2 - Die Vereinbarung

Nach dem heuten Tag wollte Merle aufgeben. Alle Versuche waren gescheitert, jemand passenden zu finden. Und wenn sie es unter diesen Umständen nicht schaffte, eine Liebschaft anzufangen, konnte sie einpacken.

Trotz allem saß sie nun hier. In einem Lokal, das sie nicht kannte und neben einer Fremden. Amelie leerte ihren Cocktail in einem Zug und schien gar nicht mit dem Grinsen aufhören zu können. Aus irgendeinem Grund machte sie das wütend. Wenn sie ihr nur einmal blöd kam, würde Merle abhauen.

„Was ist so witzig?"

Amelie wandte sich ihr zu und wurde ernst. „Gar nichts."

„Verarschst du mich?"

„Ganz und gar nicht."

Merle seufzte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Bei dieser Dummheit schüttete sie ihre Cola hinunter und lauschte Amelies zweiter Bestellung beim Barkeeper, der seine Augen auch kaum auf ihrem Gesicht halten konnte – da hatte Amelie wohl keinen Mist erzählt. Wahrscheinlich war sie ein Magnet für beiderlei Geschlechter. Das spürte selbst sie.

Amelie trank das zweite Glas aus und setzte eine gefasste Miene auf. Bei diesem Stimmungswechsel kam Merle kaum hinterher.

„Ich musste daran denken, was du gesagt hast. Da wurde mir schon ganz anders. Und als ich dann diesen hervorragenden Drink bekommen habe, musste ich ihn einfach so sehr genießen, wie ich kann. Ich liebe Alkohol. Aber ich bin keine Alkoholikerin, keine Sorge", scherzte sie und seufzte. „So sehr, dass ich mich an den Geschmack wohl gewöhnt habe und ihn überhaupt nicht mehr schätze. Das tat gut."

Merle betrachtete ihr leeres Glas. „Schmeckt das so gut?"

Amelie hob ihre Hand für ein drittes Glas, der Typ hinter der Theke nickte. „Natürlich nicht jedem. Ist okay, wenn du es nicht magst."

Merle schwieg und fokussierte weiterhin alles außer ihre Begleitung. Aus irgendeinem Grund konnte Amelie nicht damit aufhören, sie anzustarren. Als konnte sie direkt in ihre Seele blicken. Bei dem Gedanken stellten sich Merles Nackenhaare auf. Es war kaum zu ertragen.

„Wie alt bist du?", fragte Amelie.

„26."

„Heilige Scheiße."

Merle verzog gereizt den Mund und stellte sich dumm, obwohl Amelie es längst wusste. „Was denn?"

„Wirklich noch nie?"

„Na und? Ist doch nichts dabei."

Sie selbst hatte die Tatsache nie gestört, lediglich die Reaktionen anderer. Als wäre sie auf dem Mond aufgewachsen. Wenn die wüssten, was es da noch alles gab, das sie ab diesem Moment verheimlicht hatte.

Amelie hob abwehrend die Hände. „Selbstverständlich nicht. Es ist nur erstaunlich, weil man heutzutage fast überall damit konfrontiert wird."

Merles Ärger legte sich wieder und wich heranwachsender Neugier. Schließlich stand Alkohol auf der Liste. Ihre Augen fixierten das Glas in Amelies Hand, die Flüssigkeit schaukelte beinahe hypnotisierend in der schwenkenden Bewegung.

„Möchtest du mal kosten?", fragte Amelie.

„Ich bestelle mir einen." Sie war schließlich kein Kind mehr, auch wenn es sich ganz und gar nicht so anfühlte. „Welchen empfiehlst du?"

Die beiden studierten das Menü, mit Amelies Beschreibungen suchte sich Merle einen Aperol Spritz aus. Der Hauptgrund war der niedrige Alkoholgehalt – das musste Amelie ja nicht wissen.

