49. Blutrache
Als sie endlich bei der schweren Tür zum nächsten Korridor angelangt war und bemerkte, dass diese gar nicht abgeschlossen war, kam ihr der Gedanke, dass ein wenig Tumult vielleicht doch nicht ganz so schlecht war. Also machte sie noch einmal kehrt, diesmal ließ sie allerdings ihre Lichtkugel hell leuchtend über ihrer Hand schweben. Auf der Stelle erklangen verwunderte Stimmen aus sämtlichen Zellen. „Seid ruhig!", flehte sie die Leute an. „Ich brauche nun eure Hilfe", sagte sie schnell. „Lasst uns raus, Prinzessin", jammerten und bettelten sie von allen Seiten und Hände aus Knochen und Haut verlangten nach ihr. „Das werde ich ja", besänftigte Adara sie. „Aber ihr müsst mir helfen. Richtet ein wenig Chaos an, verwirrt die Wachen, lenkt sie ab", erklärte sie, als sie eine Zelle nach der anderen aufschloss und dann so schnell wie möglich zurück zur Tür schwamm. Vorsichtig öffnete sie sie einen Spalt breit. Hinter ihr drückten sich hunderte Körper in der Dunkelheit, um bloß als erster die dunkle Hölle zu verlassen. Zu ihrer Erleichterung knarrten die Scharniere nicht. Die Tür glitt lautlos auf. Der Gang danach besaß kleine vergitterte Fenster hoch oben in den Wandmauern, durch die spärliches Licht fiel. Keine Wachen waren zu sehen. Warum auch sollte man einen Raum mit eingesperrten Leuten bewachen?, fragte sich Adara in Gedanken und schüttelte den Kopf. Die Nachlässigkeit des Wachpersonals – auch wenn es ihr zurzeit größter Vorteil war – war einfach unfassbar. Sie schwamm voran, mit schnellen, kräftigen Flossenschlägen peitschte sie das Wasser und glitt geschwind durchs Wasser. Hinter ihr folgte eine Schar gespenstisch blasser und abgemagerter Gestalten. Sie alle sahen aus wie unglückliche, die nach einem schlimmen Sturm ertrunken und mit den Füssen voran von riesigen Fischen angeknabbert worden waren. Fast schon grotesk erschien ihr der Übergang von menschlichen Hüften zu tierischen Schuppen.
Wieder stand er am Strand. Seitdem er sie im Traum gesehen hatte, stand er nun jeden Tag hier unten und betrachtete sie unruhige See. Mehrmals war er sogar schon mit dem kleinen Holzboot hinausgerudert, ungeachtet der Gefahr, die der hohe Wellengang mit sich brachte. Aber Tom war es egal gewesen, war es im Übrigen noch immer. Nur dort draußen, zwischen Himmel und Meer fühlte er sich ihr wieder nah, wenn der Sturmwind an seinen Kleidern riss und ihm die Haare um die Ohren schlug. Auch nun überlegte Tom wieder hinaus zu rudern. Die körperliche Betätigung tat ihm gut, besser als das stetige Herumsitzen und Nichtstun. Einen Tag nachdem er die Werkutensilien beordert hatte, war tatsächlich ein Lieferwagen vorgefahren, der allerdings erst von den Wachleuten gründlich geprüft werden musste, bevor er bis fast zur Haustür weiterfahren konnte. Tom war zufrieden mit den Sicherheitsleuten. Sie waren bei weitem fähiger als jene anderen, die das Attentat auf ihn und Fé nicht hatten verhindern können. Das Renovieren der oberen Räume hatte nur wenige Tage in Anspruch genommen, ihn aber entgegen seiner Hoffnung nicht im geringsten beruhigt. Es war eine nervenaufreibende Arbeit gewesen und trotz allen Bemühungen war die Erinnerung an die ehemaligen Hausbewohner – Fé eingeschlossen – einfach nicht gewichen. Jetzt, da er alles verändert hatte, schienen ihre Gesiter sogar noch präsenter zu sein als je zuvor. „Fé!", brüllte er erneut durch den Wind, der alle Geräusche bis auf sein eigenes Brausen zu schlucken schien. Die Wassermassen rollten mit jeder Woge bedrohlicher an den Strand heran, umspülten seine nackten Füße und die Planken des kleinen Bootes, das im Sand neben ihm lag und scheinbar nur auf seinen Einsatz wartete. „Fé!", wiederholte er seinen verzweifelten Ruf ins Ungewisse, doch auch nach fast drei Monaten erhielt er noch immer keine Antwort. Es war einfach zum Verrücktwerden! Schließlich packte er die Taue und schob das kleine nussschalenartige Schiffchen mit kräftigen Schüben in Richtung der grauen Fluten.
