21. Eine überaus unerwartete Wendung
Und Tom?, fuhr es ihr durch den Kopf und bewirkte, dass sich ihre Schritte verlangsamten. Wenn sie einfach einige Aquamarine auftauchen lassen würde? Keiner würde sich etwas dabei denken und sie wäre dann einfach verschwunden. Es waren eh nur noch vierundzwanzig Tage übrig, bis sie ein für allemal zurückging. „Meine Frau", erklang es plötzlich hinter ihr. Es war Henrys Stimme, ohne Zweifel, er war schließlich die einzige Person, die mit ihr in diesem Raum war. Aber seine Stimme hatte sich grundlegend verändert. Sie schnarrte nicht mehr, war auch nicht mehr anklagend oder forschend. Nein, irgendwie offener, ehrlicher. Und Adara blieb auf einmal stehen. Henry seufzte tief, so als versuche er eine schwere Last von seinen Schultern zu hieven. „Meine Frau war auch eine", meinte er und Adara gefror dabei das Blut in den Adern. Ihr Herz schien in diesem Moment seinen Dienst zu quittieren und mindestens fünf Stockwerke tiefer zu rutschen. Dass sie nicht mehr atmete, bemerkte Adara erst, als ihr allmählich schwindelig wurde. „Wie bitte?", keuchte sie mit erstickter Stimme. Sie konnte nicht fassen, was der alte Mann da gerade gesagt hatte. Nein. Er konnte nicht dasselbe meinen wie sie, das war... das war einfach unmöglich. „Eine Meerjungfrau."
Und das bestätigte jedoch kurz darauf ihre schlimmsten Befürchtungen. Adara musste sich am Türrahmen festhalten. Ihre Sinne hatten sie also nicht getäuscht. Deswegen hatte er sie niemals auch nur eine Sekunde lang aus den Augen gelassen. Er wusste tatsächlich um ihr Geheimnis. „Ich muss fort", hauchte Adara und machte sich vom Türrahmen los, wollte durch die Eingangshalle gehen, doch eine Hand hielt sie zurück. „Bitte geh nicht", bat Henry sie nun eindringlich, aufrichtig, flehend. „Er brauch deine Hilfe. Er braucht sie wirklich", raunte er und schaute ihr dabei in die Augen. In seinen hellen, wie Graphit schimmernden Augen konnte Adara die Verzweiflung ebenso sehen wie die unbändige Hoffnung, die er in sie legte. „Ich kann schweigen wie ein Grab, aber bitte bleib", meinte er und schaute Adara lange Zeit einfach nur an, so wie ein Angeklagter, der nichts mehr zu seiner Verteidigung hervorbringen konnte. Irgendwann ließ sie ihren Blick zu seiner Hand wandern, die noch immer ihren Ellenbogen umfasst hielt, dann jedoch sofort von ihm abließ. „Ich glaube dir nicht", flüsterte Adara. Die kaum hörbaren Worte zauberten aber gegen alle ihre Erwartungen ein sanftes Lächeln in Henrys Gesicht. „Oh doch, und was für eine sie war, meine Frau", erwiderte der alte Butler nur und ein jugendlicher Glanz stahl sich in seine Augen. „Komm mit, ich zeig es dir", fügte er hinzu und ging auf die Treppe zu, die ins Obergeschoß führte. Adara zögerte. Weshalb sollte sie ihm vertrauen? Sie hätte auch einfach durch die Tür raus gehen und verschwinden können. Aber etwas hielt sie zurück. Nein, noch schlimmer. Etwas drängte sie dazu, Henry zu folgen und etwas zu tun, wovor sie sich eigentlich hatte hüten wollen: dem alten Mann zu vertrauen. Und dann, ganz langsam, beinahe widerwillig, aber stetig, setzte sie einen Fuß vor den anderen und ging ihm tatsächlich hinterher – wenn sie auch innerlich über sich selbst fluchte. Wie naiv musste man eigentlich sein, einem Menschen, der das wohl größte