ihre zuckenden Mundwinkel straften dabei den voraus gegangenen Worten durchaus Lügen.
»Ach, stell dich nicht so an, du Baby. Ist uns, bei allem was heute passiert ist, nicht ein wenig Erheiterung vergönnt?«, scherzte Elisabeth, ehe sie sich ein spielerischen Rippenstoß von der Blondhaarigen einfing.
»Naja, mit einem Uhu kann ich leben. Viel mehr fürchte ich mich vor Wölfen...«, holte Rosalie weiter aus, während sich der Schleier der Unruhe langsam aber sicher auf ihrem Gesicht breit machte.
»Wegen Wölfen brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. In der Regel meiden diese Tiere jede nur möglich Begegnung mit Menschen. Höchstwahrscheinlich haben die mehr Angst vor dir als du vor ihnen!«, erläuterte Antonia gelassen, während sie versuchte, gerade einem besonders tief hängenden Zweigen auszuweichen.
»Tatsächlich?«
»Tatsächlich!«
Elisabeth, die zur gleichen Zeit ein erbittertes Gefecht mit einem dornigen Gestrüpp, welches sich in ihren Haaren verfangen hatte, austrug, kleidete daraufhin ihre eigene Unruhe in entsprechende Worte ein.
»Ich hab ja eher vor streunenden Wildschweinen einen Heidenrespekt! Diese Viecher können richtig garstig werden.«
Dank eines flinken Rucks befreite schließlich die Brünette ihre dunkeln Locken und warf sogleich, wie zur Bestätigung des Gesagten, die betroffenen Strähnen schwungvoll auf ihren Rücken zurück.
»Gefährliche Wildschweine, sagst du? Jetzt übertreibst du aber«, warf Rosalie sogleich verwundert ein und blinzelte dabei ein paar mal. »Die sind doch... süß?«
»Süß?« Elisabeth lachte dunkel auf. »Ja, klar. Bis so ein Tier vor dir steht, dich mit seinen Hauern aufspießt und quer durch den Wald zieht. Glaub mir, gerade den Bachen mit ihren frisch geborenen Babys willst du nicht über den Weg laufen. Zumindest nicht ohne eine schusssichere Waffe.«
Rosalie blieb sofort und mit einer erschrockenen Miene an Ort und Stelle stehen.
»Okay, eine Begegnung mit Wildschweinen vermeiden ist somit offiziell notiert. Können wir jetzt bitte wieder in die Zivilisation zurückkehren, bevor uns dieser vermaledeite Wald doch noch am Ende mit Haut und Haar auffrisst?«
Antonia klopfte ihr daraufhin tröstend auf die Schulter.
»Keine Sorge, wir werden von den hier lebenden Tieren bestimmt als die größere Gefahr betrachtet. Lasst uns jetzt aber wirklich weitergehen. Die Nacht wird ja schließlich nicht jünger!«
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