1. Reise durch die Dunkelheit

"Abenteuer? Wenn wir sie suchen, finden wir sie nicht, aber wir finden sie immer, wenn wir sie nicht suchen."

Die Nacht hatte mittlerweile ihre breiten Schwingen über die Landschaft gelegt, sodass nur noch ein blasses Restlicht des vorüber gegangenen Tages am schummrigen Horizont hing. Lediglich das stetige Brummen des Motors durchbrach hier und da die abendliche Stille.

»Warum können wir nicht immer Urlaub haben?« seufzte Rosalie genüsslich von der Rückbank, reckte sich dabei wie eine Katze, die es sich gerade auf einem sonnigen Fensterplatz bequem gemacht hatte. »Ich meine, stellt euch das mal vor - Entspannen, gutes Essen und Wellness. Das Leben könnte wirklich so schön sein!«

Elisabeth, die auf dem Beifahrersitz saß, lachte leise vor sich hin, während ihr Blick weiterhin auf der vorbei ziehenden Landschaft geheftet blieb.

»Ja, die Schokoladenmassagen waren wirklich erste Klasse. Ich mich beim Einwirken gefühlt als würde ich regelrecht auf Wolken schweben.«

Anerkennend nickte Rosalie ihr zu.

»Kann ich gut verstehen. Diese Massagen haben es aber auch in sich gehabt. Definitiv aller erste Sahne.«

»Oh, und diese wunderbaren Duftöle!" brachte nun Antonia, die Fahrerin des ruckelnden Wagens, gleich darauf ihre eigene Meinung mit ins Gespräch ein. Immer wieder atmetet die junge Frau in tiefen Zügen ein und aus, ganz so, als ob sie versuchte, den besinnlichen Geruch von Lavendel vor ihrem geistigen Auge herauf zu beschwören.

»Schade, dass der Urlaub schon wieder vorbei ist«, seufzte Rosalie, unfähig, die verspürte Sehnsucht aus ihrem Stimmklang zu verbannen, »aber ich will mal nicht so sein. Wenn ihr mich fragt, besteht aber für diesen Ausflug  ein unbedingter Wiederholungsbedarf!«

»Oft gebe ich dir nicht recht, aber dieses Mal muss ich dir echt in allem zustimmen«, pflichtete Antonia ihr sogleich mit bekräftigenden Tonfall bei, woraufhin sich die zwei Freundinnen schon bald in einem angeregten Gespräch über die vergangene Zeit wieder fanden.

Elisabeth, hingegen, ließ derweilen ihren Blick über die umliegende Landschaft hinweg schweifen.

Unter dem kalten Licht des Vollmonds, der über ihnen wie ein fahles Auge am Himmel hing, glommen die Wiesen in einem fast schauderhaften Schwarz.

Fast so, als wären die weiten Flächen jeglichem Leben und Farbe beraubt worden. Vereinzelt standen dort knorrige Birken, deren Äste sich wie verkrümmte Arme in die Luft reckten. All jene Blätter, die sich der mächtige Herbstwind noch nicht unter die Fingernägel hatte reißen können, wiegten sich unter dessen Druck unruhig hin und her.

Dort, wo die Wiesen und Felder ineinander übergingen, begann bei genauerem Hinsehen ein düsterer  Forstwald, der im Mondlicht gespenstische in die Höhe aufragte und allzeit einen silbernen Schimmer abwarf. Seine Bäume, die in ihrer Masse ein undurchdringliches Meer bildeten, erinnerten Elisabeth schlagartig an den Anblick eines schlafenden, aber nichtsdestotrotz am Leben hängende Biests.

Hinter dem dunklen Grün erhoben sich majestätische Berge, ein Anhöhe scheinbar größer als die andere.

Immer wieder warf der strahlende Mond einen kühlen Schein auf jene Serpentinen, die sich wie unebene Narben tief in die begehbaren Bergflanken gegraben hatten und gleichfalls in schwindelerregende Höhen verliefen. Auf den Wipfeln tummelte sich des Weiteren ein dicht gesponnener Nebel, der natürlich kaum einen Blick auf die dahinter verborgenen Spitzen zuließ.