Geheimnis auf Erden kannte, hinterherzusteigen? Ganz am Ende des langen Flures öffnete der Butler schließlich eine Tür, hinter der sich eine Wendeltreppe verborgen hielt und die in den Dachstuhl führte. Und nun wurde Adara dann doch etwas skeptisch. Dort oben würde sie niemand schreien hören. Sie wäre allein mit dem alten Mann. Auch fiel ihr erst jetzt auf, dass er aufgehört hatte, sie zu siezen, als ihr Geheimnis gelüftet hatte. Er duzte sie als wäre es das Normalste auf der Welt. „Bitte, nach dir", meinte der Butler auch prompt und Adara korrigierte ihn etwas schroff und bedachte ihn mit einem warnenden Blick. „Sie." Und irgendetwas schien dann in Henry vorzugehen, denn der kindliche Schimmer in seinen Augen verblasste wieder. Er öffnete erstaunt den Mund, schloss ihn dann aber wieder. „Natürlich. Verzeiht bitte. Ich stehe offensichtlich ein wenig neben mir", meinte er heiser und räusperte sich. Adara hielt kurz inne, stieg dann aber die Stufen dennoch nach oben. Oben angekommen stand sie auf einem winzigen Flur, von dem vier Türen abgingen. Durch ein kleines Fensterchen im Dach konnte man nach draußen schauen auf saftige Wiesen und die mit Kies aufgeschüttete Auffahrt. Die Zweite von links, meinte der Butler hinter ihr und wies ihr mit der Hand die besagte Tür zu. Adara drehte den matten Türknauf und die dunkle Tür schwang nach innen auf. Kurz darauf standen sie in einer aufgeräumten, hellen Kammer, in der nebst einem Bett und einer schulterhohen Kommode kaum etwas anderes zu finden war. Am Fußende des Bettes stand eine dunkle Truhe, die einen seltsam angenehmen Kontrast zur hellgelben Wandfarbe und dem gleichfarbigen Bettbezug schuf. „Mein kleines Reich", meinte Henry bescheiden. Das Zimmer war nicht sonderlich groß, das mochte stimmen. Aber es war außergewöhnlich schön. Licht durchflutete den Raum. Ein bodentiefes Fenster war in die Dachschräge, die das halbe Zimmer für sich beanspruchte, eingelassen und führte auf einen winzigen, balkonähnlichen Vorsprung auf dem Dach hinaus. „Oh, bitte, machen Sie es sich bequem", forderte der Butler Adara auf, die sich Zeit ließ, bevor sie sich auf sein Bett setzte. Ein Stuhl war nicht vorhanden. Henry begab sich unter unterdrücktem Ächzen auf die Knie und öffnete die Truhe, die alle seine Schätze beherbergte. „Es war im Sommer '67, als ich am Strand spazieren ging. Ich arbeitete damals noch in London und war nur übers Wochenende in Manchester", erzählte er und hob dabei kurz den Blick, um Adara anzuschauen. „Und dann lag sie da. Halb Mensch, halb Fisch. Einen Moment später war der Fischteil dann komplett verschwunden und das Wasser umspülte ihren perfekten Körper. Ah, da ist es ja!" Er zog einen verstaubten Bilderrahmen unter einem Berg seiner Sachen hervor und reichte ihn ihr. Schon nur nach dieser kurzen Erzählung zweifelte Adara schon an Henrys Geschichte. Wasser soll den Menschlichen Körper seiner Frau umspült haben. Ihr eigener kehrte bei jeder noch so kleinen Berührung mit dem kühlen Nass wieder in seine ursprüngliche Gestalt zurück. Bit Schuppen und Gräten und allem, was eben dazugehört. Es sei denn, es gab noch eine andere Möglichkeit. Wenn sie sein Frau gewesen war, musste sie schließlich einen Weg gefunden haben, das Wasser-Problem irgendwie zu umgehen, wenn nicht es zu lösen.
