Zuhause

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Erschreckend ist der Anblick, der dich uns bietet, obwohl für mich vermutlich weniger als für die anderen, denn kaum etwas veränderte sich zum Guten, seitdem ich ihn hinter mir ließ. Damals, als meine Nachbarin Thona mich durch das Tor, dass langsam durch die uns misstrauisch beäugenden Wachen geschlossen wird, hinausführte in eine ganz andere Welt und Zukunft und ich mich ein allerletztes Mal umsah, um Lebewohl zu sagen. Ich glaubte nicht daran, jemals wieder hierher zurückzukommen, und die Gefühle, die plötzlich aufkommen, sind schwermütig, freudig und beklemmend zugleich. Angst habe ich, dass jemand mich erkennen könnte, genauso wie davor, längst Vergessenes wiederzusehen.

Der Kohlestaub ist allgegenwärtig. Verklebt die Luft. Kratzt im Hals. Lässt alles stumpf und dreckig wirken. Eine drückende Hitze herrscht beständig und erschwert das Atmen, denn Ab- und Frischluft benötigen wegen der Lage tief unten in der Erde Ardas einen langen Weg und der Austausch gelingt trotz breiter Schächte, die zu den Hängen führen, nur äußerst spärlich. Zwergenleer erscheint der Ort, jedoch weit entfernt hört man das Ratschen und Hämmern und Getöse der Bergbauanlagen. Eifrige Arbeiter, die sich Zentimeter für Zentimeter tiefer in den Berg graben und Brocken an Gestein lösen. Förderbänder, die die Kohlebrocken aus den Gruben transportieren. Handkurbelbetriebene Zerkleinerungsanlagen, die sie zerbröseln und schwere Verdichter, die den Brösel in für Transport und Gebrauch handliche Formen pressen.

Auf den Straßen und in den Ecken vergammelt Unrat. Kaputte Maschinen, Karren, Möbel und allerhand anderes stapeln sich an zerfallenden Ruinen, die einst Häuser oder Wohnhöhlen waren. Je weiter wir in das Elend reiten, umso mehr zeigt es sich uns. In Dreckpfützen spielen Zwerglinge, in noch schmuddeligere Lumpen gekleidet als die wenigen Erwachsenen, meist gramgebeugte Weiber und zauselige Greise, die mit traurigen, lebensüberdrüssigen Blicken auf Bordsteinen und den Stufen zu ihren zugigen Behausungen kauern. Von blanken Knochen nagen sie die letzten Fleischstückchen oder versuchen die großen Löcher in Stofffetzen, die wohl Kleider seien sollen, mit dünnen Fäden zu flicken, während sie die Kinder ihrer Kinder beaufsichtigen.

„Bei Mahal", flüstert Dwalin, der neben mir reitet. „Wie kann nur solch ein Elend von uns unbemerkt herrschen!?" Ich zaudere mit einer Antwort, komme jedoch zu dem Schluss, dass sich nichts ändern würde, verschwiege ich sie. „Den Stadtteilhalter und seine Verwalter kümmert es den Dreck auf den Straßen, wie es den Bürgern hier geht. Weit entfernt leben sie und verirren sich nur selten an diesen Ort. Angedachte Mittel werden lieber veruntreut, als sie zum Guten zu investieren." In einer gemäßigten Lautstärke erzähle ich dies zwar, jedoch eindringlich genug, damit auch Thorin, der voran reitet, sie allzu leicht hören kann. Zu Balin flüstert er etwas hinüber, der eifrig Notizen schreibt.

Einen vorbeikommenden Minenarbeiter, der wohl gerade von seiner Schicht kam, fragen wir nach dem ansässigen Heiler. Einige Sekunden der verächtlichen Inaugenscheinnahme da wir trotz des Inkognitos nicht wie hiergehörende erscheinen, müssen wir über uns ergehen lassen, bis er von vermutlich schmerzhaften Hustenanfällen unterbrochen den Weg beschreibt. Thorin bedankt sich und gibt ihm eine Goldmünze für seine Mühen. Mit großen Augen betrachtet er das glänzende Stück Metall, das hier einen ganzen Dreimonatslohn entspricht, und stammelt eine Ehrerbietung für die Großzügigkeit.

