3 - Die Liste

Gegen 22 Uhr verließen sie das Lokal und gingen durch die Innenstadt, vorbei an Autoschlangen und leuchtenden Straßenlaternen. Merles Verstand war träge durch die Müdigkeit, die Aufregung des Tages forderte seinen Tribut und der Alkohol machte es nicht besser. Doch der Tag war noch nicht vorbei. Er schien gerade erst anzufangen.

Merle hatte tatsächlich jemanden gefunden. Amelie hatte sie zwar nicht erwartet, doch das war mehr, als sie von einer kurzweiligen Beziehung erwarten durfte. Denn sie würde ihre Zeit für mehr als den Spaß investieren – zumindest war das Merles Hoffnung. Und das gab ihr die Kraft, weiterzumachen.

Dafür hasste sie sich schon so lange – immer davonzulaufen, bevor das Leben ihr eine Chance gab.

„Ist das wirklich okay?", fragte sie, um auf andere Gedanken zu kommen. „Es ist schon spät und du musst morgen bestimmt arbeiten."

„Ich war schon immer eine Nachteule, keine Sorge. Ich will mehr von dir und deinem Plan erfahren. Außerdem kann ich dich doch nicht angetrunken mit dem Zug nach Hause fahren lassen."

Merle besaß zwar einen Führerschein, war jedoch seit Jahren nicht gefahren. Und hatte dementsprechend kein Auto zur Verfügung.

„DU hattest doch die 500 Drinks! Ich glaube, ich hab's mir anders überlegt."

Merle blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust, Amelie drehte sich um.

„Pah! Ob du es glaubst oder nicht, ich bin eine exzellente Autofahrerin. Und ich werde es dir beweisen."

„Ich hab' echt keine Lust, früher als nötig zu sterben", zweifelte Merle. Es war seltsam, vom Tod zu sprechen, als wäre es nichts ernstes.

„Wird schon. Das Glück der Dummen ist auf meiner Seite."

Dumm war es allemal, dachte Merle bei sich. Verblüffenderweise merkte man Amelie den Alkohol nicht an. Sie lallte nicht und ihr Gang wirkte sicher, zielgerichtet.

„Vertrau mir, ich bin vorsichtig."

Merle zögerte und willige schließlich ein.

Zu ihrer Überraschung fuhr Amelie so vorsichtig, dass sie beinahe vergaß, warum sie überhaupt Angst gehabt hatte. Ihr viel ein Stein vom Herzen, als das Auto wohlbehalten auf dem Parkplatz zum Stehen kam.

„Siehst du?" Amelie grinste triumphierend.

„Es war trotzdem riskant. Wir hätten kontrolliert werden können oder-"

„Aaach, entspann dich mal. Ist doch alles gutgegangen. So, wo geht's lang?"

Die beiden schnallten sich ab und stiegen aus, tauchten in die abendliche Stille des Wohngebietes ein. Sie überquerten die Straße, folgten dem Weg einer sanften Steigung hinauf und näherten sich einem Wohnkomplex. Merle schloss die Tür auf und führte Amelie ein paar Treppen nach oben in ihre Wohnung.

„Ich bin nicht auf Besuch eingestellt, du bist gewarnt", murmelte sie und knipste das Licht an. Genau genommen war sie das nie, weil es selten Gelegenheit gab, für jemanden aufzuräumen.

Amelie schien die Unordnung nicht abzuschrecken. Sie zuckte nur mit den Schultern und meinte: „Solange du nicht mit Kakerlaken auf dem Tisch tanzt."

Merle schenkte ihrem Gast ein Glas Wasser ein, dann machten sie es sich auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich. Es grenzte direkt an die Küche, eine Tür trennte sie von ihrem Schlafzimmer.

„Niedliche Wohnung hast du da."

„Ja, naja, vielleicht etwas klein." Besonders wenn sie Urlaub hatte, fühlte sich ihr zuhause mehr nach einer schmuddeligen Höhle an.

Als sie sich kurz darauf anschwiegen, ergriff Amelie die Alternative.

„Also ich bin ja furchtbar neugierig, wie dein Plan aussieht. Verrätst du ihn mir?"

„Dafür sind wir hier, oder?"

Merle stand auf, durchquerte den Raum ins Schlafzimmer und kam nach einer Sekunde wieder zurück, um ihr einen Zettel vor die Nase zu halten. Amelie wollte gerade danach greifen, als sie ihn in dem Augenblick wegzog.

„Das hab' ich noch alles vor. Nicht lachen, okay? Da steht nur Mist drauf."

„Werd' ich schon nicht. Und jetzt gib her."