Gerade als sich Elisabeth von der vorbeiziehenden Landschaft abwenden wollte, traf ihr Blick für einen kurzen Moment auf den glänzenden Seitenspiegel, von dessen Oberfläche ihr das eigene, leicht herzförmige Gesicht entgegenstarrte. Unauffällige Züge, braune Locken und zwei stechend grüne Augen durfte sie zwar ihr eigen nennen, doch im Insgeheimen hatte sie noch nie einen sonderlich großen Wert auf ihr Erscheinungsbild gegeben.

Kopfschüttelnd richtete die junge Frau ihren Fokus wieder auf die Straße aus und verlor sich dabei schon bald im Anblick der regelmäßig aufblitzenden Leitpfosten. Wenige Augenblicke verstrichen, bevor Rosalies quenglige Stimme sie unweigerlich aus dem Reich der Gedanken zurückholte.

»Wie lange brauchen wir eigentlich noch bis nach Hause?«

Ohne Zögern ließ Antonia ihre grauen Iriden auf das an der Armatur angebrachte Navi fallen, ehe sie ihren Kopf abwägend zur Seite neigte. Ihr rotes Haar, kurz aufgewirbelt durch die ruckartige Bewegung, fiel ihr schließlich wieder glatt über die Schultern.

»Na, wenn die Fahrt weiter so gut läuft, dann noch ungefähr zwei Stunden. Aber warum die Eile? Hast du für heute noch etwas anderes geplant?«

»Hallo? Natürlich hab ich Pläne, du solltest mich eigentlich besser kennen!«, entgegnete daraufhin eine ziemlich pikiert dreinblickende Rosalie, die sich zur gleichen Zeit mit einer Hand durch das weiß-blonde Haare fuhr. »Ich bitte euch ... habt ihr vergessen, dass Michi heute wieder seine legendäre Halloween-Party schmeißt? Ich hab mir dafür extra ein wahnsinnig teures Kostüm besorgt!«

»Welches Gewand hast du denn dir gekauft?«, erkundigte sich Elisabeth neugierig, während sie sich ihren steif gewordenen Nacken, der wohl von der langen Fahrt herrührte, eiligst weg zu massieren versuchte.

»Ein sinnliches Werwolf-Kostüm...eng geschnitten...und mit Pelz besetzt, der sich um meinen perfekten Körper schmiegt..«, sinnierte die Blondhaarige gedankenverloren, als ob sie sich gerade im Geiste in jener erwähnten Kleidung eingehend betrachtete.

Um Haaresbreite wäre Elisabeth ein glucksendes Lachen entglitten, wenn sie sich nicht im rechten Moment fest auf die Zunge gebissen hätte. Auch Antonia schien sichtbare Schwierigkeiten zu haben, angesichts Rosalies unverhohlener Eitelkeit eine ernste Miene zu wahren.

»Klingt ja vielversprechend«, glückwünschte der Rotschopf augenzwinkernd und salutierte ihr, so wie ein General seine Soldaten begrüßte, mit der entsprechenden Handbewegung zu. »Aber feiere nicht zu hart, ja?«

»Ach, ihr könntet doch auch mitkommen!«, schlug Rosalie in Windeseile vor, ihre Stimme bebte vor sprühendem Enthusiasmus. »Ich sag's euch, diese Party wird echt ein Knaller. Die Musik, das Essen, die Kostüme - für jeden Geschmack ist da sicherlich was dabei!«

Bedauernd schüttelte Elisabeth den Kopf.

»Danke für die Einladung. Ich wäre wirklich gern dabei, mir fehlt aber leider das passende Kostüm. Nächstes Jahr, vielleicht.«

Ein Hauch Wehmut schlich sich in ihren Tonfall, als die Brünette daran dachte, wie sehr ihr die Verkleiderwei während der Halloween-Zeit schon immer gefallen hatte.

Von Kindesbeinen an liebte sie es, für eine Nacht in die Haut anderer zu schlüpfen und dabei die eigene Identität hinter einer Maske zu verstecken. In gewisser Weise offenbarte sie dabei wohl auch ein Teil ihrer Seele, denn die junge Frau hatte bereits vor langer Zeit gelernt, dass jegliche Tarnung einer Art Selbstporträt glich, die am Ende mehr über einem persönlich als über die dargestellte Figur erzählte.

Zudem imponierte ihr aber auch der ursprüngliche Gedanke vom Samhain. Gerade der altertümliche Glaube, dass an diesem Fest der Schleier zwischen Jenseits und Diesseits so dünn wurde, übte nach wie vor eine fast unheimliche Faszination auf sie aus.

