14. Paparazzi und jede Menge Fantasie

„Per favore, Tommy", meinte Giuseppe noch immer grinsend und stellte den Teller mit der dampfenden, roten Flüssigkeit vor Tom ab. „Wünschene eine buon Appetito", meinte Giuseppe in die Hände klatschend und wandte sich zum Gehen. Er hatte die Beinahe-Katastrophe augenscheinlich überhaupt nicht bemerkt, war er doch noch ebenso unbeschwert und entspannt wie zuvor. Tom erwiderte mit einem höflichen Nicken und warf Adara einen vielsagenden Blick zu, als der ältere Italiener ihnen den Rücken zugedreht hatte. Tom hatte seine Stirn hochgezogen und die Augen vor Unglauben weit geöffnet. Seine Mundwinkel zuckten unruhig, als ob sie sich nicht entscheiden könnten, ob sie nun lachen oder heulen wollten. Eine krampfhafte Stille breitete sich zwischen ihnen aus, die nur durchbrochen wurde, als Giuseppes hohes, schrilles Pfeifen durch den Gastraum hallte und auf einen Schlag fiel alle Anspannung wieder von Tom und Adara ab. Tom prustete los und seine Suppe schwappte gefährlich am Tellerrand hoch, während Adara ihre in die Tischdecke gekrallten Finger wieder entspannte. „Oh man, das hätte aber schief gehen können!", stiess Tom unter Lachen hervor und Tränen glitzerten in seinen Augenwinkeln. Auch Adara lachte, jedoch zurückhaltender. In ihrem Kopf schwirrte noch immer das Bild herum, wie der Teller nur knapp über Toms Kopf hinweggeschwebt war. Und dies auch nur, weil dieser seinen Hals erschreckend weit vornübergebeugt hatte. Mit der Stirn wäre er beinahe auf die Tischplatte geprallt, genau dort, wo nun die berühmt berüchtigte Krabbensuppe stand. Sie hob beide Hände zu ihrem Gesicht und bedeckte Nase und Mund mit Handflächen und Fingern, ihren Blick ungläubig auf Tom gerichtet und lachte. Sie lachte, weil die ganze Situation einfach allzu lächerlich war, weil sie Toms Glück nicht fassen konnte und weil Giuseppe sich obendrein keiner Schuld bewusst war. Es hatte einfach zu komisch ausgesehen. Tom strich sich die Tränen aus den Augen und atmete tief durch, bevor er sich seinem Teller zuwandte und seine Zunge kurz über seine Lippen glitt. Seine Rechte Hand schnappte sich den Löffel. Sein Blick wanderte zu Adara und sein Gesicht nahm augenblicklich einen anderen Ausdruck an. Kleine Lachfältchen bildeten sich um seine Augen und obwohl sein Mund nicht mitlachte, strahlten seine Augen. „Guten Appetit", sagte er höflich und tauchte anschliessend seinen Löffel in die Suppe. „Guten Appetit", erwiderte Adara und griff ebenfalls nach ihrem Besteck. „Und? Wie schmeckt es dir, Fé?", fragte Tom noch bevor Adara den ersten Löffel voll Suppe überhaupt hinuntergeschluckt hatte. „Wow, das ist... das ist wirklich gut", antwortete sie. Tom lächelte zufrieden. „Das stimmt. Giuseppe ist einer der besten Köche, die ich kenne. Doch es sieht so aus, als könnte er den Laden hier schliessen, wenn sich nicht bald etwas ändert", fügte er besorgter hinzu. In seiner Stimme schwang Melancholie mit und Trauer, welche Erinnerungen aus vergangenen Zeiten begleiteten. „Aber weshalb kommen die Leute nicht? Das Essen ist gut und die Atmosphäre toll!", meinte Adara zwischen zwei Löffeln Suppe. „Ich kann es dir nicht sagen. Womöglich fehlt auch einfach die Werbung. Wir kamen früher fast jede Woche hierher. Das hatte die Presseleute gelockt, was gut fürs Geschäft war. Nun fehlt der ganze Presserummel natürlich."

