10 - Schuld

Merle erwachte aus einem Traum, der nicht ihrer gewesen sein konnte. In einem anderen Leben, einer anderen Welt. Nicht in diesem Haus, der Stadt, in der sie aufgewachsen war.

Fremd und vertraut zugleich riss es weitere Wunden auf, ihr Herz noch immer blutend von lange vergangenem Streit.

Und nun schien ihr Verstand sie mit einer Illusion der Nähe zu verhöhnen. Merle konnte die warme Hand noch immer auf ihrer spüren. Vergangene Stimmen, die allmählich in der Wirklichkeit verhallten.

Merle hörte sie noch immer. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Fünf Uhr morgens.

Ihr Kopf dröhnte nach den wenigen Stunden kaum erholsamen Schlafes. Also stand sie auf und schluckte eine Tablette. Trotzdem dachte sie nun ruhigeren Gemüts an ihren Streit mit Amelie.

Wenn man das als solchen bezeichnen konnte.

Sie hatte weder ihr antworten, noch sich entschuldigen können.

Der Traum und vergangene Zeiten holten Merle wieder ein. Ihre Fingernägel bohrten sich brennend in ihre Handflächen vor Abscheu – gegenüber sich und den Menschen, durch welche sie so geworden war.

Sie musste hier raus. Die Wände des Zimmers schienen immer kleiner zu werden.

Das erste Mal seit dieser Reise wünschte Merle sich nach Hause in ihr Loch, in das sie sich immer verkroch. In solchen Stunden, wenn sie sich einsam fühlte.

Abrupt zog sie sich an und eilte aus dem Hotel Richtung Strand. Es war egal, dass sie die halbe Stadt durchqueren musste. Jeder Atemzug füllte Lunge und Geist mit angenehm abgekühlter Sommerluft. Einige Sterne waren noch zu sehen, am Horizont verwandelte sich der Nachthimmel in ein helleres Blau. Dieses Farbenspiel hatte eine erstaunlich beruhigende Wirkung, und als Merle am Strand ankam, konnte sie sich völlig entfalten.

Der Sand zerstob unter ihren Füßen. Merle nahm platz und wartete, bis sich die Sonne über dem Wasser erheben würde. Sie achtete nicht auf die Zeit, sondern flüchtete in ihre eigene Gedankenwelt, getragen von den rhythmischen Bewegungen der Wellen.

Das erste Mal seit langem stieß sie die Ruhe nicht von sich fort, sondern nahm sie an, hatte sie beinahe vermisst nach den letzten Tagen voller Aufregung. Der Gedanke daran, dass sie nun wieder ihr täglicher Begleiter sein würde, stieß ihr bitter auf.

In vergangenen Tagen gefangen, bemerkte sie die Gestalt neben ihr nicht. Diese ließ sich seufzend neben ihr sinken, sprach die ersten Minuten nichts.

Merle kehrte in den Moment zurück und wappnete sich innerlich für alles, was nun kommen mochte. An den aufkommenden Tränen in ihren Augen realisierte sie jedoch, wie schlecht sie darin war und erstickte sofort jeden Versuch, Amelie anzusprechen. Ihr Freundin hatte diese Seite von ihr bereits vergangene Nacht kennenlernen dürfen und ergriff nun das Wort.

„Ich fahre nach Hause."

Jede Silbe war wie ein Stich in Merles Herz und die gefasste Stimme machte es nur schlimmer. Sie hielt den Atem an und wartete darauf, hier und jetzt zurückgelassen zu werden.

„Keine Sorge, ich lass' dich nicht hier. Du kannst mitfahren. Aber vorher..." Merle spürte ihren Blick auf sich ruhen. „Sag mir die Wahrheit."

Sie rührte sich noch immer nicht.

„Merle." Amelie berührte sie sanft an der Schulter. „Ich hab' Mist gebaut, genauso wie du, und ich bin immer noch verdammt sauer. Aber so können wir das nicht stehenlassen."

Mit dem Handrücken fuhr sie sich über die Augen und stammelte, dass sie recht hatte.

„Ich hätte nie gedacht... Ich meine..." Die Worte drangen nur schleppend aus ihrer zugeschnürten Kehle.

„Fang einfach ganz von vorne an. Wir haben alle Zeit der Welt."

Merle fing Amelies Blick auf, er war so ruhig wie ihre Stimme, also fokussierte sie den nahenden Sonnenaufgang. Verblüfft über ihre Vernunft wollte sie sich ebenso anstrengen, die Sache zu klären.

„Da war dieser Arzt. Bei ihm war ich wegen der Kopfschmerzen, die ich ständig habe. Niemand hat eine Ursache gefunden, das war der letzte Versuch. „Was wollten Sie hier", hat er gesagt. „Sie sind kerngesund". Für meine Schmerzen hatte er aber keine Erklärung. Er hat mich angeschaut, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank."

„Ist es psychosomatisch? Weil... Das wäre doch naheliegend, wegen deiner Angst und so weiter...", fragte Amelie.

Merle seufzte gequält. „Das muss ich jetzt wohl auch einsehen. Das war nun mal das Erste, was man mir einreden wollte. An dem Punkt hatte ich die Nase voll. In dieser schlaflosen Nacht trieb mich etwas um. Ich brauchte Veränderung. Da kam ich auf diese dumme Idee: Wenn ich mir nur ständig einredete, ich sei todkrank, würde mir diese Illusion vielleicht helfen. Das gab mir den Mut, mich nicht völlig aufzugeben, mich vielleicht sogar zu ändern. Oder es zumindest zu versuchen, jemanden zu finden, wenn auch nur für kurze Zeit. Aber ich hätte nie damit gerechnet, dich zu finden. Eine Journalistin."

