4. Viele Eindrücke

„Hast du Hunger?" Bei diesen Worten schrak sie zusammen. Sie hatte Tom nicht kommen hören. „Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht erschrecken. Oh gut, du bist fertig", meinte er noch immer mit diesem unbeschwerten, leichten Plauderton. Er ging davon aus, dass sie ihn nicht verstehen konnte, das wusste sie. „Haaast duu Huungeer?", fragte Tom nochmals ganz langsam und indem er auf seinen Bauch deutete. Am liebsten hätte Adara ihm geantwortet, doch sie hielt sich zurück. Sie wagte es nicht, mit einem Menschen zu sprechen. Das verstiess gegen all ihre Grundprinzipien und ausserdem wollte sie ihm nicht vor den Kopf stossen. Ihr Magen übernahm gegen ihren Willen das Sprechen für sie und grummelte laut und deutlich. „Alles klar, dann mach ich dir Rührei. Ich hoffe du magst Rührei?", fuhr Tom unbeeindruckt fort. Sie schämte sich. Sie war im Begriff alle Regeln zu brechen. Menschen waren gefährlich. Menschen waren grausam und sie hatten kein Verständnis für ihre Art. Das hatte doch die Geschichte gezeigt. Ihr Vater hätte sie verbannt für diesen Verrat an ihrer Art. Wenn er es gewusst hätte. Doch er war tot und niemand würde ihn je zurückbringen können.

Andererseits war sie nun in dieser Situation und konnte nicht fort, also weshalb sollte sie sich selbst bestrafen, indem sie alles, was von diesem Menschen kam, zurückwies?

Sie war von diesem Menschen gerettet worden, liess sich von ihm pflegen, durchfüttern und bekleiden, und sie wagte es noch nicht einmal, ihm zu antworten. Es war nicht in der Natur einer Meerjungfrau, sich einem Menschen zu offenbaren. Und dennoch. Tom war seltsamerweise so gut zu ihr, ohne Wenn und Aber. Hatte er nicht ein wenig Dank verdient? Sie schaute auf ihre Knie, die der Rock nicht mehr bedeckte. Sie hörte Schritte und kurz darauf stand Tom wieder vor ihr und hielt ihr einen Teller hin. Sie schaute nicht auf. Sie sagte nur ganz leise und kaum hörbar: „Danke."

Der Teller glitt ihm aus der Hand und zerbarst auf dem Holzfussboden. Jetzt hob sie den Blick und sah seine glänzenden, grünen Augen und seinen entgeisterten Gesichtsausdruck. „Du... Du! Du verstehst mich ja! Du sprichst meine Sprache!", rief er empört aus. Das war zu viel für ihn, er musste sich unbedingt setzen. Sie schaute wieder auf ihre weissen Knie und nickte kaum merklich. „Wie heisst du?", fragte Tom. Sie schaute auf, blickte ihn an. Wenn sie ihm ihren Namen verriet, konnte er sie rufen, so wie das Meer sie rief. Doch er könnte sie auch beim Namen nennen, sie ansprechen. Sie suchte etwas in seinen Augen, das ihr verriet, was er dachte, ihr verriet, dass sie besser nichts sagen sollte. Doch alles, was sie fand, war Erstaunen und Neugierde. „Adara Faè Cahaya."