Vertraut ist mir der Weg, ist Meister Eivór doch schon seit vielen Jahrzehnten Heiler der Gegend. Die erste Begegnung mit der Vergangenheit wird er sein, denn die Schwindsucht meiner Mutter behandelte er einst und ich hoffe, seine Erinnerung an mich sind verblasst. Meinen Begleitern ist zwar bekannt, dass ich ursprünglich aus einem der Armenviertel stamme, aber nicht, dass es ausgerechnet dieses ist, und das soll auch so bleiben. Denn auch wenn meine Herkunft ein Teil von mir ist, sie mich prägte, stolz bin ich nicht auf sie.

Jedoch umsonst sind die Sorgen, da der Heiler, der dereinst bereits alt war, inzwischen so sehr alterte, dass seine Augen genauso bleich wurden wie Haare und Bart. Ein junger Mann, kaum älter denn ich, steht ihm daher als Lehrling und Nachfolger zur Seite und öffnete uns auch die Tür. Balin erläutert ihnen den Auftrag des Königs, aufgrund dessen wir handeln, und bitte um Unterstützung bei der Bekämpfung der mysteriösen Krankheit.

Eivór erhebt sich erdenschwer von seinem durchgesessenen Stuhl inmitten des von knisternden Pergamenten, dicken Büchern, Fläschchen mit Tinkturen, von der Decke hinabhängenden getrockneten Kräuterbüscheln und unangenehm riechenden Salben vollgestellten Arbeitszimmers, und schleppt sich mithilfe seines Lehrlings, der sich uns als Benrom vorstellte, in ein angrenzendes Zimmer. Schrecklich ist der Anblick, der uns dort erwartet.

Etwa zwanzig Betten, die eher schnell zusammengezimmerten Pritschen gleichen, stehen darin eng zusammen und in jedem liegt ein dahinsiechender Zwerg. Ältere, einige Kinder, jedoch vor allem junge Männer. Heilkundige Frauen, die ihre Gesundheit mit stark riechenden kräutersudgetränkten Lumpen vor Mund und Nase schützen, laufen zwischen den Kranken umher. Versuchen, ihnen Brühe einzuflößen, wechseln feuchte Tücher, die das Fieber senken sollen oder halten die zitternden Hände derjenigen, für die es keine Hoffnung mehr gibt. Der Gestank des Schweißes, der in dem Bericht von Skirr als süßlich-beißend und verwesungsähnlich beschrieben wurde, hängt schwer und übelkeitserregend in der stickigen Luft. Den Stoff der Mäntel pressen wir uns ebenfalls vor die Gesichter, um ihn nicht allzu sehr einzuatmen.

„Glaubt mir, verehrter Herr, wir benötigen jede Hilfe, die der König entbehren kann", murmelt Elvór resigniert. „Nur einen kleinen Teil der Erkrankten kann es sich leisten hier von uns behandelt zu werden. Die meisten sterben daheim und stecken dabei ihre Familienmitglieder an."

Kaum zu ertragen ist das Leiden. „Wie ist die Inkubationszeit?", fragt Oin und beugt sich über einen der Erkrankten. Fiebrig glänzt seine Stirn und schwer geht der Atem. „Wenige Stunden bis einige Tage", antwortet Benrom und nimmt eine Pergamentrolle zur Hand, die am Fußende des Bettes unter der dünnen Strohmatratze klemmt. Wohl die Krankengeschichte ist darein verzeichnet. „Dieser hier infizierte sich vermutlich bei einem Kumpel, der vor drei Tagen in der Zeche zusammenbrach. Eine Nacht später zeigte er die ersten Symptome, Lethargie, Kopf- und Gliederschmerzen, schnell steigendes Fieber. Die heiße Phase mit vermehrtem Schwitzen begann am nächsten Morgen und hält seitdem an." Oin rümpft die Nase über den Gestank, jedoch nicht aus Abscheu, sondern zur Analyse der Geruchsbestandteile. „Schwefel und Ammoniak", bemerkt er schließlich, „als würde er von innen verwesen." Benrom nickt zustimmend. „Die Krankheit scheint das Gewebe zu zersetzen. Wir stellten bereits fest, je schwächer der Geruch, umso wahrscheinlicher das Überleben."

