53. Nachts

„Bitte bleib hier." Es war schon das zweite Mal, dass sie ihm gegenüber diese ungewöhnliche Bitte aussprach, die sein Herz vor Freude hüpfen ließen. Er schenkte ihr ein sanftes Lächeln, streichelte ihre Hand und blieb. Lange saß er einfach neben dem Bett, irgendwann zog er die Vorhänge zurück, dass sie den Sternenhimmel betrachten konnten und noch später, als Fé schon längst eingeschlafen war und auch Tom beinahe die Augen zufielen, legte er sich neben sie auf die Bettdecke. Das Letzte, worauf sein Blick fiel, bevor er ins Land der Träume abdriftete, war Fés vom Vollmond beschienenes Gesicht, das ruhig und wunderschön wie eine antike griechische Götterstatue nur Zentimeter von seinem entfernt auf dem Kissen lag. Sie hielt seine Hand noch immer und es machte ihm überhaupt nichts aus. Zum ersten Mal seit langem fühlte er sich endliche wieder wichtig. Nicht nur gebraucht, benötigt wie ein unentbehrliches Werkzeug, sondern geliebt. Und es war mit Abstand das schönste Gefühl überhaupt. Alle Lasten fielen schier von ihm ab, es fühlte sich an, als schwebte er auf Wolken und genauso schlief er dann auch endlich ein.

Mitten in der Nacht erwachte er. Orientierungslos blinzelte er in die Dunkelheit. Der Mond hatte sich dem Horizont genähert und kaum mehr Licht fiel durch das große Fenster über ihren Köpfen. Er spürte die Wärme, die von Fés Körper ausging, hauptsächlich weil ihre Hand, die seine noch immer hielt, schier glühte. Er schaute hinunter und erspähte tatsächlich einen dumpfen Schimmer, der von ihrer Hand ausging. Als hätten sie ein Glühwürmchen gefangen, strahlte schwaches Licht durch die Spalten zwischen ihren Fingern. Tom schaute wieder auf. Auf Fés Stirn saßen Schweißperlen wie tausend winzige Tautropfen und ihre Züge wirkten angespannt, schmerzverzerrt. Sie atmete stoßweise, fiel ihm nun auf. Vorsichtig setzte er sich auf, darauf bedacht, sie nicht zu wecken und holte einen Lappen aus dem Badezimmer, den er in kaltes Wasser getaucht hatte. Behutsam tupfte er Fés Stirn ab. Ihre Züge entspannten sich daraufhin ein bisschen, doch wirklich Abhilfe schien es nicht zu bringen. Dafür bemerkte Tom nun, dass der dumpfe Schien auch durch die Bettdecke zu dringen schien und endlich verstand er. Fés Körper versuchte sich selbst zu heilen, auch wenn ihm noch immer die Kraft dazu fehlte. Deswegen auch das Fieber. Innerlich tobte ein kräftezehrender Kampf zwischen Leben und Tod, der nur ganz langsam ausgefochten werden konnte. Aber immerhin geschah etwas. Tom hätte sich mehr Sorgen gemacht, wenn sich Fé's Zustand überhaupt nicht verändert hätte.

Adara wusste, dass sie träumte. Aber erneut war sie gefangen in dem immer gleichen Albtraum, der sie jede Nacht heimsuchte seitdem sie Nemico's Leben beendet hatte. Seltsamerweise war es nur eine schwache Abweichung des Traumes, den sie Monate zuvor schon gehabt hatte. Sie rannte noch immer durch die Dunkelheit eines Raumes ohne Wände, verfolgt von riesenhaften, stechend grünen Augen, die nun jedoch mitten in Nemico's geisterhaftem Gesicht saßen und vor Zorn nur so sprühten. Und wieder entflammte zu ihren Füßen wie aus dem Nichts ein Feuerring als hätte man Benzin auf dem Boden ausgeschüttet. Nemico's Lachen erklang. Rau und boshaft, obwohl Adara wusste, dass er für immer aus dieser Welt verschwunden war. In Ihren Albträumen war er so real wie selten zuvor. Der Mörder ihres Vaters lebte durch ihre Schuldgefühle in ihren Träumen und schlimmsten Gedanken weiter. Er schaute zu, wie sie in den Flammen verbrannte und legte eine gierige Freude an den Tag bei jedem ihrer verzweifelten Schreie, bis schließlich scheinbar rettend und gütig das Wasser rauschend heranrollte und die Flammen erstickten. Wie jedes Mal verschwanden Adaras Menschenbeine und ließen ihren Platz der schimmernden Schwanzflosse und wie jede Nacht merkte sie zu spät, dass sie in diesem Wasser nicht atmen konnte und zu ersticken drohte, weil es in Wahrheit gar kein Wasser sondern Blut war. Doch nun war sie nicht mehr alleine, stand nicht mehr bloß ihren Ängsten sondern auch ihrem größten Feind gegenüber. Nemico – diesmal in Lebensgröße – schwamm um sie herum, musterte sie und lachte über ihre kümmerlichen Versuche, ihr Leben zu retten. Sie zweifelte nicht daran, dass es sein Blut war, das ihr nun den Atem stahl. In ihren Ohren schallte sein hässliches Lachen.