„Aber nur deswegen?", unterbrach sie ihn. Ihr war es unerklärlich, dass die Menschen offensichtlich nur ins Restaurant kamen, weil sie gewisse andere Personen sehen oder treffen wollten und nicht in erster Linie weil sie Hunger hatten. „Tja, die Menschen tun manchmal verrückte Dinge", meinte Tom und schlürfte etwas zu laut. „Newgrange ist ein kleiner Ort und die Leute gehen nicht jeden Tag aus", fuhr er fort und schaute Adara dabei an. Sie nickte nur. Bei ihr zu Hause waren regelmässig Bankette organisiert worden und jeder war eingeladen gewesen, egal ob Fisch oder Halbmensch, Hai oder Aal. Es waren ausgelassene Feste gewesen, mit viel Musik und Unterhaltung. Natürlich hatte sie sich damals auch wie auf dem Präsentierteller gefühlt, doch im Nachhinein verstand sie nun, dass man nicht regieren konnte, wenn man dem Volk fremd war. Man musste die Leute kennen, um zu wissen, was ihnen fehlte.

„Sag mal, Tom, bist du ein Prinz oder so?", fragte sie nach einer Weile nachdenklich, als sich der Inhalt ihrer Teller dem Ende neigte. Tom, der gerade an seinem Wasserglas nippte, verschluckte sich und begann zu husten. „Nein", keuchte er stimmlos. „Wie kommst du darauf?"

„Ach nur so", erwiderte sie heiser. „Nein, sag schon, wie kommst du auf so etwas?", hakte er nach. Sein Interesse war geweckt. „Seh ich etwa so gut aus wie ein Monarch? Oder ist es eher mein stattliches Erscheinungsbild?", witzelte er und entlockte Adara mit seinen Posen ein schüchternes Kichern. „Nein, das ist es nicht", meinte sie leise. „Was ist es dann?", wollte Tom wissen und legte seinen Kopf in seine Hände. „Bei uns haben immer grosse Feste stattgefunden, weißt du. Der König und seine Familie haben immer im Mittelpunkt gestanden. Ähnlich wie du es erzählt hast, herrschte immer grosser Trubel und Leute kamen, nur um den Regenten zu sehen", erklärte sie dann doch etwas verhaltener. Doch Tom verstand den Wink. „Also hast du gedacht, ich sei so etwas wie ein Prinz", schloss er. Adara nickte.

„Mhh, nein, wir waren keine Könige. Eher so etwas wie Superstars, würde ich sagen", fuhr Tom grinsend fort. Fés Augenbrauen rutschten zusammen. „Superstars? Sterne? Wie meinst du das?", fragte sie verwundert, doch Tom winkte ab. „Ach, ist schon gut. Das sagt man nur so. Das ist ein anderes Wort für berühmte Leute, V.I.P.'s , die ‚Very Important Persons'", erklärte er. „Und du gehörtest zu dieser Elite", stellte Adara fest, während ihre Brauen eine Etage nach oben rutschten. Doch Tom fasste dies als eine Frage auf. „Ja, in der Tat. Überrascht dich das?", entgegnete er. Adara beeilte sich, den Kopf zu schütteln. „Nein, nein!"

„Jaajaja, Tommy und seine Familia warene immere sehre gerne gesehene Gäste gewesene. Scusate, scusate, sinde natürliche immere noch", erklang Giuseppes melodische Stimme und kurz darauf trat der leicht untersetzte Koch hinter einer der mächtigen Säulen hervor. „Ware gute Suppene?", fragte er mit einem breiten Lächeln und sowohl Tom als auch Adara nickten. „Danke Giuseppe, fantastisch wie immer", beeilte sich Tom zu sagen. Der Koch räumte die Teller ab und verschwand kurz zwischen den Pfeilern. Man hörte die Klingel zur Küche läuten, kurz darauf kam Giuseppe zurück und schenkte Rotwein nach. „Füre meine Leiblingsegästene eine gutene Tropfene di Vino Rosso", verkündete er und füllte die Gläser liebevoll mit einem gekonnten Schwung aus dem Handgelenk. Tom lachte. „Mein alter Freund, mein es bloss nicht allzu gut mit uns, ich muss heute noch fahren!"

