L-A-G-E-R-F-E-U-E-R-L-I-E-D

Tua hat sich auf eine Parkbank gesetzt, am Rande der Promenade. Noch immer kann ich ihn vom Strand aus sehen, viel weiter komme ich irgendwie nicht, obwohl ich wenigstens noch ein paar Meter allein spazieren wollte. Wenn er mal für einen kurzen Moment seine Ruhe vor mir braucht, dann verstehe ich das. Mir geht es schließlich manchmal ganz genauso mit ihm. Trotzdem ahne ich, dass ihn etwas stark beschäftigt und die Frage, was es ist, lässt mich nicht los. Ich schüttle kaum merklich den Kopf, lasse meinen Blick über das raue Meer streifen. Er sollte es mir sagen und ich bin sicher, das weiß er selbst am besten, deswegen dränge ich ihn nicht dazu. Wir haben riesige Fortschritte in diesem Urlaub gemacht, aber wenn man in Sachen Offenheit quasi komplett gegensätzlich gepolt ist, ist Kommunikation vermutlich nie ganz einfach. Am Anfang unserer Beziehung hatte ich nur grob im Gefühl, dass er die Dinge öfter in sich reinfrisst. Als sich das dann bewahrheitet hat, bekam ich selbst Muffensausen, sobald ich ihm wichtige Dinge erzählen musste. Trotzdem kann ich nicht behaupten, er wäre schuld daran, dass ich verschlossener geworden bin. Das hat nichts mit Schuld zu tun. Ich bin nach wie vor eine überdurchschnittlich offene Person, aber ich habe von ihm gelernt, erst bei mir selbst anzusetzen, mich gnadenlos mit meinen Problemen zu konfrontieren, obwohl es wehtut, ehe ich sie auf andere loslasse. Bevor ich ihn kennengelernt habe, habe ich viel Zeit daran verschwendet, Unannehmlichkeiten bloß auszusitzen. Man kann immer abwarten, bis es keine Rolle mehr spielt, aber persönliche Weiterentwicklung funktioniert anders.
"Okay, wie lange willst du noch hier stehenbleiben?", ertönt seine Stimme hinter mir und ich drehe mich zu ihm um. "Ich dachte, du wolltest am Strang spazierengehen und nicht hier Wurzeln schlagen", sagt er, nimmt eine meiner Locken und zieht verspielt daran.
Ich beiße mir in die Unterlippe, ehe ich ihm antworte: "Ich mache mir Sorgen um dich. Du hast doch irgendwas, Tua."
Seine Miene wird sofort trübselig und ich bereue augenblicklich, ihn darauf angesprochen zu haben. Ich wollte ihm doch seinen Freiraum lassen.
Mein Freund legt seine Hände auf meine Hüfte und überbrückt die letzte Distanz zwischen uns. In den Kuss legt er eine Menge Zärtlichkeit, um mich zu beruhigen, aber es klappt nicht wirklich. Wieso glaubt er, mich beruhigen zu müssen? Was ist denn bloß passiert?
"Bitte gib mir Zeit", fordert er leise, nachdem er sich von mir gelöst hat. "Ich weiß, du willst mir nur helfen, aber du hilfst mir schon, wenn du einfach nur in meiner Nähe bist."
"Du kannst mir alles sagen", murmle ich, lasse meine Stirn an seine gelehnt und schaue auf seine Lippen.
"Weiß ich", erwidert er. Seine Hand fährt in meinen Nacken, massiert dort die verspannten Muskeln und mir entwischt ein schwermütiger Seufzer. "Ich habe Hunger, lass uns was zu essen auftreiben", bitte ich ihn und ziehe mich zurück. "Mir fehlt der Döner auf dieser Insel - Nein, lass es." Ich nehme ihm entschieden die Schachtel Zigaretten weg. "Du hättest vorhin rauchen sollen, als du noch allein auf der Bank gesessen hast."
Tua zuckt gleichgültig die Schultern. "Sei froh, dass ich nicht Bartek bin, sonst würde ich dir jetzt 'ne Riesenszene machen."
Ich lächle und stecke die Packung ein. "Jap, bin froh, dass du nicht Bartek bist." Ich drücke ihm rasch einen Kuss auf die Wange und nehme seine Hand.
"Döner gibt's hier übrigens", informiert er mich.