„Ada- wie bitte?", fragte Tom stirnrunzelnd. „Adara Faè Cahaya", wiederhole Arara schüchtern, leise. „Nenn mich Fé", fügte sie noch leiser hinzu, sodass Tom redliche Mühe hatte, sie überhaupt zu verstehen. „Fé", sagte Tom mit einer Wärme, als ob er Honig in der Stimme hätte und Arara lächelte gegen ihren Willen. Es war das Lächeln eines Minimalisten, kaum zu erkennen in einem unveränderten Gesicht. „Eine Meerjungfrau namens Fee. Was für eine Ironie", nun musste auch Tom grinsen. „Ich wische das kurz weg", meinte er dann leichtfertig und auf den Boden um sich herum zeigend. Er tat ihr schon fast irgendwie leid. Sie wollte ihm schliesslich nicht zur Last fallen, sie wollte eigentlich nur, dass er sie nicht tötete oder ausstellte. Vor allem aber verwunderte es sie, dass er so lässig darauf reagierte, dass sie zu ihm gesprochen hatte. Sie war vor Schreck fast schliesslich fast gestorben, als er mit ihr gesprochen hatte. Er hatte begonnen, die Porzellanscherben und Rühreireste aufzuwischen und das einzige, das sie tat, war ihm dabei zuzusehen. „Ich mach dir eine neue Portion", fügte Tom hinzu, als er aus dem Zimmer ging. Sie sah ihm verwundert hinterher, als er das Zimmer erneut verliess. Adara blieb noch eine Weile sitzen, doch schliesslich versuchte sie aufzustehen. Sie mochte es ganz und gar nicht, alleine gelassen zu werden, besonders wenn sie sich an einem fremden Ort befand. Ausserdem wollte sie ihr Gefängnis wenigstens sehen, wenn sie schon hier eingesperrt sein würde. Aber hatte Tom nicht gesagt, dass es ihr freistünde, jederzeit zu gehen? Sie setzte ihre Füsse auf den Boden und stiess sich von der Bettkante ab. Ihre Beine schmerzten. Sie sah sich selbst im Spiegel, wie sie kaum stehend und mit den Armen rudernd ganz langsam, fast wie in Zeitlupe vornüberfiel. Wie konnte man nur ignorieren, dass man noch nie in seinem Leben auf zwei Beinen gegangen war? Das musste wohl die königliche Ignoranz sein. Und die harte Realität, die sich in Form des Fussbodens präsentierte. Adara landete auf Knien und Handballen. Tränen traten ihr in die Augen und am liebsten hätte sie geschrien, so sehr tat es ihr weh. Sie krabbelte ganz langsam zum Spiegelschrank hinüber und stand nochmals auf, diesmal an den Schrank gelehnt. Mit beiden Händen gegen den Spiegel gepresst, versuchte sie einige Schritte zu gehen und bei jedem einzelnen brannte ihr gesamter Körper wie nach einem Feuerfisch-Angriff. Sie hatte bald die Tür erreicht und war in den Flur gelangt. Der Boden fühlte sich kühl an unter ihren Füssen. Mit beiden Händen stützte sie sich links und rechts an den grauen Natursteinmauern ab und ging langsam, Schritt für Schritt auf das Ende des Flurs zu. Plötzlich blieb sie stehen, denn vor ihr lag ein grosser Raum. Und sie konnte sich nirgends abstützen. Tom stand dort.

Er zückte die Bratpfanne, drehte den Gasherd auf und liess ein grosses Stück Butter auf die schwarze Teflon-Beschichtung fallen. Er drehte sich um die eigene Achse und holte die Eier aus dem Kühlschrank. Er war extrem nervös. Hatte er gerade geträumt, oder hatte die Meerjungfrau, die nebenbei in seinem Bett lag, eben mit ihm gesprochen? Oder würde er morgen aufwachen und alles beim Alten vorfinden? Er schlug die Eier gekonnt am Pfannenrand auf und liess das schmierige Innere in die heisse Pfanne gleiten. Schon seltsam, dass er jetzt plötzlich kochte. Als hätte sich in ihm ein lange verstummter Antrieb wieder eingeschaltet. Wirklich seltsam. Anscheinend schien es einen Unterschied zu machen, ob er Menschen gegenübertrat oder Meerjungfrauen, aber was sollte diese Einteilung überhaupt? Er konnte die Welt schliesslich schlecht in Wirklichkeit und Märchen einteilen, das würde ihn schneller ins Irrenhaus bringen als all seine Traumata zusammen. Aber weshalb empfand er dieser Meerjungfrau, dieser Fé gegenüber bloss nicht diesen Hass und diese Gleichgültigkeit, die er jedem anderen gegenüber seit einem Jahr so vorbildlich an den Tag legte? War es, weil sie ihn nicht kannte? Weil sie nicht wusste, wer er einst gewesen war? Er schwang die Pfanne geübt nach vorn, liess die Eier nicht anbrennen. Er bemerkte dabei nicht, dass Adara keineswegs mehr in seinem Bett lag, sondern kaum zwei Meter weiter an der Ecke an die Mauer gelehnt stand.