Auch Giuseppe lachte nun. „Musste noch fahrene, oke oke, nichte zu viele di Vino, alora!" Ein herzliches, tiefes Lachen folgte. Er stellte die bauchige, grüne Flasche auf den Tisch und verschwand wieder im geräumigen Gastraum. „Sinde bereite füre die Pasta?", rief er durch den Saal und wieder erklang die Glocke zur Küche. Doch noch bevor die Nudeln auch nur aus der Küche gelangen konnten, läutete die Glocke an der gläsernen Eingangstür und mehrere Männerstimmen erfüllten den Raum mit aufgeregtem Tuscheln. Tom, der gerade an seinem Wein nippte, hielt inne und stellte sein Glas langsam wieder ab. Angestrengt lauschte er und auch Adara wurde hellhörig. Ihr Körper versteifte sich unmerklich und die lockere Stimmung war wie weggeblasen.

„Seid ihr sicher, dass er hier ist? Ausgerechnet hier? Denkt ihr, man kann der Alten vertrauen?", meinte der eine und im selben Moment versteinerte sich Toms Miene. Er hob den Zeigefinger an seine Lippen und bedeutete Adara, ruhig zu bleiben. Ein anderer Mann antwortete: „Er muss hier sein. Das Auto steht hier quasi vor der Tür." Ganz still erhob sich Tom von seinem Platz und bedeutete auch Adara aufzustehen. Sie konnte nur ahnen, um was es hierbei ging, doch sie leistete Toms Aufforderung folge. Beinahe lautlos rückte sie ihren Stuhl zurück und wartete ab.

„Und wenn er nicht hier ist, schreib ich eben eine Reportage über insolvente Kleinunternehmen", meinte ein anderer. Das Knipsen einer Kamera ertönte. Tom schloss genervt die Augen und atmete tief durch. Mit der Hand vollführte er eine Reihe merkwürdiger Handzeichen und warf ihr an deren Ende einen fragenden Blick zu, den Adara mit einem ebenso fragenden Blick quittierte. Tom schaute sie fassungslos an. Dann wiederholte er seine Handzeichenfolge und flüsterte kaum hörbar: „Auf drei rennen wir zur Tür. Pass auf, dass sie dein Gesicht nicht sehen. Wir müssen hier weg. Sofort." Adaras Gesicht klärte sich auf, dann nickte sie hastig. Tom hielt seine Hand hoch und zeigte ihr seinen Daumen. Eins. Ein weiteres Foto wurde geknipst. Zwei. „Die Alte hat gesagt, dass er eine Frau bei sich hat. Das gibt ne fette Story, Leute", meinte eine der Stimmen. „Wenn sie denn stimmt", antwortete eine andere. Drei. Tom nahm sie an der Hand und gemeinsam stürzten Sie hinter dem breiten Pfeiler hervor. Im Zickzack-Kurs ging es - so schnell es nun eben möglich war - zwischen den gedeckten Tischen hindurch. Es dauerte einen Moment, bis die Paparazzi begriffen hatten, was da vor sich ging und noch einen weiteren, bis sie ihre Kameras gezückt hatten. Tom hatte seinen Arm in schützender Position vor seinem Gesicht in Stellung gebracht, doch Adara wurde vom plötzlichen Blitzlichtgewitter vollkommen überrascht. Geblendet blieb sie orientierungslos stehen. Toms Hand entglitt der ihren und viele Körper mit Kameras und buschigen, an Stöcke gehängten Mikrophonen versperrten ihr den Weg.