Oin stellt weitere Fragen, lässt sich andere Erkrankte und ihre Anamnese zeigen. Ich sollte ihm helfen, aufmerksam zuhören, jedoch den Anblick des Leids kann ich nicht länger ertragen und wende mich ab. Nachbarn sind es, die hier liegen. Ehemalige Bekannte, die mir früher ein halbes, vertrocknetes Leib Brot schenkten, obwohl sie selbst kaum genügend aßen, aber sahen, wie meine Mutter und ich verhungerten und Mitleid hatten. Kinder, die ich als beginnende Nun'anu' auf die Welt begleitete und die ersten Lebenstage mit versorgte.

Dwalin folgt mir beunruhigt zurück in das Arbeitszimmer des Heilers, in dem ich schwer atmend die aufkommenden Tränen zurückhaltend das Gesicht unter den Händen verberge. „Alles in Ordnung?", fragt er und die Sorge in seiner Stimme, einst verhasst aber seitdem sie fehlte so schmerzlich vermisst, lässt einzelne trotz der Kraftanstrengung und zum Glück verborgen fließen. Ich nicke schnell, wische sie hastig von den Wangen und bemühe die gewohnte besonnene Miene. Ein Rück geht durch Dwalins Körper, der unterbewusst Drang mich tröstend in die Arme zu schließen, so, wie er es früher immer tat. Aber dann besinnt er sich dem Groll, den er weiterhin gegen mich hegt.

In diesem Moment betritt Thorin mit Balin das Arbeitszimmer. Unser König bewertet die Situation mit einer eigenartigen Mischung aus Eifersucht und Schmerz, die kurz gleichwohl gefährlich in den Augen aufblitzt. „Ich habe hier genug gesehen. Oin bleibt, während wir zum vermeintlichen Ort des ersten Ausbruchs reiten, damit wir dort inspizieren können, welche Bedingungen die Krankheit begünstigten."

Nicht weit entfernt von dem Haus des Heilers befindet sich diese Stelle, jedoch bereits als wir die Richtung dorthin einschlagen, begreife ich, welch schrecklichen Erinnerungen sie heraufbeschwören werden, denn in das verwahrloste Wohnviertel meiner Kindheit führt uns der Weg. Khajmel stolpert oft, obwohl kein ersichtlicher Grund seine Schritte behindert. Jedoch jede Faser meines Körpers sträubt sich gegen das Weitergehen und überträgt die Gegenwehr auch auf ihn. Ich will nicht. Die letzten Wochen und Tage hinterließen ein Chaos in Kopf und Herz. Kaum mehr irgendein Gefühl lässt sich vernünftig kontrollieren und ich befürchte, das Erblicken von so vielem, dass mir einst nahe war und grausam entrissen wurde, wird die Qual noch verstärken.

Jedoch nicht, ohne die Herkunft zu verraten, wird es mir möglich sein, sich zu verweigern. Und so finde ich mich schließlich wieder in einer Umgebung, die schmerzliche Wehmut, Angst und großen Kummer in sich birgt. Das schmutzig-schlammige Wasser des beständig durch die armen Straßen fließenden Rinnsal versiegte nicht. Genauso stinkend, genauso schwarz, genauso ein Ausdruck der Verelendung und Not wie damals bereits. Ich fühle die klebrig-kalte Nässe auf die Wangen spritzen, die von Schlägen wund und aufgesprungen brennen, als ich einst, vor so vielen Jahrzehnten, hineingestoßen wurde. Schmecke das Blut auf den trockenen Lippen. Spüre die Trauer über den Verlust von Mutter, allem Hab und Gut und jeglicher Hoffnung. Sehe das von Zorn und Unerbittlichkeit verdüsterte Gesicht meiner Tante vor mir, während sie mich unter Spott und Häme ohne Erbarmen aus dem Haus prügelt.