Auf der linken Seite stand in etwa anderthalb Metern Entfernung ein Sofa mit rot-grünem Bezug, das auf die Wand und ein flaches, schwarzes Rechteck daran ausgerichtet war, vor dem ein niedriger Tisch mit eingelassener Glasplatte stand. Auf der rechten Seite ging es einen Absatz mit zwei Stufen hinauf. Adara ging noch einen Schritt weiter, sich auf der rechten Seite an einem glatten Schrank mit steinerner Oberseite abstützend. Unweit davon, etwa einen Meter weiter und parallel zu dem Hüfthohen Schrank, an dem sie sich gerade festhielt, stand eine Reihe solcher Schränke, die mit einer langen Steinplatte bedeckt waren. Dort stand auch Tom, wie er mit dem Rücken zu ihr etwas locker in einer flachen, schwarzen Schale mit Griff umrührte. Sie konnte nicht einfach so hier stehen bleiben, nun, da sie schon so weit gekommen war. Sie musste nur irgendwie die Ecke des nächsten Schrankes erreichen. Sie liess den Blick durch den Raum gleiten. Ein schwarzes Piano stand dort. Ohne Seegras und mit perlweissen Tasten, die weder marode noch vergilbt waren. Sie streckte ihren linken Arm aus, schob ihr linkes Bein etwas vor, und stürzte. Wie in Zeitlupe sah sie den Boden näher kommen. Sie war gefasst, gleich schmerzhaft auf dem Boden zu landen, kniff ihre Augen vorsichtshalber zu und fügte sich. Doch der Aufprall kam nicht. Stattdessen fühlte sie Toms warmen, starken Arm, der sich um ihre Hüfte geschlungen hatte und sogleich riss sie die Augen wieder auf.

Einen Moment lang war es still gewesen und man hatte nur das Brutzeln der Eier in der Pfanne gehört. Auf einmal war da diese Nähe zwischen ihnen gewesen, die Adara den Atem raubte. Toms Geruch nach Salz und Gräsern drängte sich sich erbarmungslos in ihre Nase und sie schaute ihn aus angsterfüllten, weit aufgerissenen Augen an.

„Was tust du da?", fragte Tom bestürzt. „Es, es tut... tut mir leid, ich wollte nicht... ich... ich...", stammelte nun ihrerseits Adara, doch Tom schüttelte nur langsam den Kopf. „Nein, ich meine... wie ist es möglich, dass du schon wieder läufst? Ich... ich... hab dir vor noch nicht einmal zehn Stunden zwei riesige Wunden zunähen müssen, die Schmerzen beim Gehen könnte kein Mensch aushalten", erklärte Tom ihr mit Erstaunen, aber auch einer merkwürdigen Art der Bewunderung in der Stimme. Erst da bemerkte er, dass er das Mädchen immer noch in seinem Arm, etwa einen halben Meter über dem Boden hielt. Er selbst befand sich halb kniend, halb stehend auf den Stufen des Absatzes, der Küche und Essbereich vom Rest des Raumes trennte und hielt sich an der Ablage fest. Ansonsten wären sie wohl beide zusammen auf dem Boden gelandet. Tom zog Fé wieder auf die Beine und begleitete sie bis zum Esstisch, an dem er sich am Morgen noch den Kopf gestossen hatte. Seine Hand umfasste dabei ihre schmale Hüfte und ihr Haar strich sanft und weich über seinen Arm. Es war eine seltsame Situation für ihn. Schon lange war er niemandem mehr so nahe gewesen und auch für Adara war diese Nähe nicht minder beklemmend. Er liess sie platznehmen und ging wieder zurück hinter den Herd. Adara schaute ihm zu, sagte jedoch kein Wort. Sie beobachtete ihn. Er war geschickt mit seinen Händen. Sein Körper war muskulös, aber der Pullover verdeckte vieles davon. Ein grosses Loch klaffte im Stoff in der Armbeuge. Toms Gesicht war schön, wohlgeformt und ansehnlich. Er trug einen Dreitagebart, der ihm samt seinen etwas längeren, ungekämmten Haaren etwas Wildes verlieh. Seine Nase war etwas breiter als ihre eigene, doch nicht minder gerade. Er hatte schmale Lippen, die aber ein seltsam wundervolles Lächeln hervorbringen konnten. „Was isst du eigentlich sonst so?", fragten ebendiese schmalen Lippen, die sie gerade betrachtete. Seine Augen suchten ihren Blick. „Nun ja, Fisch, denke ich."