Auf dem Weg durch die Gefilde tief unter dem Muschelpalast nach oben waren sie lediglich auf drei Wachen gestoßen, die sie alle zusammen ohne große Mühe hatten überwältigen können. Sie hatten sie gefesselt und geknebelt in den Gängen zurückgelassen. Adara schwamm noch immer allen anderen voran, und langsam führte der Weg endlich nach oben. Ein dunkler Gang trennte sie von der Gewissheit, es endlich geschafft zu haben und tief in ihr drängte sie eine stete Angst, sich zu beeilen. Wenn sie zu spät kam und Marlene und ihre Kinder nicht vor Nemico retten konnte, sie würde es sich niemals verzeihen. Plötzlich erblickte sie am Ende des Ganges eine große Tür, die ihr irgendwie bekannt vorkam. Sie bedeutete der Menge hinter ihr, ruhig zu sein, indem sie sich einen Finger an die Lippen legte. Dann drückte sie sachte an die Tür und auch diese war nicht abgeschlossen und glitt beinahe lautlos auf. Und nun drängten sich die ausgehungerten Körper zahlloser Fischmenschen durch die Öffnung im Mauerwerk nach draußen in den breiten Flur der Untergeschoßes wie ein Schwarm Sardellen, die beim Versuch, dem Fischernetz zu entkommen ins Maul des Wales schwammen. Adara war eine unter ihnen. Sie erkannte sofort, wo sie sich befanden, schließlich hatte sie als kleines Kind genügend oft hier unten gespielt, hier, wo sich Dienstbotengänge und Küchentrakte kreuzten und ein regelrechtes Tunnelsystem quer durch den Palast bildeten. Viele verschwanden in den erstbesten Gängen, während einige es bevorzugten, Adara zu folgen, die auf direktem Weg den Hauptgang entlangschwamm. Bald hatten sie die oberen Stockwerke erreicht und Adara trennte sich von ihren Begleitern. „Ihr müsst da entlang. Folgt einfach diesem Flur, nach rechts raus könnt ihr dann in den Garten verschwinden", raunte sie ihnen zu und ließ sie dann gehen. Sie selbst allerdings versteckte sich in hinter einem Torbogen, als sie eine Wache herannahen sah. Ihr Ausbruch war anscheinend nicht ganz unbemerkt geblieben. Der Wachmann schien nervös zu sein. Ein weiterer kam hinzu. „Wo sind sie?", fragte er außer Atem, doch der zweite zuckte nur kopfschüttelnd mit den Achseln. „Sie scheinen einfach überall zu sein", berichtete er. Adara spürte in diesem Moment, dass jemand sie zu sich rief, doch sie widerstand dem Impuls, zwang sich zur Ruhe. „Wie konnte das nur passieren?", fragte der erste nun wieder und erneut schüttelte der andere bloß den Kopf. „Ich habe keine Ahnung." Adara verlor beinahe die Geduld, als sie den beiden Holzköpfen zusah. Sie verlor hier wertvolle Zeit, in der sie Marlene vor dem sicheren Tod retten musste, anstatt diesen Kindereien zuzuhören. Aber sie konnte nicht anders. Sie durfte es nicht riskieren, gesehen und wieder gefangen genommen zu werden. Schließlich verschwanden die möchtegern-Wachmänner wieder in verschiedene Richtungen und Adara nutzte die Gelegenheit und glitt ungesehen und ungehört durch den nächsten, leeren Gang. Als sie an den prächtigen Marmorstatuen vorbeikam, nutzte sie die Gelegenheit und schnappte sich eine der an die Wand gehängten, golden glitzernden Waffen. Die Menschen nannten sie Harpunen und nutzten sie zur Waljagd, hier unten wusste man nichts mit ihnen anzufangen. Man stellte die seltsamen, spitzen Dinger aus wie wertvolle Skulpturen, unwissend zu welchen Gräueltaten sie in der Lage waren. Adara hingegen kamen sie gerade recht.
