26. Mensch und Menschlichkeit

„Freuen Sie sich denn gar nicht?", holte Henrys besorgte Stimme sie wieder in die Realität zurück und Adara schaute ihn nach einer halben Ewigkeit wieder an. „Wie bitte?", fragte sie etwas verwirrt, völlig aus dem Zusammenhang des Geschehens gerissen und offensichtlich noch immer ihren eigenen Gedanken nachhängend, während sich ihr Blick langsam wieder etwas klärte. „Ob es Sie denn nicht glücklich macht, dass wir heute so viel erfolg hatten", wiederholte Henry und musterte sie mit einem aufmunternden Lächeln im Gesicht, das seine abertausende, winzige Fältchen zum Vorschein brachte. „Natürlich freut es mich", beeilte sich Adara ihm zu versichern, kam dabei jedoch nicht ganz so überzeugend rüber, wie eigentlich gewollt. Sie hasste es, ihren Gemütszustand nicht mehr wie sonst immer unter Kontrolle zu haben. Ihn nicht mehr verstecken zu können. Die Menschen schienen etwas in ihr bewirkt zu haben, was es ihr schwer machte, sich zu verstellen. Tom, Henry und Maria schienen problemlos hinter ihre Maske sehen zu können und sie wollte gar nicht erst herausfinden, ob das auch alle anderen ihrer Art konnten. „Sind Sie sicher?", hakte Henry nun schon etwas besorgter nach und eine tiefe Falte hatte sich auf seiner Stirn gebildet. „Natürlich bin ich mir sicher", erwiderte Adara leise und senkte den Blick. „Es ist nur... Es beunruhigt mich auch, zu wissen, dass es Menschen gibt, die uns Böses wollen", fügte sie noch viel leiser hinzu und spielte krampfhaft mit ihren Fingern. Henry legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Die wird es immer geben. Aber ich werde nicht zulassen, dass Ihnen oder Master Thomas je etwas wiederfahren wird, darauf gebe ich Ihnen mein Wort." Und obwohl dieses Versprechen sie nicht vollends beruhigen konnte, wagte Adara es doch auch nicht, dem Butler zu wiedersprechen. Natürlich hatte er es nur gut mit ihr gemeint und sicherlich würde er alles in seiner Macht stehende tun, um sein Wort zu halten, aber dennoch wisperte eine kleine, fiese Stimme in Adaras Gedanken, dass der alte Mann auch beim letzten Mal nichts hatte ausrichten können. Dass ein dutzend Menschen gestorben waren und er es nie und nimmer hätte verhindern können. Und wenn Tom nun etwas in seiner Zelle widerfuhr, wenn er starb oder verletzt wurde, dann hätte weder Henry noch sie selbst irgendetwas dagegen unternehmen können. Und auch deshalb war sie mit ihrer doch recht beeindruckenden Leistung und der Ausbeute des Tages nicht wirklich zufrieden. „Wie viel haben wir schon zusammen?", ereiferte sie sich dann aber doch noch zu fragen, denn dieses Essenzielle Detail hatte sie wohl überhört haben müssen. „Ich weiß es noch nicht genau, Miss Adara. Aber wir werden die Checks noch heute zur Bank bringen und sie einlösen. Heute Abend wissen wir es dann genau", antwortete Henry milde und war für diesen einen kurzen Augenblick tatsächlich so alt, wie er aussah. Aber dieser Eindruck verflog bald und als er kurz darauf wieder aufs Gaspedal trat und sich der Bentley schnurrend über die asphaltierte Straße in Richtung Norden zog, verlor sich Adara wieder in ihren Gedanken, die sich immerzu um Tom und ihre Geschwister drehten, um Mörder und Attentäter und schwarze Gestalten, die sie nun noch nicht zu identifizieren wusste.

