Am Kranze die Lichter

Tua und ich haben uns auf die Couch verzogen; der Rest meiner Familie ist in der Küche. Ihr Lachen säuselt bis zu uns herüber, aber so ausgelassen die Stimmung nebenan auch zu sein scheint: Ich bin froh, diese paar Minuten allein mit meinem Freund teilen zu können. Gerade habe ich ihm von meiner Nacht bei Bastian erzählt.
"Auf jeden Fall gut, dass du erstmal das Zeug entsorgt hast", meint er und trinkt einen Schluck schwarzen Tee.
Ich fahre mir durchs Haar. "Was soll das schon bringen? Am Ende erwische ich sie doch wieder, wie sie was ziehen oder einwerfen."
"Gib sie nicht auf", nimmt er Tarik und Bastian in Schutz. "Aber nimm es dir auch nicht so zu Herzen. Du kannst niemandem helfen, der deine Hilfe nicht annehmen kann."
Ich blicke auf unsere verschränkten Finger. Tua streichelt mit seinem Daumen über meinen Handrücken. "Ich habe das nie richtig ernstgenommen, nicht mal als Tarik unter anderem deswegen im Knast gelandet ist."
Er runzelt die Stirn. "Wie lang ist das her? Du musst doch noch super jung gewesen sein."
"Jung und naiv", murmle ich. "Ich lege das immer mehr ab. Vielleicht muss ich beide zur Drogenhilfe schleppen. Wenn's mit dem Entzug auf eigene Faust nicht klappt, bleibt mir ja nicht mehr viel anderes übrig."
"Dir?", lacht er kurz auf. "Iara, du bist nicht ihre Bewährungshelferin."
"Ich möchte ihnen aber helfen", beharre ich.
Tua schaut mich einen Moment lang einfach nur an. Er scheint zu überlegen. "Mit anzusehen, wie sie nach und nach immer tiefer sinken, muss schmerzhaft sein", versetzt er sich in meine Lage und ich nicke. Er zieht mich in seine Richtung und ich rücke freiwillig noch näher an ihn heran, bis er mich im Arm hält. "Ich weiß, es klingt furchtbar, aber wenn du abhängig bist, musst du erst den absoluten Tiefpunkt erreichen, um die Richtung wechseln zu können und der liegt bei jedem woanders. Sie steuern darauf zu und ich verstehe, dass dich das beunruhigt, aber glaub mir bitte, das ist exakt das, was sie dazu bewegen wird, endlich umzudenken."
"Was macht dich da so sicher?", frage ich ihn, denn er spricht aus tiefer Überzeugung, das ist ihm anzuhören.
Tua streichelt meinen Bauch. "Kurz nachdem ich Mascha kennengelernt habe, hatte ich eine Überdosis Speed. Sie haben mich ins Krankenhaus eingeliefert und ich dachte, ich sterbe auf dieser Liege, auf der sie mich reingeschoben haben. Am nächsten Tag bin ich aufgewacht und alles war anders. Ich fand's überhaupt nicht mehr geil, die Kontrolle über mich zu verlieren. Danach wollte ich mehr Macht über mich selbst, statt über andere. Deswegen habe ich zumindest dem Scheiß schon vor langer Zeit abgeschworen. Mich hat es eine Nahtoderfahrung gekostet. Ich wünsche Bastian und Tarik, dass sie die Reißleine früher ziehen als ich damals." Er legt eine bedeutsame Pause ein. "Aber jeder muss seinen persönlichen Endpunkt erreichen. Das ist etwas, das du ihnen nicht abnehmen kannst."
Tatsächlich hatte ich sowas Ähnliches schon vermutet. Keiner seiner Songs kommt schließlich von ungefähr. Dennoch bin ich baff, dass er mir davon erzählt. Das ist ein weiterer Vertrauensbeweis erster Güte. Wir werden unterbrochen, als Henry und Carrie das Zimmer betreten.
"Hey, stören wir?", lächelt meine Schwester.
"Nein", antworte ich. "Ich wollte mich nur gerade bei Tua bedanken, weil er mir was Wichtiges erzählt hat." Eine Hand lege ich an seine Wange, während ich ihm einen Kuss auf die andere hauche.
"Dann hat sich zwischen euch alles geklärt?", will Henry wissen.
Tua schweigt, er überlässt anscheinend mir das Reden. "Ich denke schon", erwidere ich.
"Was macht ihr über Silvester?", wechselt Carrie prompt das Thema.
"Wir fahren zu meinen Eltern", bringt er sich nun doch in das Gespräch ein.
"Oh, cool", lächelt meine Schwester. "Aber auch ein bisschen schade, ich hätte dir sonst angeboten, mit uns zu feiern. Marten hat letztens nach dir gefragt."
Als sie seinen Namen erwähnt, schleicht sich erneut ein Lächeln auf meine rot geschminkten Lippen. Marten ist noch so eine Bruder-Figur in meinem Leben. Er ist Carries bester Freund und hat oft auf mich aufgepasst früher, als wir noch alle in Marzahn gewohnt haben. "Grüß ihn ganz lieb von mir, ja? Ich würde gern mal wieder mit euch rumhängen", gebe ich zu, denn Marten, vor allem aber auch Ben, ein weiterer Kumpel von Carrie, fehlen mir.
