45. Alles dreht sich um Tom


„Wer ist er?", wollte Marlene schon zum zigtausendsten Mal wissen und Adara war es langsam leid, die immer gleiche Platte von ihrer Schwester zu hören. Seufzend gab sie nach. „Er heißt Tom", murmelte sie. In ihrer Lichtkugel schwebte sein Gesicht leuchtend und strahlend auf und ab. Seitdem sie den Schritt gewagt und ihnen Tom offenbart hatte, war es immer schön warm in ihrer Zelle. Nun ja, vorausgesetzt sie war wach und ließ die Lichtkugel erscheinen. Marlene und die anderen – vor allem Caylin Réalta und Léas Solas sahen schon viel besser aus. Zwar noch immer abgemagert wie spindeldürre Stöcke, aber immerhin nicht mehr so blass. Auch die Ringe unter Marlenes einst so schönen und vor Lebensfreude strotzenden Augen warfen nicht mehr so tiefe Kerben. „Erzähl", forderte Marlene nun aber und knuffte ihre jüngere Schwester in die Seite. Adara lächelte nur scheu und schüttelte langsam ihren Kopf. „Das geht dich nichts an", erwiderte sie und für einen klitzekleinen Moment schien alles wieder so zu sein wie es vor dem Tod ihres Vaters gewesen war. Bis auf die Tatsache, dass sie in einem dunklen Kerker saßen. Das ließ Marlene aber nicht auf sich sitzen. „Na los, erzähl endlich! Wie habt Ihr Euch kennengelernt? Na los! Ich hatte auch keine Geheimnisse vor dir, als es zwischen mir und Tréan ernst wurde", drängte sie Adara und zum ersten Mal seit die zusammen hier festsaßen, war dieser graue Schimmer in ihrem Gesicht tatsächlich verschwunden, und das obwohl Marlene den Namen ihres toten Ehemannes ausgesprochen hatte. Aber Adara gab dennoch nicht nach. Sie wusste ja schließlich, wie Marlene und alle anderen den Menschen gegenüberstanden. Außerdem hatte sie sämtliche Grundgesetze gebrochen, was ihre Schwester nicht nur nicht gutheißen würde, so wie Adara sie kannte. Als die Tür zum Kerkertrakt aufging und die Wachen wiederkamen, um das Essen zu verteilen, ließ Adara ihre Lichtkugel verschwinden. Wie jeden Tag wurden die mit der grünen Algenpampe gefüllten Teller unter den Gitterstangen hindurchgeschoben. Und auch diesmal gab es für die beiden Frauen und die kleinen Kinder nur zwei Portionen, die es zu teilen galt. Die Wachen sprachen dabei wie jedes Mal von den miserablen Bedingungen ihrer Arbeit, aber dass das trotzdem besser war, als in einer dieser Zellen vor sich hin zu vegetieren. Adara fragte sich, ob das wohl zutraf. Sie würde niemals einem falschen König dienen. Lieber würde sie bis an ihr Lebensende hier unten versauern, auch wenn das hieß, dass sie Tom niemals wiedersehen würde. Aber das würde so oder so geschehen, wenn sie sich in die Pflicht eines Thronräubers stellte. Sie wäre eine Sklavin wie diese Wachen es waren. Sie hatten ihre einstige Ehrbarkeit und ihren guten Ruf verloren und das Recht auf Gerechtigkeit und Beistand somit an der Tür abgegeben. Diese Männer waren so schändlich wie der Mörder des Königs selbst. „Was glotzt du denn, Prinzesschen?", blaffte der eine, als er Gesichtsausdruck durch die nur schmächtig beleuchtete Zelle bemerkte. Sofort wandte Adara ihren Blick ab und zwang sich, den steinigen Boden zu betrachten. Hatte sie ihn etwa wirklich angestarrt? Innerlich schalt sie sich selbst dafür. Sie musste sich langsam wirklich wieder auf die alten Werte besinnen. Früher war es ihr so leicht gefallen, eine undurchsichtige Maske aufzusetzen und indifferent den Leuten gegenüber zu treten. Als die Wachen den Trakt wieder verließen und es dunkel wurde um sie herum, hörte Adara noch schwach die letzten gesprochenen Worte der Wächter, bevor die schwere Tür hinter ihnen zu fiel: „Weißt du, was Nemico mit ihnen vor hat?" „Nein, keine Ahnung. Aber er kann sie ja nicht hier unten lassen." Das ließ Adara hellhörig werden, aber es war zu spät, als dass sie noch etwas hätte herausfinden können, denn