Was für eine lahme Antwort. „Ich mag Fisch", entgegnete Tom. „Hier, ich hoffe du magst das hier auch."

Sie schaute auf den Teller mit dem unförmigen, hellgelben Etwas. „Rührei", erklärte Tom. „Woher kommt das?", fragte sie stirnrunzelnd. Es war das Erstbeste, das ihr eingefallen war. Tom lachte, als ob er schon lange keinen so guten Witz mehr gehört hatte. „Eier werden von Hühnern gelegt. Hühner sind Vögel, die von uns Menschen gehalten werden. Wir züchten sie, füttern sie, und dann werden sie entweder zu Leghennen, die jeden Tag ein Ei legen, aus denen dann entweder wiederum Hühner schlüpfen, oder die dann, wie diese hier, bei uns auf dem Teller landen. Oder aber man züchtet die Hühner direkt für den Verzehr, die werden dann ziemlich schnell wieder geschlachtet." „Ihr schlachtet einfach so Lebewesen?", unterbrach ihn Adara und schaute ihn schockiert an. Die Menschen waren also doch grausam... Und da war sie wieder. Diese Skepsis Tom gegenüber, die sie immerzu zurückweichen lässt und die Gedanken in ihren Kopf holt. Gedanken, die ihr einflüstern, dass man sie töten wird und dass sie ein langwieriges, schmerzvolles Ende erleiden wird. „Um zu überleben, ja. Das tut ihr doch auch, oder? Oder esst ihr den Fisch bei lebendigem Leibe?", fügte er mit einem Schmunzeln hinzu. „Nein, das nicht", nun schämte sie sich schon beinahe wieder für ihre Gedanken. Sie musste unweigerlich an ihre Familie denken. „Wie kannst du den Schmerz nur ertragen?", fragte Tom in diesem Moment, und Adara musste ziemlich seltsam aus der Wäsche geschaut haben, als er hinzufügte: „Deine Beine, die Nähte. Die tun doch weh?" „Nein, eigentlich nicht", antwortete sie wahrheitsgemäss, was Tom zum Stutzen brachte. „Du bist schon sonderbar, kleine Fé", schloss er mit leichtem Kopfschütteln. „Kleine Fé?", erwiderte Adara ungläubig. Tom verschluckte sich an seiner Portion Rührei und begann zu husten. „Ja. Wie alt bist du eigentlich?", fragte er, als er den Bissen hinuntergeschluckt hatte. „Ich bin achtundzwanzig", stellte er klar und sah Fé auffordern an. "Dreiundzwanzig", erwiderte sie knapp. Ohne es zu bemerken und vor allem ohne es wirklich zu wollen, hatte sie ihre Schultern gestrafft. Während Tom ihnen Wasser einschenkte, liess Adara den Blick schweifen. Die grosse Fensterfront faszinierte sie. Man hätte meinen können direkt im Garten zu sitzen. Dann fiel ihr Blick auf das Abstelltischchen mit den Photographien. „Wer ist das?", fragte sie unverblümt und Tom hielt mitten in der Bewegung inne, die Wasserflasche über seinem Glas schwebend. Seine Miene wurde augenblicklich ernst. „Familie", nuschelte er „ich... will nicht darüber reden."