Sie nickt und nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse, in der vermutlich Glühwein ist. "Melde dich", zwinkert sie mir zu.
Henry stupst Carrie an und deutet auf sein Handy. "Das sind meine Eltern, was dagegen, wenn wir kurz mit ihnen facetimen?"
Carrie sieht mich fragend an, also winke ich schnell ab. "Macht mal. Wollen wir Mama und Thoralf Gesellschaft leisten?", wende ich mich an Tua.
"Na los." Er schiebt mich von sich runter und manövriert mich gekonnt durch den Flur, bis ich genau vor meiner Mutter stehe.
"Na, Kind", grinst sie schelmisch und ihre grünen Augen, die ich von ihr geerbt habe, funkeln dabei.
"Na, Mutti", begrüße ich sie ebenfalls und umarme sie dann.
"Schön, dass ihr da seid", beginnt Thoralf eine Konversation mit Tua.
"Essen ist gleich fertig", informiert Mama uns und wendet sich an meinen Freund. "Ich hoffe, du hast ordentlich Hunger mitgebracht, Johannes, wir haben ein vegetarisches Rezept von Iaras Oma ausprobiert. Es gibt Feijoada."
"Ihr habt Vovós Feijoada gekocht?", blinzle ich ungläubig.
"Das war ich", wirft Thoralf ein. "Ich hatte gestern ein bisschen Zeit und habe den ganzen Tag in der Küche gestanden."
"Der Eintopf schmeckt köstlich", versichert Mama ihm und beginnt im Anschluss daran Tua ausführlich zu erklären, dass Feijoada ein brasilianischer Bohneneintopf ist, den man üblicherweise mit Fleisch zubereitet, dass Vovó das Rezept aber für mich abgeändert hat, weil ich als Kind nicht so auf Schweinefüße stand. (Und es eigentlich bis heute nicht tue.)
Die beiden unterhalten sich so ungezwungen, dass ich mich zu meinem frischgebackenen Stiefvater stelle. "Wie ist dein neuer Job?", fragt er mich.
"Oh, gut", beantworte ich seine Frage. "Das Arbeitsklima ist wesentlich besser dort und die Bezahlung ist auch etwas angemessener als bei Universal. Sag mal", besinne ich mich plötzlich, "als was arbeitest du nochmal? Ich glaube, ich habe dich das noch nie gefragt."
"Ich bin Controller bei einer Firma, die Waschmaschinen herstellt. Sozusagen der Chef der Buchhalter dort."
"Macht dir das Spaß?", frage ich ihn skeptisch.
"Ich mochte Zahlen schon immer und meine Kollegen sind sehr nett", lächelt er. "Du auch?" Er deutet auf den Topf, in dem der Glühwein warmgehalten wird.
"Nein, heute nicht", lehne ich ab.
"Zu viel gefeiert die Woche?", spottet er liebevoll.
Lachend schüttle ich den Kopf. "Ich bin in der Regel diejenige, die versucht auf ihre Freunde aufzupassen. Autoschlüssel wegnehmen, nach Hause bringen, Trost und Umarmungen verteilen ..."
"Das war ich auf Partys auch immer, als ich noch auf welche gegangen bin."
"Kann ich mir vorstellen, du wirkst wie so jemand."
"Ach", grinst er. "Ich hatte auch den ein oder anderen Absturz."
"Hört sich nach mir an." Ich proste ihm mit meiner Tasse Tee zu und er mustert mich. "Iara, du weißt, wenn du irgendwas brauchst, sei es Geld oder was anderes, du kannst immer fragen."
Ein warmes Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus. "Danke für eure Unterstützung."
Mama legt mir eine Hand auf die Schulter. "Also, Iara, aus Johannes kriege ich nichts raus, wann heiratet ihr?"
"Mama." Vorwurfsvoll schnalze ich mit der Zunge. "Aus mir kriegst du auch nichts raus, vergiss es."
Thoralfs Augen werden groß. "Seid ihr verlobt?"
"Nein, nein", beschwichtige ich ihn. "Mama hätte mich bloß gern unter der Haube. Sie hat schon auf eurer Hochzeit davon angefangen."
"Denk an deine Zukunft, Engel. Ich will nicht alt und faltig sein, wenn ich mich für deine Trauung in Schale werfe."
"Alt und faltig", höhnt Thoralf, was meiner Mutter einen empörten Laut entlockt.
Unbemerkt von den anderen bewege ich mich zurück zu Tua. "Wann heiratest du mich?", stoße ich ihn neckisch in die Seite.
"Wenn ich weiß, dass es auf jeden Fall hält", erwidert er.
"Wie gut bin ich darin, mich zu verkaufen?", frage ich ihn weiter aus.
Er legt beide Arme um mich und hält mich vor sich, platziert einen Kuss auf meinem Hals, auf dem sich direkt eine leichte Gänsehaut bildet. "Zu gut, ich versuche noch herauszufinden, wo der Haken liegt."
"Es gibt keinen. Wenn du dich benimmst, werde ich dir nicht unbequem."
"Dito." Tua drückt mir noch einen Kuss auf die Lippen, ehe er mich freilässt. "Ich geh kurz eine rauchen."
"Klar, nimm dir den Moment für dich", schicke ich ihn fort und streichle noch einmal über seine Brust. "Mama, brauchst du Hilfe mit dem Essen?"

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