die Männer waren fort und würden erst am nächsten Tag wiederkommen. „Marlene, hast du das gehört?", wisperte sie aufgeregt und klammerte sich an die Gitterstäbe in der hoffnungslosen Absicht, über die Distanz und durch die massive Tür hindurch doch noch weitere Gesprächsfetzen aufzuschnappen. „Was denn?", fragte Marlene mit vollem Mund. „Die haben etwas vor mit uns", keuchte Adara erschrocken und wandte sich zu ihrer Schwester um, die essend in einer Ecke saß. „Marlene! Marlene, hör mir zu!", beschwor Adara sie und war in einem Flossenschlag bei ihr. Caylin und Léas Solas waren gerade dabei, die zweite Portion grünen Algenbreis zu verputzen und waren dabei so konzentriert und gierig am Werk, dass sie die Aufregung ihrer Tante gar nicht mitbekamen. Marlene hielt ihr – als sie Adara neben sich bemerkte – auffordernd den halbleeren Teller hin, doch Adara wies ihn mit einem verständnislosen Kopfschütteln zurück. Daraufhin machte sich ihre Schwester schulterzuckend auch an die zweite Portionshälfte. „Wir müssen von hier fliehen", flüsterte Adara so leise, dass sogar Marlene größte Mühen damit haben musste, sie überhaupt zu verstehen. „Wir müssen hier raus, bevor sie uns wegbringen. Wer weiß, was sie mit uns anstellen?" Eine unbeschreibliche Angst lag in ihrer Stimme und Adara wusste selbst nicht, warum sie auf einmal so beunruhigt war. „Machst du das Licht bitte wieder an?", meinte Marlene aber nur unverwandt und Adara gehorchte, in der Hoffnung, dann endlich ernsthaft mit ihrer Schwester sprechen zu können. „Wir sitzen seit gefühlten sechs Monaten hier unten. Wer um Himmels Willen sollte jetzt noch etwas mit uns vorhaben, hm? Ich wette, die haben uns doch schon längst vergessen und lassen einfach alle gleichermaßen hungern. Denkst du nicht, dass man uns sonst in irgendeiner Weise anders behandelt hätte? Indem man uns zum Beispiel auf der Stelle umgebracht hätte?", erklärte sie gelangweilt und schob mit ihrer im Licht rötlich schimmernden Schwanzflosse den leeren Teller über den Boden ihrer Zelle. Adara fixierte ihre Schwester mit durchdringenden Blicken. „Sie haben gesagt, Nemico hätte etwas mit uns vor", wandte sie ein und ihre Stimme fühlte sich plötzlich so rau an, als hätte sie einen Seeigel verschluckt. Marlene zögerte einen Augenblick. „Wer sollen das gesagt haben?", fragte sie einen Moment später, nun schon ernster, aber noch immer nicht wirklich überzeugt. „Die Wachen, gerade eben!", insistierte sie gehetzt und zeigte überflüssigerweise auf die Zellentür. Marlene schien verwirrt. „Was genau haben die Typen gesagt? Ich hab nur gehört, wie dich der eine dumm angemacht hat." „Beim Hinausgehen hat er den anderen gefragt, was Nemico mit uns vorhat, wenn ich es dir doch sage, Marlene!", drängte Adara und packte ihre Schwester mit der freien Hand bei der Schulter. Am liebsten hätte sie sie geschüttelt, so verrückt machte sie Marlenes halbherziges Desinteresse. „Beruhige dich doch, Adara", wisperte Marlene aber daraufhin verständnislos und warf einen aufmerksamen Blick hinter Adara auf den dunklen Flur. Nun war Adara verwirrt, aber kurz darauf fuhr ihre Schwester fort: „Wenn das stimmt, dann darf keiner davon erfahren", raunte sie. Ihr Blick flog über Adaras Gesicht und kurz meinte diese, einen Schimmer des alten Kampfgeistes in ihrer Schwester aufglühen zu sehen. „Du glaubst mir also?", fragte sie ebenso leise und nach kurzem Zögern nickte Marlene schließlich. „Ich glaube, dass du es gehört haben willst", erwiderte sie ruhig. „Dann brauchen wir einen Fluchtplan", erwiderte Adara nachdem sie ihren Mund, den sie - schon bereit zur Einsprache gegen Marlenes Antwort - in Empörung weit geöffnet hatte, wieder geschlossen und einen Moment lang überlegt hatte. Marlene seufzte schwer. „Wenn das nur so einfach wäre, wie es klingt."