„Sie hat mich nur einmal angelächelt und ich hab sie auf der Stelle geheiratet", erklärte Henry und lächelte dabei verschmitzt. Seine Augen leuchteten, als er das sagte und er ließ seinen gekräuselten Schnurrbart auf seiner Oberlippe tanzen. Adara besah sich das Bild, konnte aber recht wenig erkennen. Eine dicke Staubschicht hatte sich auf dem Glas angesammelt, also holte sie kräftig Luft. Im selben Moment versuchte Henry noch zu protestieren. „Halt, warten Sie, hier!" Aber es war zu spät. Während er sich ruckartig nach vorne lehnte und ihr ein Taschentuch reichte, damit Adara den grauen Staub wegwischen konnte, blies sie ihm den Großteil desselben mitten ins Gesicht. Wie versteinert verharrte er einen langen Moment in dieser Position. Mit zusammengekniffenen Augen und Mund und einem Gesicht, das nun aussah, als hätte jemand mit einem Spachtel eine dicke Lehmschicht draufgepackt. Adara fiel der Bilderrahmen schier aus den Händen, als sie Henry sah. Ein forderndes Etwas zwischen einem lauten Auflachen und einer piepsenden Entschuldigung wollte in diesem Moment aus ihrem Mund entweichen, doch Adara war schneller und presste sich beide Hände über Nase und Mund. In diesem Moment waren Schritte auf der Wendeltreppe zu hören und einen Moment später stand Maria dann ebenfalls im Zimmer, mehr unsicher und verstört aber als Henry und Adara zusammen. „Was... Was zum Teufel geht denn hier vor sich?", rief sie empört aus und stemmte sich beide Hände in die massigen Hüften. Henry rührte sich nun erst wieder und benutzte das Taschentuch, das er eigentlich Adara hatte reichen wollen um den Bilderrahmen abzuwischen, um sich selbst übers von der Staubschicht verdeckte Gesicht zu fahren. Noch bevor er seiner Arbeitskollegin hätte antworten können, hatte diese die Situation jedoch schon aufgegriffen und kam nun langsam näher ans Bett. „Sagen Sie mal... Sie wollen ihr doch nicht erzählen, dass... dass...", versuchte sie vom Butler zu erfahren, ohne die Sache beim Wort zu nennen. Dann aber entschied sie sich anders und wandte sich stattdessen an Adara: „Miss, egal was er Ihnen über seine Frau erzählt hat, glauben Sie diesem alten Dummschwätzer kein Wort. Manchmal geht es einfach mit ihm durch und niemand kann ihn aufhalten. Das letzte Mal hat er diese Geschichte der Dame des Hauses verkaufen wollen und wäre dafür beinahe gefeuert worden. Lassen Sie ihn einfach. Er vermisst seine Frau schrecklich das ist alles", meinte sie und strafte Henry damit gnadenlos Lügen. Henry, der noch immer damit beschäftigt war, den Staub aus seinen Augenwinkeln zu entfernen, seufzte nur schwer. „Maria, lassen Sie es gut sein", sagte er und erhob sich unter noch mehr Ächzen wieder vom Boden. Adara jedoch wusste in diesem Moment nicht, was oder wem sie noch glauben sollte und was oder wem lieber nicht. „Haben Sie seine Frau gekannt?"
Ihre Frage war an Maria gerichtet und wohl so leise formuliert, dass diese anscheinend erst nicht wusste, ob sie gerade richtig gehört hatte. „Ob ich sie gekannt habe?", wiederholte sie die Frage. Augenblicklich schien sie um einiges weniger aufgebracht zu sein als noch eben, als sie Henry als unglaubwürdig hingestellt hatte. Adara nickte. Marias Blick flog zu Henry, unsicher, was sie nun antworten sollten. Wäre Henry wirklich ein Lügner gewesen, hätte Maria dann nicht geradeaus sagen können, was sie zu sagen hatte? Irgendetwas verbargen die beiden doch. Erst als Henry kaum merklich nickte, nickte auch Maria. „Natürlich habe ich sie gekannt. Wir haben alle drei gleichzeitig hier zu arbeiten angefangen", erklärte sie, schaute dann wieder unsicher zu Henry. „Ist schon gut, Maria. Sie ist auch eine", meinte Henry nun schon fast gutmütig und blickte kurz zu Adara, um diese mit einem sanften Lächeln zu überraschen. Marias Blick flog zwischen den beiden hin und her. Ungläubig und verwirrt schaute sie aus der Wäsche und setzte sich nach einigen Momenten des Schweigens schließlich zu Adara auf Henrys Bett. „Ist das Euer Ernst? Ihr wollt mich nicht hinters Licht führen? Sie ist... Sie ist auch eine?", fragte sie immer wieder und deutete dabei mit ihrem Daumen auf Adara. Henry nickte nur und schien überaus glücklich mit sich selbst zu sein. „Dann stimmt es also?", fragte nun Adara. „Henry war mit einer Meerjungfrau verheiratet?"
