87. Gewitterwolken und Ärztekittel
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„Gott sei Dank", entfuhr es Maria, als sie im Haus auf den Klippen endlich wieder das vertraute Motorengeräusch des knallroten Ferraris vernahmen und auch Henry schien sich auf der Stelle wieder ein wenig zu entspannen. Es war nun fast drei Stunden her, dass Tom ohne ein weiteres Wort aus dem Haus gestürmt und davongefahren war und seither hatten die zwei treuen Angestellten nicht aufgehört, sich Sorgen zu machen. Es kam schließlich auch nicht alle Tage vor, dass ihr junger Chef einfach so die Flucht ergriff. Obwohl, einfach so war er ja nicht verschwunden. Man sah ihm jedes Mal an, wie sehr es ihn schmerzte, wenn das Gesprächsthema wieder auf Adara fiel. Oder auf alles, was auch nur im Geringsten mit ihr zu tun hatte. Wie die Aquamarine. Selbst das Haus auf den Klippen, in welchem Tom, Henry und Maria sich nun rund um die Uhr aufhielten, schien dem jungen Mann Herzschmerz zu bereiten. Und Henry kannte dieses Gefühl nur zu gut. Als seine Elaine gestorben war, war es ihm schließlich nicht anders ergangen. Es war ein einengendes Gefühl, man war so hilflos und allein, lebte zwar weiter jeden Tag und versuchte, das Beste daraus zu machen und sich nicht anmerken zu lassen, dass man nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Man ging durchs Leben wie durch einen Traum, als hätte die Erde ihre Schwerkraft verloren und mit ihr alle Schönheit und Freundlichkeit. So hatte es sich damals angefühlt. Kalte Leere an einem brütend heißen Sommertag. Nun war es Ende Oktober und das Wetter an der Küste spiegelte beinahe perfekt die Emotionen des Haushaltes wider. Die Meiste Zeit war der Himmel grau und wolkenverhangen und der Wind peitschte durch das garstig lange Strandgras, das überall wucherte. Licht gab es nur spärlich, denn die Sonne hielt sich verborgen hinter der Wolkendecke und wenn es einige wenige, mutige Sonnenstrahlen dann doch schafften, sich ihren Weg auf die Erde zu bahnen, dann waren sie matt und fahl, wenn sie bei ihnen ankamen und hüllten alles in einen seichten Schleier, der einem weißen Leichentuch gespenstisch nahe kam. Die See war aufgewühlt. Selten zogen Stürme heran und wenn, dann erschienen sie wie aus dem Nichts, wüteten eine Viertelstunde und lösten sich dann auf wie Badesalz in einer Wanne. Es war wie verhext und keiner von ihnen hatte solche Wetterphänomene je zuvor beobachtet. Es war in der Tat so, als kontrollierten Tom's Gefühle das Wetter, am besten erschien Henry noch der Vergleich mit einem pubertierenden Teenager, der wegen einer Kleinigkeit sein Zimmer verwüstete und sich dann ebenso schnell wieder beruhigte und wieder so tat, als wäre nichts geschehen. Bei näheren Überlegungen stellte er fest, dass es in diesem Sommer allgemein viele seltsame Wetterverhältnisse gegeben hatte. Allem voran war da der Jahrhundertsturm gewesen, der nicht nur in der Küstenregion erheblichen Schaden angerichtet hatte, sondern dessen Zerstörungskraft auch bis weit ins Landesinnere vorgedrungen war. Und dann, in den Hochsommermonaten, hatte sich der Ozean aufgeführt wie eine fauchende, beißende Katze. Zu hunderten waren Fracht- und andere Schiffe verschwunden wie im Maul eines großen Tieres und kein Wetterforscher hatte bisher die Ursache dafür herausfinden können. Und nun das. Auch wenn Henry sehr wohl wusste, dass es sich beim besten Willen nicht um einen Zufall handeln konnte, so fiel es ihm dennoch schwer, sich einen Reim aus der ganzen Geschichte zu machen. Mit Adara, diesem Nemico, Marlene und schließlich auch Tom. Es war so viel passiert in den letzten fünf Monaten und das alles zu rekapitulieren bereitete ihm Kopfschmerzen. Nicht daran zu denken, war aber ebenso unmöglich. Und schließlich gab es dann noch Dinge, die ihn mehr beschäftigten als das Wetter. Allem voran natürlich Tom, danach kamen die Aquamarine. Nach dem bahnbrechenden Erfolg der Cartier-Kampagne, für welche Fé ihr Gesicht zur Verfügung gestellt hatte, waren die Einladungen und Angebote zahlreich gewesen, die ins Haus geflattert waren. Adara sollte auf Modenschauen laufen, diese und jene Kollektion tragen, Leute treffen, Interviews geben, ihren plötzlichen Erfolg in Talkshows diskutieren – meistens war gleich noch eine Einladung für Tom mit dabei. Im Grunde sollte sie all das tun, wogegen sie sich anfänglich so vehement gesträubt hatte. Sie sollte Aufmerksamkeit in der Menschenwelt erregen. Jetzt, wo sie nicht mehr da war, ging das natürlich nicht mehr. Henry verschickte jeden Tag erneute Absagen und Entschuldigungen, während Tom die Einladungen mit einer Spur zur viel Jähzorn in Scherenschnitte verwandelte und sie draußen auf der Klippe dem Wind überließ. Manchmal wurden die unvollständigen Papierbögen hinaus aufs offene Meer getragen und flatterten wie Insekten wild durch die Luft, manchmal trug der Wind sie in die entgegengesetzte Richtung Landeinwärts und in ganz seltenen Fällen schossen sie erst senkrecht in die Höhe, bevor sie ebenso senkrecht wieder nach unten gezogen wurden und in den Klippen verschwanden. Dass Tom sich auf diese Weise des Altpapieres entledigte, störte Henry wenig. Worum er sich weitaus mehr sorgte und was ihn gleichzeitig dazu antrieb, jedes Mal mit Tom mit raus zu gehen, war die Möglichkeit, dass Tom sich aus Kummer selbst in die Tiefe stürzte. Aber das tat er nicht – zu Henrys großer Erleichterung.