Sie erschrak, als plötzlich ein Schatten vor ihr an der Wand auftauchte und gerade noch rechtzeitig konnte sie sich in einen abzweigenden Raum retten, bevor Stimmen laut wurden. „Bringt sie hier rein!", hörte die von der massiven Tür gedämpften Worte und als sie sich auf der Suche nach einem Versteck umschaute, erstarrte sie. Sie befand sich im Thronsaal. Alles hier erinnerte sie an ihren Vater. Einfach alles schrie förmlich nach ihm. Die Türklinke wurde hinuntergedrückt und riss Adara aus ihrer Starre. Einen Moment später betraten mehrere Leute den Saal, einige Haifische mochten wohl auch darunter sein, so unachtsam und grob, wie die kräftigen Schwanzflossen gegen das Mobiliar stießen. Sicher hinter dem hoch aufragenden Thron in eine Ecke gedrückt war Adara darum bemüht, ihren Atem unter Kontrolle zu halten. Sie hielt die Harpune an ihren Bauch gepresst, mit der Spitze von sich zeigend und höchst alarmiert darauf bedacht, dass bloß niemand sie bemerkte. Es wäre das Todesurteil für sie und ihre Schwester gewesen. Und wenn sie nicht schleunigst wieder hier rauskam, wäre es für Marlene, die sich in diesem Moment Gott weiß wo aufhalten konnte, endgültig zu spät. Hatte Adara zuvor geglaubt, die Wachen im Flur wären ein Hindernis gewesen, so wurde sie nun eines Besseren belehrt. Sie fand sich im Thronsaal wieder. Einem riesigen, offenen Raum mit einem einzigen Ausgang und zwischen jenem und Adara erstreckte sich eine leere Fläche, die erst überwunden werden musste. Sie saß in der Falle. Und noch schlimmer, sie hatte Marlene zum Tode verurteilt. Knurren wurde laut. Einen kurzen Augenblick fragte sie sich, ob es ihr Magen gewesen sein konnte, doch als das bedrohliche Geräusch wieder ertönte, verwarf sie den Gedanken. Es waren tatsächlich Haie im Raum. Sie knurrten, wenn sie ungeduldig wurden. Aber was zur Hölle suchten sie bloß hier? Adara nahm es ungeheuer wunder, wer sich sonst noch alles im Saal befand, doch aus Angst, sie könnten nur hier sein, weil sie sie suchten, weil sie sie vielleicht sogar hinter dieser Tür hatten verschwinden sehen, ließen Adara alle Haare zu Berge stehen. Doch dann nahm jemand auf dem Thron platz. So nah bei ihr, dass sie die von seiner Schwanzflosse verursachte Bewegung im Wasser auf ihrer Haut spüren konnte. Adara drückte sich noch tiefer in ihre Nische, presste die Harpune noch enger an sich. „Ich kann kaum glauben, zu was ihr Cahayas alles im Stande seid", sagte plötzlich eine schnarrende, tiefe Stimme. Adara hatte sie noch nie zuvor in ihrem Leben gehört. „Ich dachte, euch mit den anderen in den Kerker zu sperren, würde euch zugrunde gehen lassen. Aber anscheinend hat euch weder die Dunkelheit noch dieser widerwärtige Fraß etwas angetan", fuhr die Stimme fort, die unweigerlich zu diesem mysteriösen Nemico gehören musste. Adara hielt die Luft an. Wusste er etwa, dass sie hier war? Würde er sich wohl gleich zu ihr umdrehen und ihr ein für alle Mal den Garaus machen? Sie zitterte am ganzen Körper, vor Anspannung wie auch vor Angst und aus Panik. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. „Nun sag mir, wie kommt es", fragte der Meermann, von dem Adara noch keinen Quadratzentimeter erblickt hatte „dass du selbst nach fast fünf Monaten noch so viel Energie hast, dass du eine meiner Wachen so schwer verletzen kannst und deine Schwester es kaum eine Viertelstunde später schafft, einen ganzen Kerkerflügel zu leeren?" Nemico war wütend. Obwohl – wütend war gar kein Ausdruck, er war stinksauer. Aber halt, er sprach ja, als hätte er... Nein. Er hatte zu Marlene gesprochen! Marlene war hier! Als Adara das endlich begriff, und schließlich die Harpune in ihren Armen musterte, grauste es sie bei dem Gedanken an die Tat, die ihr nun bevorstand. Sie zögerte. Sie konnte es einfach nicht tun. Sie konnte es nicht. Sie würde es niemals können.