„Zweihundertdreiundachzigtausend Euro", verkündete Henry stolz und reichte Adara den Zahlungsbeleg der Bank, der die Buchung auf ihrem Konto bestätigte. Adara nahm das Papier etwas unschlüssig entgegen und betrachtete die Zahl, die schwarz auf weiß ihre ersten Erfolge verewigte. Doch sie freute sich nicht. Im Gegenteil, auf ihrer Stirn hatte sich eine tiefe Furche gebildet. Sie schien bedrückt und das entging auch Henry und Maria nicht. Doch der Butler hakte diesmal nicht nach. Nur Maria verstand Adaras Reaktion nicht ganz. „Es reicht einfach noch nicht. Das ist alles. Das ist ein Hundertstel von dem, was wir zusammenbringen müssen", erklärte Adara knapp und leise, als Maria sie verständnislos und kopfschüttelnd musterte. In den folgenden Tagen wiederholte sich das ganze Schauspiel noch etliche Male und Adara hörte auf mitzuzählen, hörte auf, sich beim Lügen schlecht zu fühlen und auch damit, zu lachen. Als sässe ihr die Pistole im Nacken hetzte sie Henry und Maria von einem Händler zum nächsten, legte sich abends schlafen und stand morgens in aller Frühe wieder auf, um wieder auf Verkaufstour zu gehen. Alle Ruhe und Ausgeglichenheit schien mit jedem verkauften Aquamarin mehr von ihr zu weichen und auch die Freude war ein immer seltener gesehener Gast in ihrem Wesen. Doch die Haushälterin und der Butler verstanden das und nahmen Rücksicht. Auch ihnen wurde es mulmig in der Magengrube, wenn sie an ihren Arbeitgeber dachten, der zu unrecht hinter Gittern hockte.

Die Nacht war kühl und feucht und Tom fror kläglich in seiner kargen Zelle. Blutergüsse an seinem Rücken ließen jede seiner Bewegungen zu wahren Kraftakten werden und die Schmerzen, die seinen ganzen Körper durchzuckten, ließen sein Gesicht die schlimmsten Grimassen ziehen. Aber immerhin hatten diese schier endlosen, sich im Kreis drehenden und nichts bringenden Verhöre aufgehört. Endlich war es ihm erlaubt zu schlafen – oder wenigstens zu liegen, denn obwohl er todmüde war, konnte er nicht ins Land der Träume sinken. Durch die Gitterstäbe am winzigen Fenster seiner Zelle konnte er einen kleinen Teil des Sternenhimmels sehen. Ein wenig Licht drang durch ebendiese winzige, quadratische Öffnung hoch oben in der Betonmauer zu ihm herunter auf die harte Pritsche, auf der er mehr schlecht als recht lag und sich fragte, ob Fé wohl in diesem Moment auch schlief. Ob es ihr wohl gut ging und Henry und Maria sich gut um sie kümmerten. Er verdrängte den Gedanken an die bloße Möglichkeit, dass sie hätte gegangen sein können. Verschwunden und unauffindbar für ihn. Sie musste einfach noch da sein. Es machte ihm Hoffnung, hielt ihn in der Realität. An irgendeinen Strohhalm musste er sich ja klammern, um all das hier, diese Hölle, durch die er gerade ging, zu überstehen und nicht verrückt zu werden – oder einfach aufzugeben, gebrochen zu werden und zu sterben wie ein räudiger Hund. Denn darauf hatte es offensichtlich jemand abgesehen. Die tägliche Suppe, die er bekam, war mit Glassplittern gespickt und deshalb blieb ihm selten mehr als die zwei Scheiben angetrockneten Brotes übrig. Den Hofgang verweigerte er auch schon seit Tagen, seitdem ihm ein Mithäftling gefährlich nah getreten war. Wie das nur schon klang. Mithäftling. Als wäre er einer von ihnen. Er würde in Berufung gehen, sobald er aus diesem Loch von Untersuchungshaft rauskam. Wenn das je geschehen sollte. Noch lange schaute er in das kleine Stück Sternenhimmel hoch und dachte daran, was alles getan werden musste, um diese Ungerechtigkeit zu unterbinden. Auch dass Leute, wenn auch nicht immer Polizisten, dazu angestiftet wurden – und davon war Tom felsenfest überzeugt – Insassen so lange zu verprügeln, bis sie bekamen, auf was sie aus waren, war inakzeptabel. Und da Tom ihnen eben nicht gegeben hatte, was sie gewollt hatten, nämlich sein Geständnis, war er sicher, dass sie bald zurückkommen würden. Und dann würde er sich definitiv gar nicht mehr rühren können.