„Wer sind Sie?" „Was tun Sie hier?" „Sind Sie mit Tomas Right zusammen?" „Woher kommen Sie?" Die Journalisten bombardierten sie mit tausenden Fragen, doch sie kam nicht dazu, auch nur eine einzige zu beantworten. Von irgendwo her griff eine Hand nach ihr und zog sie mitten durch die Menge, die im Nachhinein vielleicht doch kleiner war, als Adara sie in Erinnerung hatte. Zuerst wehrte sie sich dagegen, begriff jedoch bald, dass es Toms Hand war, die sie stetig vorwärts zog. Er zerrte sie aus dem Restaurant, über die Strasse und gemeinsam rannten sie den Bürgersteig entlang, an der Kirche vorbei und kamen schlussendlich wieder auf den Rathausplatz. „Schnell, steig ein!", verlangte Tom und Adara gehorchte. Sie liess sich auf den weissen Ledersitz fallen und zog die Autotür hinter sich zu. Erst dann bemerkte sie, dass sie schwer atmete. Sie war erschöpft. Der Motor heulte auf und das Gaspedal wurde durchgedrückt. Eine lange Staubspur hinter sich herziehend verliess der rote Ferrari das Dorf. An den Strassenrändern am Dorfausgang standen dutzende Fotographen und Medienleute. Tom fuhr, als sässe ihm der Teufel im Nacken. Dass Adara ihre Finger wieder ins Polster bohrte, entging ihm dabei nicht, doch bei jedem Blick in den Rückspiegel zuckte sein Fuss wieder aufs Gaspedal. Obwohl ihnen niemand zu folgen schien, fürchtete er sich davor, anzuhalten. Er hasste das alles. Er hasste diese ständige Flucht vor den Medien, die Flucht vor seiner Vergangenheit, vor sich selbst. Er hasste die Leute, die ihn davon abhielten, wieder in sein altes Leben zurück zu finden bei jedem Mal, da er es versuchte. Er hasste sich selbst dafür, dass er es zuliess und er hasste sich dafür, dass er nun auch Fé mit hineingezogen hatte. Und das machte ihn fuchsteufelswild. Er raste nicht der Landstrasse entlang, um vor irgendwelchen Reportern zu fliehen, nein, er raste, weil ihn die Wut gepackt hatte und er versuchte, sich abzureagieren. „Halt an", keuchte Fé plötzlich neben ihm, doch er ignorierte es. Er konnte nicht. „Halt an!", schrie sie und Tom trat doch noch auf die Bremse. Quietschend kam der Wagen zum Stehen und Adara fiel mehr aus der Tür, als dass sie ausstieg. Auch Tom stieg aus und ging ums Auto herum. „Tut mir leid", meinte er etwas schroffer als beabsichtigt, als er sich neben sie ins Grass setzte. „Schon gut", flüsterte Adara, doch Tom fuhr fort: „Ich wollte das nicht, wirklich. Ich... Ich hatte", begann er und fuchtelte mit beiden Händen in der Luft herum. „Panik", vollendete er seinen Satz. „Schon gut", wiederholte Adara noch immer flüsternd. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie gleich in Scharen kommen würden", meinte er wütend und schnaubte. „Es ist schon gut", sagte Adara schliesslich laut und legte ihre zitternde Hand auf Toms Unterarm. Tom hörte auf, sich zu rechtfertigen. Adaras Gesicht war kreideweiss und ihr Blick in die Ferne gerichtet. Er kannte diese Anzeichen. Das war so ziemlich das Erste, das man in der Ausbildung lernte. Ihr war speiübel.