Eine Viertelstunde später beiße ich genüsslich ins Falafel-Dürum, das ich mir bestellt habe und genieße den Ausblick von der Stehtischleiste am Fenster auf den Supermarktparkplatz. Wunderschöne Hässlichkeit.
"Hörst du die Musik auch oder bilde ich mir die ein?", quatscht Tua mich auf einmal von der Seite an. Er bildet sich die orientalischen Klänge nicht ein, ich überlege aber dennoch kurz, ihm vorzuspielen, er hätte nicht mehr alle Latten am Zaun.
"Du hast zu lange gezögert", durchkreuzt er meine Pläne. "Ich bin nicht verrückt, du hörst es auch."
Verdammt - "Na gut, ich höre die Musik, ich geb's ja zu. Woher kommt das?"
Tua deutet auf die Tür hinter der Theke, an der wir gerade bestellt haben. "Meine Nichte feiert ihre Hochzeit", beendet plötzlich der Mann mit Schnauzer, der uns bedient hat, unser Grübeln. "Hinten ist ein Raum, den wir für Feste vermieten. Die Party hat gerade angefangen", erklärt er.
"Aber dann müssen Sie doch mit ihrer Nichte zusammen feiern!", platzt es aus mir heraus.
Der Mann lacht, dabei zappelt der Schnauzbart über seiner Lippe. "Du siehst aus wie ein Hungerhaken, Mädchen, da konnte ich nicht anders." Oh je, habe ich etwa wieder abgenommen?
"Das täuscht", schaltet Tua sich ein und seine Aussage bewirkt zweierlei: Einerseits wirft der Besitzer des Dönerladens ihm einen wohlwollenden Blick zu, als wollte er Tua so stumm dafür loben, dass er gut auf mich achtgibt, andererseits jagt er meinen Verdacht, ich wäre vielleicht bloß noch Haut und Knochen, ohne es bemerkt zu haben, zum Teufel. Er kann wahrscheinlich besser beurteilen als ich, wie gesund mein Körper zurzeit ist.
"Wollt ihr mitfeiern? Kommt kurz mit hinter, meine Frau und der Rest der Familie hat eh für eine halbe Armee gekocht." Der Mann zwinkert uns zu.
"Nein, wir wollen wirklich nicht stören", winke ich höflich ab.
"Ich mein's ernst, kommt ruhig mit, ihr fallt gar nicht auf."
Ich wechsle einen Blick mit Tua, aber an sein Gesicht gleicht einer blanken Leinwand.
"In Ordnung", stimme ich zu. "Aber nur, wenn es keine Umstände bereitet?"
Der Mann lächelt freundlich und bedeutet uns mit seinen Gesten, ihm durch die Hintertür zu folgen.
"Du bist ja mutig", flüstert Tua mir zu, während wir einen schmalen, mehr schlecht als recht ausgeleuchteten Gang durchqueren. "Was meinst du? Wie hoch stehen unsere Chancen darauf, dass wir das hier überleben und der Typ nicht gleich seine Axt auspackt und uns durch seinen dunklen Partykeller jagt?"
"Witzbold", sage ich trocken. "Ich möchte mal wieder unter Menschen sein. Deine geliebte Einsamkeit in allen Ehren, aber nicht jeder hasst es, neue Bekanntschaften zu schließen." Trotzig strecke ich ihm die Zunge raus.
Die Musik wird mit jedem Schritt lauter. Sie klingt heiter. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen.
"Ich bin übrigens Murat", stellt sich der Kebap-Verkäufer vor, was ich durchaus angebracht finde, nachdem er uns gerade spontan zur Hochzeit seiner Nichte eingeladen hat.
"Ich bin Iara, das ist Johannes", übernehme ich das Reden.
Murat öffnet eine große Doppeltür, die in eine bunt geschmückte Halle führt. Blaue und rote Lichter tanzen vor unseren Augen. "Kommt rein, seid willkommen!"
Die Stimmung in dem Saal tobt, mindestens zwanzig Leute sind auf der Tanzfläche, unter denen unverkennbar die Braut hervorsticht. Ihr weißes Kleid ist über und über mit funkelnden Strasssteinen besetzt. Solche Applikationen würden Pari sicher gefallen, mir sind sie etwas too much. Nichtsdestotrotz strahlt Murats Nichte und ihre unbändige Freude färbt sofort auf mich ab. Tua würde es nie aussprechen, aber ich sehe ihm an, dass er die gute Laune der Hochzeitsgesellschaft aufsaugt wie ein Schwamm. Vorhin ist er noch misstrauisch gewesen, alle Muskeln waren angespannt, solange wir diesen Flur passiert haben, doch jetzt reißt seine skeptische Fassade ein und er wirkt um einiges lockerer. "Hinten steht ein Buffet mit Süßigkeiten!", berichtet Murat und schiebt uns in die entsprechende Richtung. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen allein beim Gedanken an leckere Mousse au Chocolat. Entschieden zerre ich Tua mit mir durch die Menge. "Lass mich mal los", lacht er. "Ich verspreche auch, dass ich dir kein Hindernis auf deiner Quest zur Entdeckung des Nachtischs sein werde."
"Und du tust gut daran", sage ich mit ermahnendem Unterton. "Leider muss ich dich trotzdem weiter mitschleifen, wenn ich dich in dem Chaos nämlich verliere, wie soll ich dich dann wiederfinden?"
"Hast du dich mal umgeguckt? Ich bin größer als alle anderen hier."
"Schon", bestätige ich ungeduldig. "Warum rechtfertige ich mich überhaupt vor dir? Ich liebe dich, ist doch normal, dass ich dich in meiner Nähe haben möchte."
Tua grinst und küsst mich. "Ich liebe dich auch."