Tom erwachte in einem steril weißen Krankenzimmer. Sein Schädel dröhnte und erst wusste er gar nicht, wie ihm geschehen war. Doch dann drängten sich zwei Gestalten in sein Blickfeld und einige Wimpernschläge später erkannte er dann auch endlich, um wen es sich handelte. Henry und Maria drängten sich mit je sorgenvoll verzogenen Gesichtern links und rechts an sein Bett und wären wohl am liebsten zu ihm unter die Decke gesprungen, so sehr lehnten sie sich über ihn. „Master Thomas, wie geht es Ihnen?" „Was ist nur passiert?" „Können Sie sich an etwas Bestimmtes erinnern?" „Sind Sie etwa vergiftet worden?" Mit schmerzverzerrtem Gesicht schüttelte er den Kopf. So viele Fragen auf einmal bereiteten ihm nur noch mehr Kopfschmerzen. Andererseits hatten die beiden schon recht. Plötzlich war ihm ganz merkwürdig geworden. Vor Gericht, als der Staatsanwalt... er erschrak, als er sich wieder daran erinnerte, was zuletzt von ihm verlangt worden war. Das Gericht konnte doch nicht ernsthaft glauben, dass Fé etwas mit alldem zu tun hatte, oder etwa doch? In diesem Moment gesellte sich eine Krankenschwester zu ihnen. Freundlich lächelnd kam sie in den Raum spaziert. „Ah, Sie sind ja schon wieder wach, Mister Right!", sagte sie entzückt und überprüfte dann den Tropf, an dem Tom hing. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass eine Kanüle in seinem Handgelenk steckte. Oder dass er einen Krankenhauskittel trug. Irgendwie war es ihm peinlich. Einer der hier Anwesenden musste ihn umgezogen haben und ehrlich gesagt wollte er gar nicht erst wissen, wer es gewesen war. Unauffällig kontrollierte er unter der Decke, ob er denn wenigstens noch seine Unterwäsche trug und atmete erleichtert aus, als dies der Fall war. Er mochte sich nicht vorstellen, wohin er hätte auswandern müssen, wenn irgend so ein Spaßvogel ein Selfie mit dem stinkreichen, splitterfasernackten Thomas Reginald Right aufgenommen hätte. Andererseits musste er bei diesem Gedanken auch wieder schmunzeln. Hätte bestimmt ein gutes Erpressungsfoto abgegeben. „Wie fühlen Sie sich?", fragte in diesem Moment die hübsche Krankenschwester, die bis auf ihre feuerroten Haare keinen einzigen Flecken Farbe auf sich zu tragen schien. Tom blinzelte zu ihr empor. „Wie bitte?", erwiderte er etwas dümmlich und zauberte damit ein Lächeln ins Gesicht der Schwester. „Wollen Sie etwas essen, bis der leitende Arzt kommt?", fragte sie dann, anstatt ihre vorangegangene Frage zu wiederholen und als Tom erst nein und dann ja sagte, als er einen Blick auf die Uhr und dann auf seine Begleiter geworfen hatte, schüttelte sie lachend den Kopf. „Ich bringe in diesem Fall wohl lieber gleich zwei Portionen. Für den Fall, dass die Herrschaften auch Hunger haben?" Mit einem koketten Zwinkern verschwand sie sogleich auch wieder aus dem Zimmer. Fast zeitgleich trat die Ärztin ein und Tom fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, als er Tülay erkannte. „Tom, was machst du auch für Sachen", meinte sie kopfschüttelnd und schaute sich seine Akte an. „Sag mal, wie lange hast du eigentlich schon nicht mehr geschlafen?", fragte sie einen Moment später in mahnendem Tonfall. Tom kratzte sich verlegen am Kopf. „Eben gerade so für ungefähr drei Stunden, ich glaube, das kommt in etwa hin", erwiderte er gewitzt und versuchte sich in einem verharmlosenden Lächeln. Doch Tülay ließ sich davon nicht beirren. „Tom", sagte sie strenger. „Du hast dieselben Kurse besucht wie ich. Du weißt, was passiert, wenn man weder isst noch schläft, warum gehst du das Risiko nur ein?" verständnislos verwarf sie die Hände. „entschuldigen Sie bitte, Miss", schaltete sich Henry dann ein und Tülay drehte sich erst jetzt zu ihnen um, ganz so, als ob sie die beiden zuvor gar nicht wahrgenommen hatte. „Wir hatten den Verdacht, Master Thomas könnte vielleicht vergiftet worden sein", meinte