Sie lockerte ihren Griff um das tödliche Instrument schließlich. Sie war keine Mörderin und würde es auch niemals sein. Vielleicht fehlte es ihr auch einfach an Marlenes Schneid, die Dinge zu beenden, denn ihre große Schwester hätte es sicher durchgezogen. „Sprich endlich!", schrie der neue Herrscher – der unrechtmäßige Herrscher - der Meere ohne Vorwarnung und seine Stimme hallte laut von den Wänden wider und Adara schrak so sehr zusammen, dass ihr beinahe ihre Waffe entglitten wäre. In letzter Sekunde konnte sie sie noch zurückhalten, bevor sie mit reichlich Schwung hinter dem Thronstuhl hervorgerutscht wäre, nicht zuletzt mit einem riesen Krach, wenn das Metall über den Steinboden gekratzt hätte. Adara biss sich hart auf die Lippen, als sie daran dachte, dass Marlene kaum drei Meter weiter irgendwo sein musste. Läppische drei Meter nur trennten sie und ihre Schwester und genau diese drei Meter entschieden nun über ihr Schicksal. Doch von Marlene kam keine Antwort. Ein Kind wimmerte. „Sprich oder du bist des Todes!", bellte Nemico, doch noch immer kam keine Antwort. Allerdings schien er sich gründlich aufzuregen, denn der Thron vor Adara wackelte bedenklich unter seinem Wutanfall. „Sprich, du stures, altes Miststück!", schrie er schlussendlich und seine schneidende, laute und einnehmende Stimme überschlug sich. Adara schluckte die Wut, die so plötzlich in ihr aufflammte hinunter. Sie biss sich auf die Lippen und kniff ihre Augen zu. Gleich würde er den alles entscheidenden Befehl geben und sie würde nichts daran ändern können. Sie stellte sich vor, wie Marlene ihn mit sturem Gesichtsausdruck anschauen musste, ihre Kinder je an einer Hand und dennoch mit so viel Würde, dass es Nemico nur noch mehr anstacheln musste. „Wo ist deine verdammte Schwester?", kreischte jener wie ein wütendes Kleinkind. Es zerriss Adara innerlich. Aber sie konnte es einfach nicht tun. Sie würde niemals töten können. Wieso nur hatten sie nicht die Plätze getauscht? Weshalb war nicht Marlene an ihrer Stelle und Adara selbst jetzt vor dem Stuhl des durchdrehenden Thronräubers? Weshalb nur hatte sie nicht den Mumm, ihre Aufgabe zu erfüllen, es war ja schließlich nicht so, dass nicht gewusst hätte, auf was sie sich da einließ, als sie ihren Entschluss gefasst hatte. Ihre Brust hob und senkte sich und ihr Körper zuckte immer wieder, als sie panisch versuchte, die Schluchzer zu unterdrücken. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie mittlerweile nicht einmal mehr die Harpune, die noch immer wackelig und schwer in ihrem Schoß lag, halten konnte. „Bringt sie um", zischte Nemico in diesem Moment und Adara hörte, wie sich auf einmal sehr viel Wasser in Bewegung setzte. Die Haie griffen an. Ihr entfuhr ein entsetzter Aufschrei und fast gleichzeitig löste sich ein Schuss aus der Harpune. Der Rückschlag stieß ihr hart gegen die Rippen und ließ sie atemlos gegen die Wand hinter sich prallen. Die Harpunenspitze hatte sich in die Rückseite des Thrones gebohrt und war dort stecken geblieben. Adara lag halb benommen in der kleinen Nische und konnte sich im ersten Moment nicht rühren. Sie kämpfte mit allen Mitteln gegen die Ohnmacht, die langsam heranschlich wie ein hinterlistiges Raubtier. Auf einmal strömte ein bekannter Geruch zu ihr herüber und ihr wurde schlecht. Blut lag im Wasser. Die Haie – und das wusste Adara, auch ohne hinsehen zu müssen – stürzten sich wie wild geworden auf ihre Beute.
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Okay, bei diesem Kapitel bekomme sogar ich Schnappatmung...
Für tamigirl_96
Und? schwitzt du Blut und Tränen? Also ich schon...
<3
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