Sie musste es einfach wissen. So viele Legenden ihrer Kultur besagten, dass es solche Beziehungen zu Menschen einfach nicht geben konnte. Und wenn es einen solchen Fall gab, dann musste es doch noch mehr davon geben, oder? Beim Wort Meerjungfrau zuckte Maria zusammen, als hätte man sie gerade zu zehn Peitschenhieben verurteilt. Dann aber bejahte sie schließlich.
„Wissen Sie denn nicht, was das bedeutet?", fragte Henry, der es endlich geschafft hatte, sein Gesicht vollends zu säubern, nun schon fast euphorisch. Auf Marias Gesicht zeichnete sich aber erst nur Ratlosigkeit ab. „Dass diese Art noch nicht ausgestorben ist? Keine Ahnung, machen Sie es doch nicht so spannend, Henry!"
„Nein! Das bedeutet, dass wir Tom aus der Untersuchungshaft rausholen können!", rief der Butler und klatschte sich dabei vor Vorfreude begeistert in die Hände. „Sie beherrschen doch auch diesen kleinen Trick mit den Aquamarinen?", hakte er dann aber zur Sicherheit doch noch nach. Unsicher bejahte Adara und wieder klatschte der alte Henry sich vor Freude begeistert in die Hände. „Ich schlage vor", begann er, wurde dann aber von Maria unterbrochen. „Ich schlage vor, dass wir nun wieder hinunter gehen und uns einen Plan zurechtlegen, wie wir das alles anstellen, bevor wir hier oben noch versauern", sagte sie und bedachte den sonst so adretten Henry mit einem strengen Blick. Dieser hob nur abwehrend die Hände. Und so ging es wieder hinunter. „Sagen Sie, Miss, weiß Thomas eigentlich von ihrem... nun ja... Geheimnis?", fragte Maria, noch während sie den langen Flur in Richtung Marmortreppe durchquerten. „Ja, Tom weiß es natürlich. Er war es auch, der mich gefunden hat", erwiderte Adara so leise, dass sogar Henry und Maria, die in unmittelbarer Nähe standen, Mühe hatten, sie zu verstehen. Irgendwie war es ihr auch unangenehm, plötzlich so offen darüber zu sprechen und das vor allem weil sie sich der Gegenwart von Menschen befand. Obwohl, gegenüber ihresgleichen hätte sie es wohl verschwiegen. „Er hat Sie gefunden? Wie ist das denn passiert? Er ging meines Wissens nach kaum bis vor die Haustür", erwiderte Henry interessiert und so kam es, dass Adara ihnen die ganze Geschichte erzählte. Natürlich mit einigen Aussparungen. Sie erwähnte nicht den Umstand, dass ihr Vater ermordet und sie daraufhin verscheucht worden war, nicht, dass Tom ihrer allerersten Verwandlung beigewohnt hatte und auch nicht, dass sie eine Meeresprinzessin war, die vorhatte, den Mörder ihres Vaters davon abzuhalten, den Thron widerrechtlich zu besteigen. „Ihr habt Euch also eine Scheinidentität zuleget?", meinte Henry und drehte sich zu ihr um, als sie in der großen Eingangshalle standen. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage und seine in die Höhe gezogene Augenbraue ließ seine Zweifel deutlich erkennen. Adara fühlte sich in diesem Moment irgendwie dumm und naiv. „Weshalb ist es denn so schlecht?", wollte sie wissen. Ihrer Meinung nach war Felicitas Duncan doch die perfekte Deckung. Wer würde sie schon infrage stellen, wenn Tom ihrer Geschichte ebenfalls treu blieb? Henry jedoch seufzte als stünde ihm eine unüberwindbar schwierige Aufgabe bevor. „Nun ja, Miss", begann er „Master Thomas befindet sich zurzeit in Polizeigewahrsam. Wenn Ihr ihm helfen wollt – und ich gehe davon aus, dass Ihr das auch tatsächlich wollt", meinte er dann und hielt kurz inne, um Adara eindringlich