Irgendwann kam dann der Moment, da Tom Tülay anrief und ihr mitteilte, dass er sich entschieden hatte, ihr Angebot anzunehmen und in der L.A.U.B. AG an neuartigen Heilmitteln zu forschen. Die Freude am anderen Ende der Leitung war selbst für Umstehende kaum zu überhören gewesen. Schon am nächsten Morgen hatte die junge Ärztin mit den utopischen Moralidealen dann auch schon auf der Matte gestanden, frisch fröhlich summend und mit Brötchen im Gepäck. Und einem weißen Ärztekittel, wie man ihn aus den Filmen kannte, der Tom aber zwei Nummern zu klein war und deswegen eher ausschaute wie ein leicht misslungenes Karnevalskostüm. Dass Tom sich dennoch nicht sonderlich über die Mitbringsel zu freuen schien, kränkte Tülay wiederum. Es war zum Haare raufen. Diese junge Frau lebte einfach in ihrer eigenen kleinen Welt und schien kaum zu merken, wie deplatziert die meisten ihrer Aktionen waren. Adara war kaum drei Wochen fort, Tom befand sich noch immer an einem dunklen, seelisch Abgrund und vollführte Tag für Tag einen inneren Drahtseilakt, der bestimmte, ob er sich weiterhin zusammenreißen konnte oder endgültig die Fassung verlor, Henry und Maria taten zwar ihr Bestes, um ihm ein Fels in der Brandung zu sein, doch an ihnen gingen die Ereignisse der letzten Zeit auch nicht spurlos vorbei und Tülay erwartete anscheinend ernsthaft, dass sie sich ein wenig mehr freuen sollten. „Es ist doch so ein schöner Tag!", flötete sie gerade, was Henry dazu verleitete, mit den Zähnen zu knirschen. Maria neben ihm hob nur skeptisch eine Augenbraue und war einen Blick aus dem Fenster. Die dicken, kniehohen Grashalme lagen fast waagrecht auf der Erde, so sehr drückte sie der Wind dorthin und in der Ferne sah man, wie hohe Wellen an den Klippen emporkletterten. Von der Sonne war wie üblich nichts zu sehen. Was daran bitte schön sein sollte, konnte sie beim besten Willen nicht erkennen, vielmehr sah es für sie aus wie der Anfang vom Ende und das Tor zur Hölle. Tom fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht und seufzte. „Danke für deine Mühe, Tülay." Weiter kam er nicht, denn die junge Frau hakte sich bei ihm unter und zog ihn zur Tür. Nicht nur Tom war verwundert über dieses Verhalten, aber zu perplex sich dagegen zu wehren. „Dann können wir ja los!", verkündete die junge Ärztin strahlend und warf sich ihren knöchellangen Regenmantel um. Mit den Kniehohen Gummistiefeln, die sie dazu trug und von welchen kaum mehr als die Fußspitzen zu sehen waren, sah sie aus wie eine überlebensgroße Dörrpflaume – in pink. Kurz darauf waren sie auch schon aus der Tür und gänzlich von der Bildfläche verschwunden. Das wiederholte sich nun immer öfter und in immer regelmäßigeren Abständen, bis Tom es sich schließlich tatsächlich zur Angewohnheit gemacht hatte, jeden Morgen aufzustehen und zur Arbeit nach Dublin hinunter zu fahren. Meistens aber alleine und ohne Tülay. Einerseits schien diese Art der Beschäftigungstherapie in der Tat zu funktionieren, andererseits machte Tom nicht wirklich den Eindruck, viel Interesse aufbringen zu können. Im Großen und Ganzen verbrachte er den ganzen Tag im Labor, extrahierte DNS, analysierte Blut- und andere Proben und stellte mit den anderen Wissenschaftlern – die bei weitem nicht alle Ärzte waren – Theorien auf, die waghalsiger kaum hätten sein können. Was ihm aber schon bald aufging, war die Tatsache, dass es offensichtlich mehrere Forschungsgruppen gab. Zum Einen gab es da jene, die sich wie er selbst mit den häufigsten Krankheitsbildern auseinandersetzten und bereits bestehende Medikament neu zu erfinden suchten, und zum anderen waren da noch die Leute, welche die meiste Zeit in separaten Laboratorien verbrachten – hinter verriegelten Türen ohne Fenster. Zu seinem größten Erstaunen gehörte Tülay zu jenen Leuten, die in ebendiese hochgesicherten