Die ausgelassenen Feierwütigen um uns herum sind ohne Ausnahme allesamt nett und zuvorkommend. Ich habe selten eine dermaßen überbordende Gastfreundschaft von Fremden erlebt. Wir haben uns an einen Tisch gesetzt und werden gerade von Murats Frau ausgefragt. Wo wir herkommen, was wir von Beruf machen, was wir hier machen - "Um diese Jahreszeit!" Die Dunkelhaarige tupft sich den Schweiß mit einer Stoffserviette von der Stirn. Inzwischen haben Tua und ich unsere Rollen getauscht. Er unterhält sich mit den Leuten, erklärt, dass wir Urlaub auf Usedom machen, obwohl es ungewöhnlich ist, um diese Jahreszeit. Ich genieße es, in der Zeit schweigen und mich in der Atmosphäre schier auflösen zu können. So ehrliches, unverdorbenes Glück hat mich ewig nicht mehr erfüllt.

In der Nacht assistiere ich Tua mit der Handytaschenlampe, der es tatsächlich irgendwie schafft, ein Feuer in der dafür vorgesehenen Schale zu entfachen. Der Platz liegt leicht abgeflacht und versteckt neben einem der Bungalows. Die orangegoldenen Flammen lecken mit gierigen Zungen über das Holz, das wir vorhin im Baumarkt beschafft haben. Zufrieden stemmt Tua die Arme in die Hüften und bewundert sein Werk. "Du, Mann, haben große Feuertier gezähmt", imitiere ich einen Steinzeit-Menschen und Tua schmunzelt darüber. "Tut mir leid, dass die Decke kein Tigerfell ist."
"Tigerfell hin oder her, komm schon mit runter, du erkältest dich sonst noch", locke ich ihn zu mir auf den toten Baumstamm, der prima als Sitzgelegenheit fungiert. Mein Freund lässt sich das nicht zweimal sagen. Über uns funkeln die Sterne am indigo-blauschwarz getünchten Himmel. "Von all den Dingen, die Hannes mir über dich erzählt hat, hätte ich ihm das am allerwenigsten geglaubt", gestehe ich.
"Was?" 
"Dass du tatsächlich romantisch bist."'
Tua schlingt einen Arm um mich und zieht mich zu sich. "Kannste ma' sehen."
Ich lache glockenhell auf. "Oh Gott, bitte versuch nie wieder zu berlinern."
"Was denn? Soll ich lieber a bissle schwäb'sch schwätz'n?" Er piekst mich und ich weiche ihm lachend aus. "Bloß nicht!", warne ich ihn. Er besiegelt den darauffolgenden Frieden zwischen uns mit einem Kuss. "Hey", meint er zögerlich. "Das heute war cool. Ich wäre nie mit Murat mitgegangen, wärst du nicht gewesen."
Ich lächle und warte ab, was er noch sagen will, denn ich spüre, das da noch etwas kommt. Tua räuspert sich. "Hast du jemals darüber nachgedacht, zu heiraten?"
Mit einem langsamen Nicken überspiele ich die Enttäuschung. Ich habe gehofftt, er würde mir sagen, was ihn heute Morgen so runtergezogen hat. "Ja", gehe ich stattdessen auf seine Frage ein. "Ich könnte mir das vorstellen, aber das ist eine krasse Entscheidung. Wenn ich mal heirate, dann will ich, dass es für immer hält", spreche ich zu den Sternen und nicht unbedingt zu Tua.
"Geht mir genauso." Als ich ihn ansehe, werden die Konturen seines Profils vom glühenden Gelb der flackernden Flammen weichgezeichnet. "Was du heute im Wald gesagt hast ...", fährt er fort, "dass wir manchmal vergessen, wer wir eigentlich sind. Da steckt viel Wahrheit hinter."
"Ich hab's auch vergessen bei Universal", hauche ich fast tonlos. "Wahrscheinlich vergisst es jeder mal." Tua platziert einen Kuss auf meiner Stirn und ich kuschle mich automatisch an ihn. Das Feuer knistert warm. Ich fühle mich geborgen.
"Du bist noch so jung. Irgendwann wirst du wissen, dass das, was du in genau diesem Moment tust, das ist, was du machen willst. Vielleicht kommt dir die Kündigung vor wie ein Rückschlag."
Ich nicke. "Definitiv."
"Aber so darfst du das nicht sehen. Du hast alle Freiheit, dich auszuprobieren und zu entfalten; und egal, wohin dich das in nächster Zeit führt, ich bin da für dich."
Er verschränkt seine Finger mit meinen und ich sehe dankbar zu ihm auf. "Du bist ein guter fester Freund, wenn du dir Mühe gibst."
"Ist nicht sonderlich müßig mit dir. Ich wusste vorher auch nicht, dass es so leicht sein kann."

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