Toms Blick wanderte wieder zu ihrer Hand, die noch immer auf seinem Unterarm lag. Ihre Finger krallten sich in den Stoff seines Pullovers. „Geht's?", fragte er sanft. Fé nickte kaum merklich. „Komm, wir fahren wieder zurück", meinte er, nahm ihre Hand in seine und half ihr, sich aufzurichten. „Ich verspreche dir, langsamer zu fahren", fügte er beschwichtigend hinzu, als er ihren beunruhigten Blick sah. Sanft setzte er sie wieder in den Wagen und half ihr, sich anzuschnallen, bevor er um die Motorhaube ging und sich auf den Fahrersitz fallen liess. Er drehte den Schlüssel im Schloss und der Motor sprang an. Einen Moment liess Tom ihn einfach schnurrend auf dem Platz stehen, bevor er - vorsichtiger diesmal - aufs Gaspedal trat und der Wagen sich ohne Quietschen und ohne Staubspur von der Stelle bewegte. Auch Fé neben ihm krallte ihre Finger nicht mehr ins weiche Leder, sondern schaute aus dem Fenster. So fuhren sie eine ganze Weile stillschweigend, bis sie schliesslich wieder sprach. „Ich war einfach erstarrt. All die Lichter. Und die Leute. Und die Fragen. Ich war unfähig mich zu bewegen. Das ist mir noch nie passiert." Sie sprach langsam, als wäre sie geistig weit weg, ihre Stimme war schwach, aber kontrolliert. „Ich weiss, Fé. Frag mich mal, wie es für mich war, als sie mich das erste Mal belagert haben", entgegnete Tom mitfühlend. „Es tut mir wirklich leid, Fé. Ich hätte dich nicht in die Öffentlichkeit stellen dürfen. Du hättest das nicht ertragen müssen", doch weiter kam er nicht, da Adara ihn schon wieder unterbrach: „Hör jetzt auf, Tom. Es ist ja nichts passiert. Ich lebe noch. Und ausserdem fand ich den Tag bisher eigentlich ganz schön, mal abgesehen von diesem kleinen Zwischenfall." Tom atmete tief ein. „Trotzdem. Am Sommernachtsball wird es nicht anders sein. Wir werden den ganzen Abend lang ausgefragt werden", fügte er missmutig hinzu. „Aber gerade deswegen haben wir doch geübt, weißt du noch? Felicitas Duncan und so?", erinnerte sie ihn lächelnd. Tom lächelte nun auch, doch er war nicht so recht überzeugt. „Fé, ich möchte nicht, dass dich die Medien in der Luft zerreissen, das hast du nicht verdient. Um ehrlich zu sein, bliebe ich lieber für den Rest meines Lebens zu Hause eingesperrt, als noch einmal auch nur einen einizgen Paparazzo sehen zu müssen", meinte er und verzog sein Gesicht. „Ich bin sogar dafür, erst gar nicht an den Sommernachtsquatsch zu gehen." „Aber das ist doch auch keine Lösung", warf Adara ein und fügte leise hinzu: „Auch wenn ich dich nur zu gut verstehen kann."

„Wie meinst du das?", fragte Tom etwas vorschnell und erinnerte sich erst danach daran, dass er versprochen hatte, keine Fragen zu stellen, doch auch Fé hatte seinen Fauxpas nicht bemerkt. Sie atmete tief durch. „Ich würde auch lieber für den Rest meines Lebens in deinem Häuschen bleiben, glaub mir. Das ist tausendmal besser, als zu erleben, was passiert, wenn sie herausfinden, dass ich an Land war. Oder noch schlimmer, wenn...", doch sie unterbrach sich selbst und biss sich auf die Lippe.

„Wenn?", hakte Tom vorsichtig nach, doch er erhielt keine Antwort mehr. „Du wolltest keine Fragen stellen", erinnerte ihn Fé nüchtern. „Tut mir leid." Stille herrschte daraufhin im Wagen, allerdings hielt sie nicht gerade lange an. „Ich werde zurückkehren müssen, Tom. Ich werde mich ihnen stellen müssen. Ich werde den Mörder meines Vaters...", wieder unterbrach sie sich selbst, nagte an ihrer zur Faust geballten Hand und fuhr dann entgegen all seinen und ihrer Erwartungen fort: „... finden und... und..."