Adara hatte einen wunden Punkt getroffen. Das hatte sie gemerkt. Sie stocherte weiter in ihrem Teller und nippte hin und wieder an ihrem Wasserglas. Sie hatte noch nie etwas wie das hier gegessen. "Deine Eier sind ganz gut." Neben ihr begann Tom, der gerade einen Schluck aus seinem Glas genommen hatte, zu prusten und erlitt einen mittelschweren Hustenanfall. „Nicht MEINE Eier. DIE Eier", brachte er krächzend hervor und Adara begriff nicht, was so schlimm an Eiern war, dass man gleich so einen Aufstand machen musste. Tom fing sich wieder und machte sich eilig daran, das Geschirr abzuräumen. Fast so, als wäre ihm ihre Anwesenheit unangenehm. Obwohl sie dem Menschen nicht wirklich über den Weg traute und jede seiner Bewegungen mit mit Mistrauen betrachtete, fühlte sie sich irgendwie in ihrer Ehre verletzt. Ihr Blick fiel auf den grossen, schwarzen Flügel. „Spielst du?", fragte sie in die Stille hinein. „Du weißt, was das ist?", entgegnete Tom mit hochgezogenen Augenbrauen. „Ja, auf dem Meeresgrund liegen dutzende davon. Nur geht leider keines", erwiderte sie enttäuscht. Tom kam langsam um den Tresen herum und Adara befürchtete schon das Schlimmste, doch er setzte sich nur ans Klavier. „Es war das Klavier meiner Mutter", erklärte er sanft „sie hat uns das Spielen beigebracht." „Uns?" „Mir und meinen zwei Brüdern. Als wir noch kleiner waren", antwortete Tom leise und ohne den Blick zu heben. Seine rechte Hand glitt über die abwechselnd schwarzen und weissen Tasten, ohne dass er sie jedoch berührte. Und dann, ohne Vorwarnung, schlug er einen Ton an. Ganz sanft. Er spielte die Melodie zuerst nur mit der einen Hand, nahm dann die andere dazu. Er spielte das Stück 'River flows in you'. Er fand, dass es irgendwie zur Situation passte. Adara, immer noch am Tisch, hatte die Augen geschlossen. Sie lauschte den sanften Klängen. Wie schrecklich schön dieses Lied doch war! Voller Trauer und Hoffnung und Schmerz, und Einsamkeit. Und doch so wunder, wunderschön. Tom spielte es ganz sanft, weder zu laut noch zu schnell. Seine Spielweise war nicht aufdringlich, nicht gestresst, nicht hektisch. So klang es also, wenn jemand Klavier spielte. Es war noch viel schöner als der Gesang ihrer Schwestern, den sie so sehr liebte. Ihre Gedanken schweiften ab. Ihre Schwestern. Würden sie jemals wieder alle wiedervereint werden können? Die letzten Noten verklangen und Tom sass reglos auf dem Lederhocker. Er wischte sich mit der Hand übers Gesicht und als er sich umdrehte, sah er, dass auch Adara eine Träne im Augenwinkel hatte. Er wollte sie nicht stören, ihr diesen intimen Moment