Bereiche hinein durfte. Hätte man ihm diese Entscheidung überlassen, wäre Tülay wohl die letzte Person auf Erden gewesen, die einen Schlüssel für diese Zonen bekommen hätte. Und so vergingen die Tage etwas schneller als üblich und Tom dachte immer seltener an Adara, sodass sich sein Gemüt zumindest für die Hälfte des Tages ein wenig aufhellte. Mit seinen neuen Kollegen kam er zurecht, auch wenn keine wirkliche Freundschaft zwischen ihnen sprießen mochte. Er hielt die Leute eben gerne auf Armeslänge von sich fern und immerhin akzeptierten es diese Männer und Frauen – im Gegensatz zu Tülay, die sich immer an ihn herandrängte und langsam zu einer nur schwer zu ertragenden Qual wurde. Es wurde viel Diskutiert, hauptsächlich natürlich die Forschung und weniger über Privates, was Tom sehr entgegen kam. Dennoch kamen zwischendurch solch unangenehme Fragen nach seiner Freundin auf. Tom wurde dann immer ganz still, arbeitete wortlos weiter oder verschwand kurzfristig wie vom Erdboden. Den Schmerz in seiner Brust konnten wohl nur die wenigsten begreifen, aber das verlangte er auch gar nicht. Er wollte in Ruhe gelassen werden und seine Arbeit tun. Wie jeder andere auch. Dass er ein Right war, dass er mit Fé zusammen war – oder zusammen gewesen war – dass er reich, einsam und noch immer der Hauptverdächtige in einem auf unbekannte Zeit verschobenen Gerichtsprozess um den Mord an seiner Familie war, sollte hier, nein durfte hier keine Rolle spielen. Sie sollten ihn alle damit in Ruhe lassen. Das waren Dinge, die nur ihn etwas angingen und mit denen er alleine fertig werden musste. Da waren ihm die Gespräche über türkische Heilfische schon viel lieber. Im felsigen Hinterland der Türkei gab es eine Wasserquelle, die eine ganz besondere Fischart beheimatete. Die Wasserqualität und –zusammensetzung bildeten die Grundlage für ein weltweit einmaliges Ökosystem, in welchem Tiere und Pflanzen zwar spärlich aber beständig gedeihen konnten. Und genau diese Fische produzierten in ihrem Speichel ein Sekret, das die Wundheilung auf beinahe als magisch zu bezeichnende Art und Weise beschleunigen konnte. Schon viele Patienten mit Hauterkrankungen wie extremen Ekzemen hatten sich schon von den sogenannten Doktorfischen behandeln lassen und anscheinend war der Genesungserfolg überragend gut. Wo Hautärzte mit ihrem Latein am Ende waren, hatte Mutter Natur eine Lösung parat. Dass Tom dabei natürlich sofort an Fé und ihre Heilkünste hatte denken müssen, war kein Wunder gewesen. Dennoch interessierten ihn diese seltenen Fische sehr und als ihm Tülay einige Tage später steckte, dass sie einige Exemplare hier in Dublin in den Laboratorien der L.A.U.B. AG hatten, hätte Tom beinahe alles getan, um der zugehörigen Forschungsgruppe beitreten zu können. Doch das war nicht so einfach, wie ihm Tülay erklärte. Er musste sich gedulden und vielleicht könnte sie einige Dinge für ihn drehen und wenden, dass er bald mit ihr zusammenarbeiten könnte. Tom wusste nicht, ob ihn diese Neuigkeiten tatsächlich freuten. Mit Tülay zusammen zu arbeiten – und das acht Stunden am Tag plus gemeinsame Mittagspause, und wenn sie dann ebenfalls ununterbrochen redete... Er holte tief Luft und seufzte. Andererseits könnte er sich dann auf diese einzigartigen Fische konzentrieren. Die Frage war nur, ob es ihm das auch wert war.
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Okay, jetzt mal an alle Verschwörungstheoretiker:
Wie denkt ihr, hängen alle Ereignisse aus Mermaid Summer zusammen? (Ja, sie hängen alle zusammen ^^) Ich liebe es ja, eure Theorien zu hören und freue mich immer tierisch, wenn ich sehe, wie viel ihr nur aus dem Kontext herauslest (was mir beim Schreiben ja oft entgeht und ich dann erst beim Lesen eurer Kommentare merke ^^).
<3 <3 <3
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