Ihr rutschte das Herz in die Hose, als Amelies Augen in Lichtgeschwindigkeit über das Blatt glitten. Sie schien jeden einzelnen Punkt in sich aufzunehmen, an ihren Gesichtszügen war jedoch keinerlei Reaktion abzulesen. Merle tippelte hin und her, fuhr sich durchs rabenschwarze Haar. Als die Stille unerträglich wurde, hielt sie der Anspannung nicht mehr stand.

„Und?"

Amelies Augen zuckten zu ihr. Dann drehte sie das Blatt um, deutete in die Mitte der Zeilen und schmunzelte. „Das hier können wir schon durchstreichen."

Merle beugte sich nach vorne, um das Gekritzel lesen zu können. Alkohol probieren.

Sie ging erneut in ihr Schlafzimmer, kehrte mit einem Kugelschreiber zurück und tat wie geheißen. Zufrieden betrachteten sie die trocknende Tinte.

„Bist du wirklich noch nie verliebt gewesen? Kein einziges Mal?", fragte Amelie mit gesenkter Stimme, als könnte sie jemanden aufwecken.

Merle schüttelte den Kopf. „Und du?"

„Schon oft. Naja – je nachdem, was du mit Verliebtsein meinst. Die wahre Liebe habe ich selbst auch noch nicht gefunden. Mich würde wirklich interessieren, wie sich das anfühlt."

„Mich auch."

„Wir haben noch zwei Monate Zeit, das herauszufinden. Willst du eine Operation wirklich nicht in Betracht ziehen?"

Merle sprach ruhig aber bestimmt. „Nein. Die letzten Wochen will ich auskosten."

„Mhm", machte Amelie und spitzte nachdenklich die Lippen. „Vielleicht bekomme ich ja frei, ein bisschen Urlaub könnte ich wirklich gebrauchen."

„Aber das wäre ja kein Urlaub, wenn du mich an der Backe hast."

„Blödsinn. Außerdem: Ein Trip ins Meer, Hallo? Allein ist das nur halb so spannend. Und währenddessen können wir all die Sachen auf deiner Liste machen. Also mach dir keine Sorgen. Ich frage morgen meinen Chef. Ach ja, sollten wir nicht unsere Nummern austauschen?"

Prompt zogen die beiden ihre Handys aus den Taschen.

Amelie lächelte zufrieden. Merle schloss sich dem an und fragte sich, ob das wirklich eine gute Idee war, ob sie diese Fremde wirklich hätte mit nach Hause nehmen sollen. Doch ihre Zweifel waren genauso groß wie die sanfte Freude, nicht alleine zu sein. Weder allein vor ihrem Vorhaben zu stehen, noch mittels Kopfhörern vor der Stille ihres Lebens zu fliehen. Amelie erfüllte den Raum mit Leben, dafür war sie dankbar.

Merle gab sich einen Ruck. „Dann legen wir einen Zeitplan fest, sobald du Bescheid weißt. Wir müssen auch nicht alles auf der Liste machen, irgendwas bekomme ich sicher allein hin."

„Sicher schaffst du das. Oder du gibst zu, dass dir das alles auch ein bisschen Angst macht."

Merle hatte nicht vor, offen zuzugeben, dass jeder einzelne Gang nach draußen Furcht in ihr auslöste. Es war ein Wunder, dass sie es überhaupt zur Arbeit schaffte.

Die ganze Sache war verrückt. Und dennoch ließ sie sich keine andere Wahl. Das musste einfach funktionieren.

Merle wollte gerade antworten, wurde aber von Amelies nächster Frage überrumpelt.

„Weiß noch jemand davon?"

„Wie bitte?" Dummstellen würde auch nichts bringen.

„Deiner Krankheit."

„Nein. Und bevor du fragst: Das wird erstmal so bleiben."

„Wieso? Hast du auch davor Angst?"

Merle entschied sich für die Antwort, die Amelie vermutlich hören wollte. „Ich will ihre Gesichter nicht sehen. Es wäre nie wieder dasselbe."

Dabei konnte sie sich gar nicht erinnern, wie ihre Eltern sie einmal angesehen hatten, bevor nur noch Enttäuschung in ihren Augen gewesen war.

Amelie musterte sie mit ernster Miene. „Aber du wirst sie nochmal sehen? Später?"

Das „Ja" kam ihr nur schwer über die Lippen.

Als Mitternacht näherkam und Merle die Augen zufielen, verabschiedete Amelie sich und versprach, sich am nächsten Tag zu melden.

„Und dann fangen wir mit den Vorbereitungen an."

Ihr Optimismus war beneidenswert, so sehr, dass es Merle beinahe bitter aufstieß. Den Gedanken verwarf sie sofort, weil dankbar zu sein die richtige Wahl war.

„Danke. Das bedeutet mir viel", sagte sie nur.

„Mir auch. Obwohl wir uns erst seit ein paar Stunden kennen. Witzig, oder?"

Merle hätte nicht dieses Wort gewählt, doch außergewöhnlich war es allemal.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top