Ohne Worte (2/2)

Ivanka füllt gerade eine Kanne für uns; heißes Wasser fließt aus einem waschechten, alten Samowar durch das kleine Sieb, in das sie losen Schwarztee gelöffelt hat - da betritt Tua unvermittelt die Bildfläche. Er lehnt sich gegen den Türrahmen und beobachtet uns. Ich schaue kurz zu ihm auf, gleich nachdem ich die Porzellantasse entgegengenommen habe, die seine Mutter mir mit besonders ruhigen, geschickten Händen gereicht hat. Im Gegensatz zu ihr zittere ich ein bisschen und befürchte, das vermutlich teure, handbemalte Geschirr fallen zu lassen, aber ich mahne mich zur Konzentration, atme hörbar aus, während ich das schöne Stück auf der dazu passenden Untertasse abstelle. Sofort trifft mein Blick wieder Tuas und ich schenke ihm ein aufmunterndes Lächeln, das er zu meiner Freude sogar erwidert. Mir ist egal, dass es einen leicht melancholischen Touch hat. Wenn es ihm schlecht ginge, hätten seine Mundwinkel noch nicht einmal gezuckt. Mein Freund richtet sich auf, räuspert sich und sagt dann zu mir: "Er will dich sehen."
"Mich?", frage ich überrascht und werfe Ivanka einen Seitenblick zu, die ihren Tee mit einem winzigen vergoldeten Löffel umrührt.
Tua nickt.
"Ja, dich."
Ivanka sieht nun ihren Sohn an, der ein paar Schritte auf uns zugeht. Seine Hand schließt sich um meinen Oberarm und er haucht mir einen Kuss auf die Wange. Mit dieser Geste habe ich nicht gerechnet und ich denke, das hat Ivanka bemerkt, jedenfalls höre ich sie leise lachen. Als ich in ihr hübsches, junggebliebenes Gesicht schaue, funkeln ihre Augen schelmisch.
"Dann -" Ich versuche meine Verlegenheit zu überspielen und stehe auf. Weil Tua ohnehin genau vor mir stehengeblieben ist, lege ich eine Hand auf seine Brust. "Dann werde ich ihn nicht warten lassen", erkläre ich meinem Freund. "Allerdings waren wir gerade dabei, Tee zu trinken. Ich fürchte, da musst du eben für mich einspringen." Tua legt seine Hand über meine, hält sie einen Augenblick fest und schaut mir in die Augen, als er trocken antwortet: "Klingt ja schrecklich."
"Johannes", tadelt seine Mutter ihn prompt. Ich verstehe nicht, was genau er zu ihr sagt, aber ich schätze, klärt sie auf Russisch darüber auf, dass das nur ein Witz war. Bevor er sich zu ihr setzen kann, revanchiere ich mich bei ihm, ebenfalls mit einem Kuss auf die Wange. Das Lächeln, das er mir daraufhin schenkt, scheint mich auf dem Weg zu Kostjas Krankenzimmer zu begleiten. Es lässt mich die innere Wärme spüren, die ich gebrauchen kann, ehe ich erneut mit dem schleichenden Tod konfrontiert werde. Auf mein sanftes Klopfen hin, werde ich hereingebeten.