Wenig später stand das Glas vor ihr. Das gedimmte Lichte brachte die verschiedenen Orange- und Rottöne zum Glänzen. Merle prägte sich diesen bezaubernden Einblick ein, als sie das Glas hob und in Richtung ihrer zusammengepressten Lippen führte. Die kalte Flüssigkeit füllte ihren Rachen und brannte ein wenig.

„Naja", raunte sie und stellte das Glas ab.

Amelie prustete los. „Immerhin wissen wir jetzt, dass es dir nicht schmeckt."

Merle lächelte matt. Um die Anspannung zu lösen, nahm sie einen weiteren Schluck.

„Also, warum sind wir hier?"

Amelie richtete sich auf, als wäre sie erst jetzt richtig wach. „Um zu reden."

Als Merle skeptisch eine Augenbraue hob, ergänzte sie: „Ich werde reden."

„Okay."

„Okay", wiederholte Amelie und holte tief Luft. „Vorhin hatte ich keine Chance dazu, deswegen wollte ich dir das unbedingt sagen. Es macht zwar keinen Unterschied, aber: Es tut mir unfassbar leid. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das sein muss. Wirst du in zwei Monaten wirklich...?"

Merles Stimme klang kratzig. „Ja."

„Darf ich fragen, warum?"

Ihr Zeigefinger deutete zur Antwort auf den Kopf. „Ein Tumor."

Amelie verzog das Gesicht als hätte man ihr gerade in den Bauch geboxt.

„Kann man den nicht rausoperieren?"

„Sicher", seufzte Merle. „Aber das wird nichts bringen."

„Wieso nicht?"

„Wahrscheinlich verbreitet er sich gerade. Dann ist mein Körper eine endlose Baustelle."

„Du willst also nicht für dein Leben kämpfen?", fragte Amelie nach kurzem Schweigen.

Merle zuckte mit den Schultern. „Auf meine Art und Weise. Ich will die Zeit, die mir noch bleibt, genießen, wie in den letzten zehn Jahren nicht."

„Geht das denn mit dem Ding im Schädel? Ich meine, dir wird es irgendwann... schlechter gehen, oder?"

Sie tranken gleichzeitig aus ihren Gläsern.

„Ich pumpe mich mit Tabletten voll, dann geht es. Die Kopfschmerzen sind sonst unerträglich."

„Mhm", machte Amelie nur. Merle fixierte sie, unsicher, ob diese unerwartet nachdenkliche Amelie in das Bild ihrer offenen Art passte.

„Tja, da hast du den Grund, warum ich hier bin. Ein letzter Versuch, mein Leben auf die Reihe zu kriegen, bevor ich zu Staub zerfalle. Genug über mich. Was führt dich zum Speed-Dating? Du siehst nicht so aus, als hättest du das nötig."

Amelie schien aufzuwachen, als das spitzbübische Lächeln zurückkehrte.

„Nun, ich werde keine Bescheidenheit heucheln – der liebe Gott hat mich mit dem hier", ihre Hand fuhr ihre Körperlinie von oben nach unten nach „gesegnet. Was nicht heißt, dass Dating ein Kinderspiel ist. Im Gegenteil. Außerdem arbeite ich viel, da bleibt kaum Zeit übrig."

„Was arbeitest du denn?"

Merle machte keinen Hehl um ihre Neugier. Die Frau schien das genaue Gegenteil von ihr zu sein – intelligent, erfolgreich, selbstbewusst – was für ein Leben hatte so ein Mensch?

„Ich bin Journalistin von einem unbekannten Blatt, das keiner liest. Das kennst du sicher nicht."

„Und du strebst nach mehr?"

„Genau. Schreiben ist das, was ich kann. Genau das werde ich der Welt beweisen und sie wird meine Artikel lesen. Dafür lohnt es sich, dass ich mir meinen süßen Hintern abschufte", erklärte Amelie.

Merle stützte ihr Kinn auf die Hand und lauschte schweigend ihren Worten. Nicht nur sie schien reden zu wollen. Ob sie durch ihre Arbeit einsam war?