Stumme Schluchzer schüttelten ihren Körper und Tom hielt wieder am Strassenrand. „Hey, hey, ruhig, alles wird gut", flüsterte er ihr zu, als er sich zu ihr herüberbeugte und sie in seine kräftigen Arme zog. Es war irgendwie seltsam, dass ausgerechnet er ihr Trost spenden wollte. Ausgerechnet er, das seelische Wrack, das alleine nichts auf die Reihe bekam. „Shh. Shh shh shh", versuchte er sie zu beruhigen, doch immer neue Tränen quollen aus ihren Augen hervor und benetzten ihre Wangen und sein Pullover. Ihr Körper schüttelte sich zwar nicht mehr vor Schluchzern, aber Tom lockerte seinen Klammergriff um Adara nicht. Wenn er zuvor nicht begriffen hatte, wie schwer sie es in ihrem Leben zurzeit hatte, so tat er es spätestens jetzt. Und irgendwie genoss er ihre Nähe auch, er brauchte es selbst. Er sog ihren Geruch tief durch seine Nase ein. Sie roch nach Salz und Sand und Sonne, und nach dem Waschmittel seiner Mutter, stellte er fest. Doch das lag aller Wahrscheinlichkeit nach zu urteilen an den Klamotten. „Tom, du kannst mich jetzt wieder loslassen", murmelte sie nach einer Weile an seiner Schulter. Er hatte nicht bemerkt, dass sie aufgehört hatte zu weinen und auch nicht, dass sie sich schon relativ lange wieder beruhigt hatte. „Oh, natürlich", wisperte er sachte und liess sie etwas widerwillig los. Zwischen ihnen breitete sich eine greifbare, peinliche Stille aus. Toms Herz raste. Was tat er hier? Nur weil er, der ein am Boden zerstörtes, mentales Wrack war ein anderes, am Boden zerstörtes, mentales Wrack in Fé gefunden hatte, hatte das noch lange nicht zu bedeuten, dass er sich an sie ranmachen musste. Sie war eine Meerjungfrau, Herrgott! Und bei diesem Gedanken hätte er sich selbst am liebsten eine gepfeffert. Am Ende war er auf Drogen und bildete sich das alles bloss ein. Wie konnte man so dämlich sein? Andererseits: Wenn er sich Fé nur einbildete, weshalb sollte er dann nicht davon profitieren? Aber hatte Giuseppe sie denn nicht auch gesehen? Er schielte zu Fé herüber, als wollte er sie auf ein Wasserzeichen oder einen Barcode testen. Doch dann richtete er seinen Blick wieder gerade aus. Erstens würde er sich so oder so bloss blamieren. Zweitens hatte er noch nie Kontakt mit Drogen gehabt und drittens war noch nicht so weit unten angekommen, dass er sich selbst nicht mehr unter Kontrolle hatte. Er setzte seine Hände ans Lenkrad und trat aufs Gas. „Tom!", kreischte Adara und fast augenblicklich trat er wieder auf die Bremse. „Tut mir leid", nuschelte er erschrocken und fuhr in angemessenerem Tempo weiter. Seine Sinne waren auf einmal wie von dichtem Nebel umgeben und einen kurzen Moment lang fragte er sich wirklich, ob er nicht doch irgendein Rauschmittel zu sich genommen hatte. Er revidierte in Gedanken den Verlauf der letzten paar Tage und stellte zwei Dinge fest, die ihn zu unterschiedlichen Schlüssen brachten. Erstens: Er konnte sich lückenlos an jeden Moment und jedes Detail erinnern, was einen Drogenkonsum klinisch ausschloss. Zweitens: Er hatte jeden dieser Momente mit Fé verbracht. Wenn sie die Nebenwirkung einer Droge war, war sein erstes Argument entkräftet. „Nein, mir tut es leid", murmelte Fé plötzlich neben ihm und er wandte ihr kurz den Kopf zu. „Weswegen?", fragte er verwirrt und hoffte, dass sie tatsächlich existierte und er nicht mit einem Produkt seiner eigenen Phantasie sprach. Obwohl, wäre das so schlimm gewesen? Er war schliesslich alleine. Er hatte schon Fälle gesehen, bei denen sich die Leute eine ganze Welt mit surrealen Tatsachen und fiktiven Personen eingebildet hatten. Damals hatte einer der Patienten in der Klinik jedoch an einer Asbest-Vergiftung gelitten. „Wenn ich nur wüsste, weshalb. Es ist einfach herausgebrochen, als hätte jemand eine grosse Tür geöffnet", sagte sie langsam. „Was meinst du jetzt? Das 'Tut mir leid' oder dass du... nun ja, dass du geweint hast?", hakte Tom verwirrt nach. „Beides, irgendwie", sagte sie ruhig. „Ich... ich kann das normalerweise nicht, gegenüber anderen so offen sein. Und schon gar nicht gegenüber...", erklärte sie, sprach jedoch nicht weiter. Aber Tom verstand auch ohne Worte. „Einem Menschen?" Adara nickte. Er schürzte die Lippen und schwieg. Sie fuhren auf die alte, verwitterte Hütte zu, die Tom als Garage diente und er bremste. Sobald sie im Haus sein würden, würde er auf der Stelle einen Drogenschnelltest machen. Nur zur Sicherheit.

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