anzuschauen. „Natürlich will ich das!", protestierte sie auf der Stelle. Nun, da sie wusste, dass Henry und Maria zu den Eingeweihten zählten, bestand kein Grund mehr für sie, nicht hier zu bleiben. Henry nickte einmal kräftig und ging dann ins hintere Wohnzimmer, jenes das nicht für öffentliche Zwecke bestimmt war. „Gut. Dann werden Sie früher oder später von den Beamten entdeckt werden, selbst wenn Maria und ich alle Transaktionen überwachen und die Kaution der Polizei überbringen. Man wird schließlich fragen stellen. Insbesondere woher denn das viele Geld so plötzlich kommt. Und dann ist es praktisch, nicht lügen zu müssen", erklärte er und begann, in einem der antik wirkenden Wandschränken aus geöltem Holz zu kramen, bis er ein kleines, in schwarzes Leder gebundenes Büchlein, einen Stapel Papier und einen Stift hervorzog. „Mit den Lügen verhält es sich nämlich folgendermaßen: Je mehr Eingeweihte es gibt, umso schwieriger ist es, bei ein und derselben Version zu bleiben. Vertraut mir, es ist am klügsten, so nah wie nur irgend möglich an der Wahrheit dran zu bleiben." Er verschloss den Schrank wieder und kam zu Adara und Maria zurück, die es sich auf den hellen Sofas bequem gemacht hatten. „Also. Dann fangen wir mal an", sagte er, hielt aber sogleich wieder inne, da genau in diesem Moment sein Magen zu knurren begann. Entschuldigend sah er erst zu Adara und dann zu Maria. „Meine Beste, dürfte ich Sie bitten?", fragte er letztere, auf deren Gesicht sich ganz langsam ein Grinsen abzeichnete. „Natürlich, der Herr. Was darf es denn sein?", erwiderte sie im Gehen. Adara schaute Maria neugierig nach, wie diese den Raum verließ, nur um ihren Kopf einen Moment später wieder durch die Tür zu stecken und zu fragen: „Darf es für Sie auch etwas sein, Miss?"
Diese plötzliche, lockere Art gefiel Adara ausgesprochen gut, es brachte sie zum Lachen. Sie brauchte sich irgendwie nicht mehr zu verstellen. Es war auf einmal, als wäre Tom nie weggegangen. Als wären sie noch immer zu zweit allein im Haus auf den Klippen. Sie nickte und Maria verschwand nun endgültig. „Wie haben Sie es eigentlich geschafft, mein Geheimnis so schnell zu lüften?", fragte Adara dann wieder an Henry gewandt, auf dessen Gesicht sich sogleich wieder dieses verschmitzte Lächeln stahl. „Nun, Miss, allem voran wusste ich ja, auf was man achten muss. Dieser neugierige, fast kindliche Blick, mit dem Sie die Welt betrachten. Als sähen Sie das alles zum allerersten Mal – was wohl auch zutreffen mag. Dazu kommt die Art und Weise mit Ihr Euch bewegt. So elegant und leicht, als wärt Ihr eine Feder. Wenn man Euch zuschaut, dann könnte man meinen, der Boden wäre nicht hart und der Himmel nicht blau. Und zu guter Letzt natürlich die Augen. Diese unendlich tiefblauen Augen. Ich darf anmerken, dass sich in ihnen die Tiefen des Ozeans besonders wundervoll wiederspiegeln", erklärte der alte Butler und wieder blitzte dieser jugendliche Glanz in seinen Augen auf. Etwas schüchtern strich sich Adara eine Haarsträhne aus dem Gesicht hinters Ohr. „Dann ist es so offensichtlich?", hakte sie nach einer Weile nach. „Nur, wenn man es weiß. Aber ja, ist es. Und auch wegen Eurer offensichtlichen Abneigung gegen Wasser. Von da an war es für mich dann klar." Und er lachte auf, als Maria einem großen Teller, auf dem sich dutzende Sandwiches stapelten, wieder zurückkam und den wackeligen Berg behutsam