Natürlich beruhte diese Überlegung auf ausgedachtem Humbug. Aber zur damaligen Zeit hatte bereits ein kleiner Funke des Aberglaubens genügt, um auf gleichgesinnte Geister über zu springen und deren Denkweisen in züngelnde Waldbrände zu verwandeln.

»Vielen Dank für diese nette Einladung, Rosalie, aber auch du solltest wissen, dass ich diesem Karneval-Zeugs nicht viel abgewinnen kann«, wehrte Antonia in Windeseile die Invitation dankend ab und konzentrierte sich stattdessen lieber auf die zu befahrende Landstraße.

Im Nu hüllte ein angenehmes Schweigen die drei Freundinnen in einen Kokon der Entspannung ein, eine unsichtbare Hülle, die natürlichen Schutz vor den draußen lauernden Gefahren bot.

Während Elisabeth mit allen Mitteln gegen den einsetzenden Schlaf kämpfte, bemerkte der noch wache Teil ihres Selbst, wie Antonia mit ein paar freien Fingern die eingebaute Musikanlage anschaltete. Nur wenige Sekunden später erfüllten bereits eine klangvolle Jazz-Musik die Luft und zauberte unlängst ein paar fein geschnittene Lächeln auf den Gesichtern der Frauen hervor.

Antonia warf schließlich einen Blick zur Seite, während sie eine langsame Kurve nahm.

»Und du, Elisabeth? Hast du noch Pläne für den Rest des Abends?«

Gähnend schüttelte die Angesprochenen den Kopf. »Ehrlich gesagt ... nicht wirklich. Ich will nur noch ins Bett fallen. Ein Kissen und eine Decke, das war's dann für mich.«

Seufzend pflichtete ihr die Rothaarige mit einem verständnisvollen Kopfnicken bei.

»Geht mir genauso. Muss morgen früh wieder in der Apotheke meiner Familie aufkreuzen. Darauf hab ich, ehrlich gesagt, sogar keine Lust.«

Rosalie, die bis eben in ihrer Fantasie geschwelgt hatte, stützte sich nun grinsend auf die Rückenlehnen ihrer Freundinnen ab.

»Oh ja, darum beneide ich dich wirklich nicht!«

Mitfühlend schüttelte die Blondine ihr Haupt, während sie Antonia mit musternden Augen von Kopf bis Fuß betrachtete.

»Aber wenn ich's mir recht überlege ... könnte ich mir auch Schlimmeres vorstellen.«

»Ja, zum Beispiel mein Büro - auch Höllenpforte genannt", knurrte Elisabeth verdrossen, deren bis dato empfundene Müdigkeit auf einen Schlag vom Winde verweht schien.

»Ich will gar nicht daran denken, wie viel Arbeit auf mich wartet. Vermutlich werde ich den kompletten Vormittag nur für die Abarbeitung meiner E-Mails brauchen.«

»So viel Arbeit wird dich bestimmt nicht erwarten. Denk positiv, dann wird alles anders kommen«, probierte sich Rosalie an aufmunternden Worten, doch leider biss sich ihr Bemühen alsbald die Zähne an dem verspürten Unmut der Brünetten aus.

»Oh, da kennt ihr meinen Chef aber schlecht«, lamentierte Elisabeth düster, während sie sich vor ihrem geistigen Auge einen fies grinsenden Herrn Grüner inklusive einem Stapel von unbearbeiteter Dokumente vorstellte.

Allein der Gedanke an die bösen Überraschungen, die er bestimmt für sie in petto halten würde, ließ ihren Körper auf der Stelle erschaudern.

»Ich kenne diesen Kasperle bereits von deinem Hörensagen, vielen Dank. Sag mal, hast du dir eigentlich jemals Gedanken über eine Kündigung gemacht? Du verdienst nicht schlecht, das ist wahr, aber ist das all den Stress wirklich wert?«, gab Antonia aufrichtig zu Bedenken, während sie den Wagen vorsichtig um eine scharf gebogene Kurve herum bugsierte.

»Ihr habt ja irgendwo recht, aber das Gehalt ist wirklich gut", murmelte die Befragte in die schwer wiegende Stille hinein, ohne dabei den abschätzenden Blicken ihrer zweier Freundinnen begegnen zu wollen.