er und wartete auf die Antwort der Ärztin. Aber Tülay schüttelte nur den Kopf. „Nein, in seinem Blut befanden sich keine Toxine. Es war eher eine Schockreaktion. Das und dann die extrem niedrigen Blutzuckerwerte haben ihn dann umgenietet", berichtete sie und funkelte Tom wieder böse an. „Du bist aber auch ein Genie, Tom. Ausgerechnet vor Gericht." Wieder schüttelte sie verständnislos den Kopf. Tom winkte nur ab. „Unterzeichnest du jetzt meine Entlassungspapiere, oder muss ich dir dazu noch erst eine schriftliche Einladung schicken?", fragte er genervt. Wenn er etwas nicht gebrauchen konnte, dann war es eine Standpredigt von Tülay Barijan. Sie ging ihm tatsächlich gerade auf die Nerven mit ihrer Bemutterungsnummer. Das hatte sie auch im Studium die ganze Zeit über getan. Immerhin redete sie nun nicht mehr ganz so viel. Sie atmete tief ein und aus, offensichtlich hatte sie endlich eingesehen, dass er ein unverbesserlicher Fall war. Ihre Hände hatte sie wie zum Protest in ihre Hüften gestützt, doch eine Antwort hatte er noch immer nicht erhalten. Stattdessen lieferten sie sich ein Blickduell, das dem Kampf der Titanen in nichts nachstand. Schließlich gab sie aber nach. „Okay", seufzte sie und blätterte auf die letzte Seite seines Dossiers, wo sie schnell hingekritzelt ihre Unterschrift hinterließ. „Aber ich warne dich, wenn du nicht auf dich Acht gibst und noch einmal hier aufkreuzt, dann sorge ich persönlich dafür, dass du sämtliche noch so peinliche Untersuchungen über dich ergehen lassen musst!", setzte sie ernst hinzu und deutete mit dem Ende ihres Kugelschreibers auf Toms Brust. Er schaute sie nur unverwandt an, woraufhin sie eine Augenbraue in die Höhe gleiten ließ, was sie seltsamerweise noch strenger wirken ließ. „Ich schwör es dir, Tom. Von Fusspilz über Prostatakrebs bis hin zu Schwangerschaft! Ich zieh es knallhart durch." Daraufhin verging ihm das Lächeln dann aber doch. Tülay war eindeutig dazu in der Lage, das alles anordnen zu lassen. „Passen Sie auf ihn auf, ja?", sagte sie zu Henry und Maria, die Tom eine halbe Stunde später aus dem Krankenhaus begleiteten und ihn gegen seinen Willen zu stützen versuchten. Sie kamen beim Hinausgehen an er Krankenschwester vorbei, die gerade das Abendessen vorbeibrachte und ihnen bestürzt und verwirrt hinterherschaute, als hätte man ihr eben einen ganz üblen Streich gespielt. Auf dem Nachhauseweg schaute Tom lange aus dem Fenster des alten Bentleys. Dublin war eine geschäftige Stadt. Die Leute gingen gehetzt durch die Straßen und taten ihrem Unmut öffentlich Kund. Keiner hielt sich unnötig lange an einem Ort auf, und doch legte diese ewige Hasten eine kontinuierliche Beständigkeit an den Tag. Als Henry an einer roten Ampel halten musste, bekam Tom die Gelegenheit, einigen Arbeitern beim Anbringen einer riesigen Plakatwand zuzuschauen. Die Männer schienen Mühe damit zu haben, die überdimensionierten Papierbanderolen ordentlich auf den Untergrund zu kleistern. Als ihm dann aber bewusst wurde, für welches Label auf der Anzeigetafel geworben wurde und vor allem, wer denn das Werbegesicht war, das da für das Schmuckhaus Modell stand, klappte ihm der Mund auf. Da war sie abgebildet. Auf mindestens vier mal sechs Metern und schöner als je zuvor und zum ersten Mal seit langem, wurde Tom wieder bewusst, dass Fé auch für die restliche Welt existiert hatte.

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Wenn ihr nur wüsstet, wie sehr ich mich darauf freue, euch die nächsten Kapitel zu präsentieren!!! (^_=)/O Ich hatte solchen Spass daran, sie zu schreiben und ich hoffe natürlich, dass ihr mindestens genauso viel Spass daran haben werdet, sie zu lesen! jetzt wird es so allmählich spannend und einige erste Geheimnisse werden gelüftet. Wer ist dabei? Ich freue mich darauf. <3 

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