auf das Kaffeetischchen hievte. „So, die Bestellung des Herrn", meinte sie spöttisch und deutete einen nicht ganz ernst gemeinten Knicks an, bevor sie sich das erste Sandwich schnappte und beherzt hineinbiss. Auch Henry nahm sich eines der belegten Brote, griff sogar gleich nach einem zweiten, was ihm auf der Stelle empörte Blicke von Maria einbrachten, doch ohne sich rechtfertigen zu müssen biss er in das eine, während er das zweite Adara reichte. Mit der nun freien Hand schnappte er sich Papier und Stift und machte es sich im hellen Ledersessel bequem. „Na dann, lasst uns überlegen, was alles zu tun ist", sagte er zwischen zwei Bissen und schrieb in ordentlichen Lettern ‚Mission Rettet Thomas Reginald Right' in die Kopfzeile des obersten Blattes. „Als erstes, müssen wir Euch rechtsfähig machen, Miss", erklärte er und zeigte mit dem Sandwich in Adaras Richtung. „Das ist keine große Sache. Mein Bruder arbeitet in der Staatsverwaltung und ist zuständig für die Ausstellung aller Personenausweise. Er hat auch meiner Frau und einigen anderen neue Papiere ausgestellt." Bei diesen Worten stutzte Adara. „Wie meinen Sie das? Wer sind diese anderen?", hakte sie plötzlich interessiert nach und richtete sich auf dem Sofa auf. Henry hob den Blick von seinem Zettel und bedachte sie wieder mit einem dieser verschmitzten Blicke, die irgendwie so gar nicht zu dem älteren Herrn passen wollten. „Denken Sie etwa, dass Sie die einzige Meerjungfrau wären, die überhaupt jemals an Land gegangen war?", erwiderte er, ohne weiter zu schreiben. Adara war verwirrt. Natürlich wusste sie, dass sie nicht die einzige war, schließlich war ihr Urururgroßvater auf diese Weise ums Leben gekommen. Aber sie war schon davon ausgegangen, dass sie die einzige ihrer Art war, die es in der Gegenwart eines Menschen geschafft hatte zu überleben ohne als Versuchskaninchen zu enden. Und genau das war anscheinend falsch. „Wie viele gibt es denn?", fragte sie weiter ohne auf Henrys Gegenfrage einzugehen. „Oh, ein paar hundert", erwiderte dieser gelassen und widmete sich wieder seiner kleinen Liste. Adara schnappte entsetzt nach Luft. Ein paar hundert! Das konnte doch unmöglich unbemerkt geblieben sein. Weder an Land noch unter Wasser. Oder etwa doch? Menschen gab es so viele, dass ein paar hundert mehr oder weniger nicht groß auffielen. Aber unter den Meermenschen? Wer konnte ein Interesse daran haben, das Verschwinden hunderter zu vertuschen? Oder dienten gerade diese Leute, die sich – freiwillig oder nicht – gegen ein Leben im Meer entschieden hatten etwa der Propaganda, der auch Adara so lange Zeit auf den Leim gegangen war? Wieso verbreitete man bloß solch schlimme Gerüchte, die besagten, dass restlos alle Menschen böse und blutrünstig waren, wenn es doch offensichtlich Meeresbewohner gab, die ihre Gegenwart jener der eigenen Spezies vorzogen? Und auf einmal keimte in ihr ein Gedanke auf. Was, wenn ihr Urururgroßvater gar nicht durch Menschenhand starb, sondern erst viele Jahre später an Altersschwäche oder Herzversagen oder bei einem Sportunfall? Wenn auch er einer derjenigen gewesen war, die sich an Land ein glücklicheres Leben aufgebaut hatten, als sie es unten im Meer je hätten haben können? Das Orakel musste zumindest davon gewusst haben. Es wusste schließlich um alles und jeden, der sich im Wasser befand.
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