Sie schrak aus dem Schlaf und fühlte sofort den unerträglichen Schmerz, der deswegen ihren ganzen Körper durchzuckte. „Schhh, ganz ruhig", flüsterte Tom neben ihr und wieder erschrak Adara fast und wieder durchfuhr sie stechender Schmerz. Tom tupfte ihre Stirn mit einem kühlen Lappen, eine wahre Wohltat, denn ihr Körper glühte regelrecht vor Hitze. Nur die Tränen, die sich ihren Weg in ihre Augen bahnten konnte sie nicht zurückhalten und auch ein Schluchzer nach dem anderen verließ ihre Kehle, ohne dass sie wirklich etwas dagegen hätte unternehmen können. Auch Tom bemerkte es und hörte auf, legte den Lappen zur Seite. „He, ganz ruhig, Fé. Ich bin hier. Dir kann nichts passieren", versuchte er sie zu beruhigen, doch irgendwie half es nicht wirklich. Ihre Kehle zog sich zusammen und erschwerte ihr das Luftholen, während ihre Lungen schier zu zerspringen drohten in ihrer zerschmetterten Bauchhöhle. Erst als sie spürte, wie Toms Finger sanft über ihre Wange streichelten, gelang es ihr, sich wieder unter Kontrolle ihrer selbst zu bringen. Er legte sich zu ihr, hörte nicht auf ihre Wange zu streicheln und flüsterte immer wieder, dass alles wieder gut werden würde. Adara biss sich auf die Lippen. Tom schob vorsichtig einen Arm unter ihren Kopf, küsste ihren Scheitel und streichelte unablässig ihre tränennasse Wange, bis ihre Brust aufhörte von den Schluchzern geschüttelt zu werden. „Ich habe etwas Schlimmes getan", brachte sie schließlich tonlos hervor und einen Moment lang reagierte Tom an ihrer Seite nicht. Aber dann fuhr er wie gehabt fort, ließ sie nicht los und stellte auch keine unnötigen Fragen und Fé war ihm unglaublich dankbar dafür. Andererseits hätte sie so gern mit ihm über alles geredet. Die Geschehnisse der vergangenen Monate nagten an ihr und ihr wurde mit jedem Tag, der verging klarer, dass sie aus eigener Kraft wohl auch nicht darüber hinwegkommen würde. „Siehst du die Sterne?", fragte er irgendwann und Adara drückte den Kopf noch stärker ins Kopfkissen, um durchs Fenster über ihren Köpfen blicken zu können. „Manchmal stelle ich mir vor, wie klein und unbedeutend wir aussehen müssen, wenn man so weit entfernt ist", flüsterte er. „Die Sorgen und Ängste, die wir jeden Tag mit uns herumtragen erscheinen so banal, wenn Milliarden von Lichtjahren entfernt ist." Er wandte sich zu ihr um, legte sich komplett auf seine linke Seite. „Es ist mir egal, was da unten passiert ist, Fé. Es verändert nicht das Geringste." Er sagte es mit einer derartigen Selbstverständlichkeit, dass Adara unvermeidlich lächeln musste. Er hatte nur leider nicht die geringste Ahnung, wovon er sprach. Es würde nichts zwischen ihnen verändern? Sie hatte einen Menschen getötet – beziehungsweise einen Meermenschen. Sie war eine Mörderin. Wie konnte das nichts ändern? Als eine erneute Schmerzwelle ihren Körper überrollte, verzog sie das Gesicht. Sie spürte Toms mitleidigen Blick auf ihr. „Versuch zu schlafen, Fé. Das hilft immer", riet er ihr und strich ihr übers Haar. „Ich träume noch immer von diesen schrecklichen Augen, Tom", erwiderte sie noch immer mit geschlossenen Augen. „Ich wünschte, ich könnte etwas dagegen machen. Wirklich", erwiderte er, ebenso leise aber mit einem tiefen Raunen, dass es Adara sämtliche Körperhaare aufstellte. „Ich weiß jetzt, wem sie gehören", fuhr sie fort, wagte es kaum, die Worte auszusprechen. Sie schaute Tom nicht an. Er erwiderte nichts, hörte ihr einfach zu und blieb so nah bei ihr, dass sie selbst durch die Daunendecke seine Körperwärme spüren konnte. Sie schluckte schwer, wusste nicht, wo sie anfangen, wo enden sollte. Tom schien es zu spüren. „Du brauchst mir überhaupt nichts zu erklären", raunte er. „Ich bin einfach nur froh, dass du wieder hier bist. Der Rest geht in Ordnung. Wirklich. Ich werde nicht über dich richten, egal was du getan hast, Fé." Und nachdem er das gesagt hatte, schienen die Worte so einfach auszusprechen, dass Fé unendliche Mühe hatte, sie zurückzuhalten, sich selbst nicht verbieten konnte, diesen Satz über ihre Lippen kommen zu lassen, dass sie in diesem Ringen um die Oberhand in ihren Gedanken schließlich verlor. „Ich hab ihn umgebracht, Tom."