Kostja winkt mich einladend zu sich heran und deutet auf den Stuhl neben seinem Bett, auf dem bis vor kurzem noch Tua gesessen haben muss, unschwer zu erkennen an der leeren Kaffeetasse. Eigentlich hält er gut Ordnung bei sich und auch sonst überall, aber früher, immer wenn ich eine Kaffeetasse bei Universal weggeräumt habe, ist es seine gewesen, wie ich später festgestellt habe, weil ich bei ihm zu Hause nämlich das Gleiche erledigen durfte.
Ich sinke auf den gepolsterten Stuhl und sehe Kostja munter an, der nichts sagt, mich lediglich mustert ...
"Du wolltest mich sprechen?", starte ich einen zögerlichen Versuch, eine Konversation in die Wege zu leiten.
"Ja", bestätigt Kostja rasch. "Ja, wollte ich." Er hustet und ich spanne automatisch sämtliche Muskeln an, beuge mich leicht vor. "Es geht schon", versichert er mir aber und sieht mir so lange fest in die Augen, bis ich in eine entspanntere Haltung zurückfalle. "Iara, ich habe es weder meiner Frau noch meinem Sohn gesagt und ich werde es auch nur dir sagen, weil es ihnen schaden könnte, wenn sie es aus meinem Mund so deutlich hören." Tuas Vater richtet sich in seinem Bett auf, hustet, aber es lässt schnell nach. "Morgen werde ich wahrscheinlich sterben", verkündet er und ich halte den Atem an.
"Schon morgen?", hake ich ein. Meine Kehle ist völlig ausgedorrt.
"Morgen Mittag. Vielleicht auch erst am Abend, das weiß ich nicht genau. Aber ich spüre es in meinen alten Knochen. Der Schmerz hört auf, verstehst du? Wer nicht leidet, der nicht lebt." Tatsächlich bin ich nicht sicher, ob es sich bei seinen letzten Worten um ein echtes Sprichwort handelt. Es hört sich aber eins zu eins wie etwas an, das Tua sagen würde.
Kostja streckt einen Arm aus und ich nehme seine Hand, umschließe sie mit meinen beiden.
"Sind noch Vorbereitungen zu treffen?", frage ich ihn.
"Du hast es erfasst", lobt er mich und ich habe das Gefühl, endlich Väterlichkeit kennenzulernen. Es ist eine feine Nuance in seiner Stimme, die ich bei meinem eigenen Vater noch nie wahrgenommen habe. Kostja lächelt zufrieden. "Ich möchte dich auf ein paar Dinge vorbereiten."
"Mich?", wiederhole ich, was mich schon im Wohnzimmer hat stutzig werden lassen.
"Du weißt es wahrscheinlich noch nicht, aber du wirst auf lange, lange Zeit ein Teil der Familie sein, die ich nach meinem Tod zurücklassen muss. Ich habe mein Leben gelebt", sinniert er. "Und ich habe eine Bitte an dich, einen letzten Wunsch, wenn du ihn mir gestattest. Natürlich bist du frei in deiner Entscheidung darüber, ich nehme es dir nicht übel, wenn du ablehnst", beteuert er. Statt zu ihm zu sprechen, drücke ich bloß seine Hand. "Er will dich heiraten", sagt er.
Schlagartig rast mein Puls.
"Was?", bringe ich zittrig raus.
"Johannes wird dich heiraten. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, er will es unbedingt. Das letzte Mal, als ich ihn so habe reden hören, wie vor ein paar Minuten, als er es mir gesagt hat, hat er darüber gesprochen, dass er Musik machen will. Er hat gesagt, er muss es tun, um jeden Preis und ich habe nie daran gezweifelt, dass er es tun würde. Dann habe ich gesehen, wie er es getan hat. Und ich denke, er ist der Beste von allen geworden."
"Das denke ich auch", werfe ich heiser ein. Diesmal ist es Kostja, der meine Hand drückt.
"Wenn ihr also heiratet, denn das werdet ihr", prophezeit er, "nimm bitte seinen Namen an, Iara. Es wäre mir eine große Ehre."
Tränen rinnen über meine Wangen. Seit heute Morgen fühlt es sich innerlich sowieso an, als könnte ich gar nicht aufhören zu weinen.
"Mir wäre es eine noch viel größere Ehre", sage ich ihm seinen letzten Wunsch zu.
Kostja schließt die Augen und sinkt mit dem Rücken in das weiße Kissen, ein Lächeln liegt auf seinen Lippen.
"Schön", meint er. Wir schweigen eine Weile, bis er sein eines Auge öffnet. "Sprachlos?", fragt er mich mit einem spitzbübischen Grinsen auf den Lippen, durch das seine Züge plötzlich Ähnlichkeit mit denen seines Sohns annehmen.
"Ohne Worte", gebe ich zurück.

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