gönnen, bis sie ihre Augen wieder öffnete. Wie sehr hatte er diese Klänge selbst vermisst! Er bemerkte es erst jetzt. Es war Balsam für seine Seele und Tom spürte, dass irgendetwas tief in ihm zu heilen begann. Hatte er all das wirklich dieser Meerjungfrau zu verdanken? Einem Wesen, von dem er noch Stunden zuvor überzeugt war, dass es noch nicht einmal existierte? In diesem Moment öffnete Fé ihre Augen und Tom war überwältigt von ihrer Tiefe. Dieses unvergleichliche Blau! Doch Adara hatte den Blick abgewandt und fuhr sich nun ihrerseits über die Augen. Toms Blick wanderte zur Uhr über der Küchenzeile. Halb neun. „Es wird Zeit schlafen zu gehen, Fé", sagte er leise. Draussen war es dunkel geworden. Mit dem Untergehen der Sonne waren auch leise die Dunkelheit und die Ruhe ins Land gezogen. Einige Sterne blitzten am Himmelszelt um die Wette. „Ja, womöglich", antwortete Adara genauso leise. „Komm." Tom reichte ihr seine Hand. Adara zog sich am Tisch hoch, schlug seine Hand jedoch aus. Doch als sie die ersten Schritte tat und so sehr wackelte, dass sie selbst befürchtete, wieder umzufallen, kam er ihr zu Hilfe und umfasste sorgsam und vorsichtig ihre Hüfte, nahm ihre andere Hand in die Seine. Und von Tom gestützt gelangte sie wieder ins Schlafzimmer. „Wo schläfst du?" fragte sie ihn etwas verwirrt, als er ihr zurück aufs Bett half. Irgendwie mochte sie die Stimmung, die sich zwischen ihnen breitgemachte nicht. Es fühlte sich merkwürdig an. Falsch. Er war ein Mensch und sie war ein Fisch im Netz. „Keine Sorge, du kannst das Bett haben, ich nehme mit der Couch vorlieb", entgegnete er. „Ähm, noch etwas. Ich möchte mir gerne deine Narben anschauen." Adara schaute ihn an, etwas erschrocken, noch etwas skeptisch, aber vor allem noch sehr verängstigt. Doch schliesslich nickte sie und Tom setzte sich ans untere Ende des Bettes. „Das... das, ist doch nicht... das ist doch nicht möglich!", flüsterte er nach einer Weile. Stirnrunzelnd besah er sich die andere Stelle, die er genäht hatte. „Aber... wie zum Teufel?" Er verstand die Welt nicht mehr. Fés Wunden waren so gut wie verheilt, obwohl er sie erst vor wenigen Stunden verschlossen hatte. Er schaute sie entgeistert an. Sie schaute ihn an und in ihrem Blick lagen Angst und Sorge. „Deine Wunden", brachte Tom hervor. „Sie sind so gut wie verheilt." „Ist das nicht gut?", fragte Adara unsicher. „Gut? Das ist erstaunlich! So gut wie unmöglich, ich hab das so noch nie gesehen. Normalerweise dauert so etwas mehrere Tage bis hin zu einigen Wochen! Bei dir hat es lediglich wenige Stunden beansprucht. Wie kann das sein, Fé?"