Ihre Drinks leerten sich schleichend, während Amelie mehr von sich erzählte.

„... Und dann hab' ich ihm gesagt, er soll sich verpissen, ich hatte SO die Schnauze voll von ihm."

„Sag mal... Willst du nie hinschmeißen? Nach deinen schlechten Erfahrungen und so", fragte Merle.

Amelies Augen zuckten hin und her, als sie das Treiben im Lokal beobachtete. Musik aus dem Radio, klirrende Gläser und Gelächter erfüllten die Luft.

„Doch, gefühlt jeden Tag. Aber das Leben schenkt dir nichts, du musst es dir schon selbst holen. Also bleibt mir nur aufgeben oder weitermachen, und ersteres ist definitiv keine Option."

„Verstehe."

Merle glaubte nicht, dass es so einfach war. Ihr ganzes Leben war sie zwischen diesen zwei Worten gewandelt und hatte nie ihren Weg gefunden. Für eine Wende war es fast zu spät. Amelie sprach unbeirrt weiter, während sie hin und wieder in ihre Gedankenwelt abdriftete.

„Umso mehr trifft mich dein Schicksal. Solange ich nicht weiß, wann der Sensenmann kommt, kann ich mich jeden Tag anstrengen und hoffen. Keine Ahnung, was ich in deiner Lage tun würde."

„Dich besaufen?"

„Darauf trinke ich", sagte Amelie und hob demonstrativ ihr vor kurzem bestelltes Glas. „Aber ich finde es gut, dass du nicht aufgibst."

„Bin kurz davor. Das heute war der erste Versuch und die Lust ist mir jetzt schon vergangen." Im Geiste ging Merle ihre Liste durch. Sie war für diese Zeitspanne wahrscheinlich viel zu lang, weil jeder Wunsch dort stand, der ihr in dem Augenblick eingefallen war.

„Mit der Liebe hast du dir glaube ich das schwerste ausgesucht, außer, du willst zum Mond fliegen."

Merle seufzte. „Umsonst blamiert."

„So schlimm war's bestimmt nicht."

„Du hast ja keine Ahnung." Nicht mal eine normale Unterhaltung hatte sie hinbekommen.

„Ich will nur nicht allein sein, das hat mich wohl zu dieser Verzweiflungstat getrieben."

„Das war nicht umsonst." Amelie zeigte mit dem Daumen auf sich. „Du hast jetzt MICH!"

„Hä? Was soll das jetzt bedeuten?"

Amelie setzte wieder ein ernstes Gesicht auf. „Lass mich dir helfen, deine Träume zu verwirklichen. Du willst nicht allein sein? Dann hast du jetzt deine erste Freundin gefunden, die dir helfen wird, so viel Spaß wie möglich zu haben. Lass uns deine Liste abarbeiten!"

Merle starrte sie mit offenem Mund an. Warum sollte sie sowas wollen? Sie kannten sich doch gar nicht und hatten sicher nichts gemeinsam, sodass je von Freundschaft die Rede sein konnte. Andererseits... Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, glaubte sie nicht im geringsten daran, das allein auf die Reihe zu bekommen.

„Dann kann ich dir auch helfen, jemanden zu angeln." Amelies Augenbrauen wackelten.

„Pfff", machte Merle. „Gerne. Aber ich versprech's dir: Wenn Männer die Fische sind, bist du der Köder zu dem sie wollen und ich die Angel, vor der sie abhauen."

„Dein Pessimismus ist fürchterlich", meckerte Amelie, schaltete um und zwinkerte vergnügt. „Aber jetzt kenne ich dich schon ein bisschen besser."

Merle ließ sich von ihrem Lächeln anstecken. „Abgemacht, du bist engagiert. Wenn ich so darüber nachdenke, könntest du geeignet sein – immerhin hast du sofort erkannt, was ich will. Die Kerle können noch ein bisschen warten."

Amelie schien ehrlich verwundert. „Oh? Und was könnte das sein?"

Merle lächelte. „Das Meer."

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