Just fühlte sie sich wie eine Schwerverbrecherin, die Rede und Antwort gegenüber zwei regelgetreuen Polizisten leisten musste.

»Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, etwas Neues auszuprobieren. Immerhin hast du dir doch genug Erfahrung angeeignet. Das Einzige, was dir noch fehlt, ist ein Tritt in deinen Allerwertesten, damit du endlich dein Schneckenhaus vom Rücken wirfst!«

Rasch zogen sich Elisabeths Brauen zusammen, während diese im Insgeheimen über die gesprochenen Worte nachdachte. Im Grund genommen hatte Rosalie den Nagel auf den Kopfgetroffen, vielleicht sogar den Finger in die offene Wunde gelegt.

Was aber nicht hieß, dass sie diese zutreffende Feststellung laut applaudieren würde.

Ganz im Gegenteil.

»Also schön! Ich werde über euren Vorschlag nachdenken!«, gab die junge Frau schließlich nach, allerdings nur um Fragerei so schnell wie möglich zu beenden. Schließlich befand sie sich in den sterbenden Zügen ihres Urlaubs und wollte die freie Zeit bis zum bitteren Schluss genießen.

Erneut legte sich eine Stille wie eine kuschelige Bettdecke über das Auto nieder, deren Stofffasern allerdings schon bald durch ein »Himmelherrgott, nein!« seitens Antonia in tausend kleine Stücke zerrissen wurden.

Alarmiert drehten sich die Freundinnen zeitgleich zu der Fahrerin um, die in der Zwischenzeit die dudelnde Musikanlage ausschaltet hatte.

»Was ist los?«, wollte Elisabeth aufgeschreckt wissen, während sie die Hände demonstrativ vor der eigenen Brust verschränkt hielt.

»Hört ihr nicht auch dieses Geräusch? Ich glaube, es kommt von der Motorhaube!«, schnauft Antonia laut und angespannt, ganz so, als hätte sie gerade eben einen anstrengenden Marathonlauf absolviert.

Abwartend spitzte Elisabeth ihre Ohren, versuchte das Bewusstsein vollkommen auf den von Antonia beschriebenen Klang auszurichten. Nach wenigen Sekunde der absoluten Ruhe konnte auch die Brünette erstmals das unheimliche Krachen vernehmen.

Selbst sie, die nicht den leisesten Schimmer von Technik hatte, wusste, dass dieser Lärm mitnichten etwas Gutes verheißen konnte.

»Fahr mal zur Seite und leg dort schnell einen Stopp ein«, riet Rosalie der beunruhigten Fahrerin zu, die wiederum dem vorgebrachten Vorschlag ohne jegliche Klage folgte. Antonia fuhr schnell rechts heran, parkte das Auto am Seitenrand und schaltete zur Sicherung ihrer Leben die hell scheinende  Warnblinkanlage an.

In aller Eile schnallten sich die drei Freundinnen ab und verließen geschwind das stehende Gefährt. Mit flinken Fingern zog Elisabeth ihr Handy aus der Hosentasche und aktivierte die Taschenlampen-Funktion, damit sie in der kühlen Schwärze wenigstens die eigenen Hände vor Augen sehen konnte.

Gleißendes Licht blitzte auf der Stelle auf und drängte die aufgezogene Düsternis wenigstens ein Stück weit ins finstere Nichts zurück.

»Dank dir«, rief Antonia ihr lauthals zu,  »kannst du vielleicht gleich näher kommen und das Licht möglichst nahe an die Karosserie halten? Wir müssen unbedingt das Getriebe überprüfen!«

Elisabeth bejahte und tat wie ihr geheißen.

Ohne Umschweife öffnete der Rotschopf die Motorhaube, woraufhin dem Trio sofort eine stinkende Rauchwolke entgegen schlug.

»Herrjemine!«, prustete Rosalie, unfähig, nur ein weiters Wort des Erstaunens über ihre Lippen fließen zu lassen.

»Na, das kannst du aber laut sagen«, sprach Elisabeth ihre eigenen Gedanken mit hochgezogenen Augenbrauen aus, wirkte im Endeffekt genauso erschüttert wie ihre Kameradin.

»Das war's wohl«, gab Antonia entmutigt von sich, während sie die Schultern tief hängen ließ. »So können wir definitiv nicht weiterfahren.«

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