„Guten Tag", begrüßte sie ein Mann mit offenbar ehrlicher Freundlichkeit und wies ihnen zwei helle Ledersessel zu. Sein Anzug sah teuer aus und schimmert leicht bläulich im Gegenlicht. Adara ging vor Henry her und nahm Platz. Das Büro war zu allen Seiten hin in Glas gefasst und hinter dem mächtigen, modernen Schreibtisch und den riesigen Fenstern erhob sich die Großstadt Londons. „Ich freue mich wirklich, Sie hier begrüßen zu dürfen, Miss Adara. Es ist lange her, dass wir ein solches Angebot bekommen haben", meinte er und schenkte ihr ein Lächeln. Auf seinem Schreibtisch stand ein goldenes Schild, auf dem in geschwungenen Lettern „Alexander Palmer, Geschäftsführer" eingraviert war. „Verzeihen Sie, Mister Palmer", meinte Henry an ihrer Stelle und rückte in seinem Sessel nach vorn. „Wir wollten es nicht an die große Glocke hängen, Sie wissen schon."

„Oh, aber natürlich! Nein, wir achten natürlich streng darauf, machen Sie sich darum nur keine Sorgen, keiner wird Ihr kleines Geheimnis erfahren und schon gar nicht von uns. Bisher hat zumindest noch keiner Verdacht geschöpft. Alle Transaktionen werden über numerische Konten abgehandelt und auch rechtlich sind wir abgesichert, vertrauen Sie mir. Wir machen das hier schließlich nicht zum ersten Mal", versicherte der Mann in dem dunklen Anzug und mit der glänzenden Kravatte, die so gut zu seinen hohen Wangenknochen und den dunklen Augen passte. „Das ist schön und gut", meinte Henry „aber können Sie uns das garantieren?", hakte er etwas unsicher nach. Mister Palmer schien nachzudenken. „Das Unternehmen ist sehr interessiert daran, mit Ihnen Geschäfte zu machen und ich hoffe, das ist Ihnen bekannt. Leider kann ich keine Garantie dafür geben, dass niemals jemand skeptisch werden wird, denn das kann nun einmal passieren. Das Einzige, das ich Ihnen versprechen kann, ist, dass ich und alle Mitarbeiter höchstes Stillschweigen darüber halten werden." So ging es noch eine ganze Weile weiter, bis Henry und Adara endlich zur Gänze von Cartier und Alexander Palmer überzeugt waren. Und dann, nach weiteren etlichen Stunden, einem Mittagessen und mehreren Kaffees, welche Adara dankend ablehnte, stand der Deal dann endlich.

Und obwohl Alexander Palmer gewusst hatte, auf was er sich da einließ, schaute er nun doch etwas erstaunt aus der Wäsche, als Henry den silbernen Koffer auf den Bürotisch hob und vorsichtig den Deckel anhob. Tausende funkelnde Steine glitzerten und glänzten darin um die Wette und Mister Palmer musste erst gleich mal um Luft ringen. „Das ist die erste Fuhre. Sagen Sie ruhig Bescheid, wenn sie mehr brauchen oder wenn etwas verändert werden muss", meinte Adara viel leiser als beabsichtigt und wollte sich schon zum Gehen wenden, als Alexander Palmer sich tatsächlich noch räusperte. „Da wären in der Tat noch zwei Dinge", brachte er hervor und kratzte sich peinlich berührt am Hinterkopf, genauso wie Tom es immer tat. „Können Sie... Ich meine, sind Sie in der Lage... Die Edelsteine auch direkt in die Schmuckfassungen einzubringen?", fragte er und holte ein ledernes Schmuckkästchen aus einer der Schreibtischschubladen hervor. Als er es öffnete, kam darin ein silbernes Armband zum Vorschein mit etwas über zwei dutzend Aussparungen und dellen-artigen Einbuchtungen. „Können Sie das?", wiederholte er seine Frage und Adara trat einen Schritt. Sie besah sich das Armband, das nun noch recht kahl und unfertig ausschaute. Schließlich hob sie die Hände zum Schmuckkästchen, blickte dann aber nochmals zum Geschäftsführer empor, als ob sie seine ausdrückliche Erlaubnis einholen wollte und erst als dieser auffordernd nickend seine Zustimmung gab, holte sie das Schmuckstück heraus. Als sie es einen Moment später wieder seinem Besitzer zurückgab, fehlte von den Ausbuchtungen jede Spur. An deren Stelle prangten nun zwei dutzend mini-Aquamarine und funkelten mit dem Silber um die Wette. Und wieder stockte Mister Palmer der Atem. „Das ist umwerfend", keuchte er und nahm das Schmuckstück wieder an sich. Ein Moment verging, in dem Alexander Palmer zwischen Adara und dem Armband hoch erfreut hin und herschaute, scheinbar unfähig etwas dazu zu sagen, weswegen ihm Adara zu Hilfe kam. „Wenn Sie erlauben", meinte sie und ein letztes, kleines, unsicheres Zittern in ihrer Stimme konnte sie nicht verbergen. „Ich kann noch etwas mehr als das", meinte sie und hielt ihm einen weiteren Augenblick später ein identisches Exemplar des Armbandes vor die Nase. Nur diesmal bestand es ausschließlich aus den blau schimmernden Edelsteinen. Unglauben zeichnete sich erst auf dem Gesicht ihres Gegenübers ab, dann aber breitete sich ein breites Grinsen auf demselben ab und schlussendlich schüttelte er ihr überschwänglich die Hand und betonte immer wieder, wie sehr er sich über die Zusammenarbeit freute. Irgendwann bedeutete Henry Adara, dass es Zeit war zu gehen und so verabschiedeten sie sich von Alexander Palmer.