Seine Verblüffung war ihm anzusehen. Adara schaute betreten zu Boden. Sollte sie es ihm sagen? Wenn es nur um sie selbst gegangen wäre, hätte sie es ihm bestimmt gesagt, doch hierbei ging es um ihr ganzes Volk. Ihre gesamte Art. Tom hatte selbst gesagt, dass er Arzt war. Wer garantierte ihr, dass er nicht versuchen würde, einen Vorteil aus diesem Wissen zu ziehen? Wer konnte ihr versichern, dass sie nicht bald schon in einem engen Gefäss enden würde, in dem sie gefangen sein würde und sich den Experimenten, die man an ihr durchführen würde, nicht entziehen konnte? „Fé? Alles in Ordnung?", hörte sie ihn fragen. Wieso zum Geier legte sie nur so viel Vertrauen in ihn? So viel Hoffnung in die Möglichkeit, dass er anders sein könnte, dass er gut und lieb sein könnte? „Ich möchte", begann sie „ich möchte, dass du mir etwas versprichst."

Tom war erstaunt. Eine Meerjungfrau wollte ihm ein Versprechen abnehmen. „Ja, okay, was denn?" „Ich möchte, dass du mir versprichst, dass alles, was ich dir erzähle, unter uns bleibt", murmelte sie, immer noch auf den Boden starrend „und dass du das Wissen, das du über meine Art erlangst wie ein Geheimnis bewahrst und es nie, niemals jemandem weitergibst oder es gegen mich und oder meine Art einsetzt", schloss sie. Jetzt war es raus. Es waren die Grundlagen ihrer Existenz, verpackt in einer umfangreichen Bitte, die sie einem Menschen gegenüber äusserte und die ihn unwiderruflich daran binden würde. Diese Bitte war ein Zeichen von Misstrauen gegenüber Tom, das wusste sie. Dass sie jedoch als Meerjungfrau mit ihm sprach jedoch war ein weitaus grösserer Vertrauensbeweis und sie hoffte, dass er das genauso sah. „Ich verspreche es dir", erwiderte Tom. Ihm würde es leicht fallen, dieses Versprechen einzuhalten. Er war ein Einsiedler, nicht gerade gesprächig, hatte sein Interesse in seine früheren Hobbies verloren. Wem konnte er denn schon etwas erzählen? Dem Schuhschrank vielleicht? Adara schaute ihn aus ihren grossen, blauen Augen an. „Wir heilen", sagte sie unvermittelt. Tom runzelte die Stirn. „Wir können heilen, schau her." Sie ritzte sich ihren Handrücken mit ihrem Fingernagel auf. Tom wollte dazwischen gehen, es beenden, doch dann sah er, dass der kleine Kratzer schon zu verschwinden begann. Erstaunt sah er dabei zu, wie er allmählich verblasste, bis er gänzlich verschwunden war. Er hinterliess keine Spuren. „Das ist..." „Ungewöhnlich?", beendete Adara den Satz für ihn. „Ja!", keuchte Tom. „Genauso ist dein Fischschwanz auch verschwunden. Hat sich einfach aufgelöst!", keuchte Tom. „Wie bitte?", Adara war hellhörig geworden. „Meine Flosse ist genau so verschwunden?", hakte sie misstrauisch nach. „Ja! Hast du das nicht gewusst?" „Nein", erwiderte sie gedehnt. „Das ist noch nie passiert. Ich... wusste noch nicht einmal, dass das möglich ist, um wirklich ehrlich zu sein." Wie seltsam das schon wieder klang. Um wirklich ehrlich zu sein. Gegenüber einem Menschen. Marlene hätte sie geohrfeigt für so viel Naivität.

Einen Moment lang sahen sie sich verdutzt an. „Ich denke, ich kann morgen schon die Fäden ziehen", sagte Tom dann in die Stille hinein. „Ja, morgen", wiederholte Adara. Tom erhob sich. Es war jetzt wirklich Zeit schlafen zu gehen. „Gute Nacht Fé, schlaf gut", wünschte er ihr und verliess das Zimmer. Das war höchst erstaunlich. Wieso hatte sie nicht gewusst, dass sie ihre Schwimmflosse verlieren konnte? Er ging den Flur entlang und legte sich aus schmiedeeiserne Sofa, das von Polstern in grün-roten Bezügen bedeckt war. Er brauchte keine Decke, es würde eine Warme Sommernacht werden. Er hörte in der Ferne das Rauschen der Wellen, wie sie an die Klippen geworfen wurden und dort brachen. Er hörte auch eine Seemöwe, die in der Ferne schrie und den Wind, er die Klippen hinaufpreschte und sich in den Unweiten des Himmels verlor. Auch Adara hörte das Meer. Und zwar nicht nur das Rauschen der Wellen und wie sie am Fuss der Klippen brachen, sie hörte auch das Wehklagen des Meeres, spürte seine Trauer und fühlte mit ihm. Von weit her hörte sie ein Donnern, dann schlief sie ein.

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