Die letzten Worte entlockten Amelie ein bekümmertes Schulterzucken.

„Genauso wenig wie ich. Keine Ahnung, ob ich das alles wirklich nur wegen der Story getan habe. Da war auch eine Menge Sympathie, verstehst du? Vielleicht war mein Drang nach Erfolg nur ein weiterer Grund, meiner Neugier zu folgen. Normalerweise konfrontiere ich Wildfremde nicht einfach."

Merle lächelte zaghaft. „So wirkst du aber. Ich habe noch nie eine so aufdringliche Person getroffen."

„Und ich noch nie so einen Angsthasen."

Ein kurzer Moment des Schweigens, in dem Merle glaubte, die Schwere zwischen ihnen schwinden zu spüren. Also fasste sie Mut – und verdrängte ihre Furcht.

„Ich kann verstehen, dass du wütend bist. Und dass du nicht schon längst nach Hause gefahren bist.... Das bedeutet mir viel. Jetzt kann ich mich entschuldigen."

Merle wendete ihren Kopf Amelie zu, ihre Gesichter im goldenen Licht des Sonnenaufgangs.

„Es tut mir leid. Ich habe dir viel zu verdanken und es ist mir egal, warum du das getan hast. Ohne dich hätte ich schon lange aufgegeben."

Amelie sagte nichts, also erzählte Merle ihr, was dieses Loch überhaupt war. Sie selbst und wie es dazu gekommen war. Sie sprach von ihrem Albtraum, beschrieb die chaotischen Bilder, die aufgewühlt hatten, was sie so bemüht war zu vergessen. Ihrem Zuhause, das große, leere Haus, in dem sie aufgewachsen war. Es lag in einem tristen Schatten aus mangelnder Wärme und Umsichtigkeit, ihre Eltern darin nur leblose Figuren, die auf sie abgefärbt hatten. Die Angst vor ihnen, ihrer Ablehnung und dort erneut gefangen zu sein.

Von dem Neid auf Amelie, als sie von ihrem Vater erzählt hatte.

„Ich will nicht mehr davon gefesselt sein", flüstere sie aus trockenem Hals. „Und wenn mich dein Bericht darüber befreit, soll es mir recht sein."

Amelie schüttelte den Kopf. „Das werde ich nicht tun."

„Was?", hauchte Merle.

„Ich glaube nicht, dass das irgendetwas ändern würde." Amelie tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Das muss von da drinnen kommen. Und wenn du nicht bereit bist, es mit der Welt zu teilen, wird es dich eher entlarven als retten. Oder verletzen."

Ihre Augen wanderten über Merles Gesicht. „Du wirst vielleicht nicht in zwei Monaten sterben, doch wenn du weitermachst wie bisher, wird die Angst dich irgendwann zerstören. Und das möchte ich nicht. Was ist mit dir?"

Die Tränen waren nicht mehr zu stoppen und glitten heiß Merles Wangen hinab, vorbei an den nach oben wanderten Mundwinkeln. Die Sonne stand mittlerweile über dem Wasser und strahlte angenehm warm auf sie herab.

„Nein. Scheiß auf die Angst", schluchzte sie.

Amelie offenbarte ihr feuriges Grinsen, das Merle mit der Zeit so sehr ans Herz gewachsen war. Sie ließ einen erstickten Laut von sich, als ihre Freundin unerwartet aufstand und sie an der Hand mitzog. Die Berührung ließ ihr das Blut in die Wangen steigen.

„Dann fangen wir gleich damit an!"

„Hä? Jetzt?"

„Wir schreien jetzt alles der Sonne entgegen, was wir wollen." Amelie breitete die Arme aus und holte tief Luft. Ihre kraftvolle Stimme schallte über das Meer hinweg.

„WIR KRIEGEN DAS HIN!"

Sie nickte Merle herausfordernd zu. Also gab sie sich einen Ruck.

„Wir... Wir schaffen das!"

„Lauter!"

„WIR SCHAFFEN DAS!"

Amelie lachte.

„ICH HASSE MEINEN CHEF!"

Merle schloss sich ihr an. Es war, als lösten sich Ketten auf, die sie die ganze Zeit zurückgehalten hatten.

„ICH LIEBE DAS MEER!"

„ICH LIEBE ESSEN!"

„ICH AUCH!"

„UND ALKOHOL!"

„DAS IST NICHT GUT, AMELIE!"

Sie hörten erst auf, als ihre Stimmen heiser wurden und keinen lauten Ton mehr zuließen. Schwer atmend ließen sie sich auf den Sand sinken.

„Ich hab' Hunger", krächzte Amelie. „Lass uns unbedingt die Restaurants ausprobieren."

„Geht's doch nicht mehr nach Hause?", fragte Merle.

„Kannst du dich etwa schon vom Meer trennen?"

„Sicher nicht. Wir sind ja noch nicht mal drin geschwommen."

„Oh, du im Badeanzug, sicher ein Hingucker."

Merles Gesicht glühte. „Halt die Klappe. Wer hat behauptet, ich würde sowas tragen?"

„Na ich. Das Kleid hast du doch auch nicht bereut, oder?"

Ihr viel keine schlagfertige Antwort ein, also musste sie sich wohl fügen. Wenn Merle so darüber nachdachte, war das vielleicht gar nicht so schlimm.

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