Henry und sie bahnten sich mit dem Vertrag in der Tasche ihren Weg zuden Aufzügen und reihten sich in die Gruppe der wartenden Leute ein. Dabeientging Adara nicht, wie ein kahlköpfiger junger Mann mit dunkler Brille undziemlich engen Hosen sie in Gedanken versunken musterte. Obwohl es ihr rechtunangenehm war und sie schier jeden einzelnen seiner Blicke auf sich spürenkonnte, hielt sie sich ihm gegenüber zurück. Schließlich konnte sie nicht jedemMenschen, der sie komisch anschaute, unterstellen, er hätte ihr Geheimnisgelüftet. Wahrscheinlich hatte er nur etwas an ihrem Kleidungsstil auszusetzen.Schließlich waren sie hier in einem mehr als schicken Bürogebäude, welchem dieAngestellten in Mode und Geschmack in keinster Weise nachstanden. Doch als sichdie Lifttüren öffneten und Adara hinter Henry und den anderen in den Aufzugsteigen wollte, hielt der junge Mann sie zurück. „Verzeihen Sie bitte, Miss,aber würden Sie mir wohl kurz folgen?", meinte er mit fester Stimme und zogAdara, die nicht wusste, wie ihr geschah, am Handgelenk mit sich. Henrybemerkte Adaras Abwesenheit in letzter Sekunde, trat mit einem beherzten Sprungwieder aus dem Aufzug und heftete sich an ihre Versen. Das jedoch stellte sichals recht schwierig heraus, da er ab und an nur einen Blick auf die blondenHaarspitzen oder ein Fetzen ihres Kleides, das um die nächste Ecke verschwand,erhaschen konnte. Irgendwann aber fehlte auch von jenen kleinen Indizien jedeSpur und Henry blieb ziemlich verloren mitten auf dem Flur stehen. Panik machtesich in ihm breit und der Schweiß trat kalt auf seine Stirn. Das durfteverdammt nochmal nicht wahr sein. Er hatte noch nie jemanden in einem Büroverloren. Und schon gar nicht, wenn es sich dabei um eine Meerjungfrauhandelte, die ihm von seinem Arbeitgeber anvertraut worden war. Planlos rissder alte Butler eine Tür nach der anderen auf, streckte seinen slibernenHaarschopf hinein, entschuldigte sich für den Tumult und wandte sich dann demnächsten Raum zu. Irgendwann erschien der Geschäftsführer – begleitet von eineretwas aufgescheuchten Sekretärin – am anderen Ende des Flures. „MisterPalmer!", keuchte Henry ganz außer Puste von dieser schon beinahe sportlichenAktivität „Mister Palmer, Sie müssen mir helfen!", setzte er hinzu, als ernäher kam. Alexander Palmer schien zwar im ersten Moment nicht genau zuverstehen, was vor sich ging, aber auch auf seiner Stirn hatte sich innertkürzester Zeit eine tiefe Sorgenfalte gebildet. Als Henry ihm dann von demVorfall am Fahrstuhl berichtet hatte, verschwand diese jedoch von ihrem Platzhoch oben auf seinem Haupt und zu Henrys völligem Unverständnis seufzte derGeschäftsführer erleichtert. „Ach, das hört sich ganz nach Ian Bell an",murmelte er kopfschüttelnd und beeilte sich dann ein „Keine Sorge, er ist einsehr zuverlässiger Mitarbeiter", hinzuzufügen. „Er ist nur etwas... nun ja...unkonventionell."     


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