Daraufhin herrschte Stille. Lange Zeit war nichts anderes zu hören als Toms Atemzüge, die einem Ringen um Fassung glichen, bis er schließlich endlich wieder sprach. „Du musstest es tun. Er hat deinen Vater umgebracht." Aber darüber war sich Adara eben noch nicht einmal im Klaren. Sie biss sich hart auf die Lippen. Wäre Nemico der Mörder ihres Vaters gewesen, hätte das Orakel doch noch vor der Krönung über ihn richten müssen! So verlangte es der Brauch! Alle Untaten mussten aus der Welt geschafft werden, damit eine neue Ära des Friedens und Eintracht beginnen konnte. „Es gibt so vieles, worüber ich mir überhaupt nicht mehr sicher bin", hauchte sie und war wieder den Tränen nahe. In diesem Moment zog Tom sie behutsam näher zu sich und flüsterte in ihr Haar: „Lass uns morgen darüber reden. Versuch jetzt zu schlafen, es wird dir gut tun, vertrau mir." Wieder jagte ein Schauer nach dem anderen über ihren Rücken. Toms Nähe, obwohl er sie kaum berührte und sie auf dem Rücken lag, war zum einen so seltsam ungewohnt, dass etwas tief in ihr sich hartnäckig dagegen sträubte, während ein anderer Teil, viel grösser und gewichtiger, es genoss, ja sich regelrecht dazu hinzog. Einerseits war Adara froh über diesen Aufschub, andererseits machte es sie nur noch nervöser. Was sollte sie Tom bloß sagen? Sie würde sich hoffnungslos in Widersprüche verstricken. Jetzt wäre es so einfach gewesen, ihm alles zu gestehen, nun, da die Worte ihren Mund auch ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis verließen. Würde sie morgen noch den nötigen Mut aufbringen, ihm de Wahrheit zu sagen? Die volle und nichts anderes als die ganze Wahrheit? Wie würde er wohl reagieren? Sie konnte seinen Herzschlag hören. Das regelmäßige Pochen in seiner Brust, die nur wenige Zentimeter von ihrem Ohr entfernt war. Durch das Fenster erhaschte sie einen Blick auf die Sterne und musste Tom rechtgeben. Wie klein und unbedeutend ihre Probleme wohl aus dieser Entfernung erscheinen mussten. Sie spürte Toms Atem auf ihrem Scheitel. Lange fragte sie sich, ob er wohl schon schlief, bis sie schließlich selbst in einen nicht sehr tiefen, dafür aber traumlosen Schlaf glitt. 

*****

Hallo meine Lieben! Ich bin wieder fleissig am Schreiben! (Yey ^^) Nun ja, irgendwe gefällt mir diese Kapitel nicht so gut, ich bin auch nicht so recht zufrieden mit dem nächsten... :/ Wie immer würde ich mich über eure Meinungen freuen, vielleicht kommt später noch ein Kapitel hinzu, mal schauen, ob ich heut noch fertig werde... 

Hab euch lieb :*

<3 <3 <3

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