Schwindelig und schrecklich übel von den ganzen erinnerten Eindrücken, die grausam auf das Gemüt herniedergehen, wird mir und ich bin froh, als Thorin anhalten und absteigen lässt. Mit festem Boden unter den Füßen gelingt es mir besser, das Unwohlsein zu bekämpfen. Khajmel, an dem ich mich festkralle, bemerkt es mit seinen feinen Sinnen jedoch und versucht, die Unruhe mit dem zärtlichen Stupsen seiner samtigen Nüstern zu beruhigen. Dankbar bin ich ihm dafür und das Streicheln seines weichen Fells tröstet tatsächlich sehr.

Thorin begutachtet das Rinnsal mit Abscheu, sagt etwas zu Balin, geht dann mit uns weiter die Straße hinauf, ihm folgend, vermutlich, um die Quelle auszumachen. Immer näher kommen wir damit meiner Vergangenheit. Ich richte den Blick auf die schmutzigen Steine vor mir, will die zerlumpten, armseligen Gestalten nicht sehen, die in Ecken hocken, neugierig auf die Fremden die zerrissenen Decken beiseiteschieben oder schiefen Türen öffnen, die die Zugänge zu ihren zerfallenen Häusern und Wohnhöhlen wenigstens etwas vor Zugluft und Dreck schützen. Tief ziehe ich die Kapuze des Mantels in das Gesicht, damit mich ja niemand erkennt. Schon damals war das Blond der Haare aufsehenerregend da selten und nur allzu erdenkbar, dass sich jemand der einstigen Nachbarn dieser Auffälligkeit erinnert.

Weiterhin aufzublicken vermeide ich, nachdem wir erneut anhielten, Thorin nun etwas entrüstet-lauter mit Balin über die unzumutbaren Zustände spricht und Abarron, die Statthalter, Büttel und noch so einige andere Verantwortliche standesrechtlich und aufs Fürchterlichste verflucht. Erst recht nicht, als ein überaus vertrautes, tief in das Gestein eingeritztes Zeichen, ob ich es nun will oder nicht, Zugang zu meinem Blickfeld findet. Die Bindrune für Schutz, ashmâr, ein Stab mit zwei sich überschneidenden und in der Mitte eine Raute bildenden Zacken. Einst, als sehr, sehr junges Mädchen, habe ich sie in den Stein vor unsere Wohnhöhle geritzt, damit nichts Böses uns widerfahren möge. Gewirkt jedoch hat sie nicht. Krankheit und Tod fand uns nur allzu leicht.

Ich bin einer Ohnmacht nahe. Erneut prasseln so viele Gefühle und Erinnerungen auf mich ein, dass mit ganz schwummrig wird. Dwalin bemerkt jäh den schweren Atem, mit dem ich versuche, die Beherrschung wiederzuerlangen. „Alles in Ordnung?", fragt er abermals und ich nicke schnell, wenn auch recht unglaubwürdig. Ein weiteres Mal geht ein Ruck durch seinen Körper, als wolle er mich tröstend in die Arme schließen, jedoch Unsicherheit und Verbitterung lassen ihn wiederholt einhalten. Gleichwohl spüre ich Traurigkeit darüber bei ihm und mir im Herzen aufkommen. Früher hätte er nicht einen Moment gezögert und jedwede Anstrengung unternommen, um das Unwohlsein zu vertreiben.

Schließlich ab wendet er sich, um nicht doch noch in die Versuchung zu gelangen, und gesellt sich zu seinem Bruder, der die von Thorin diktierte Mängelliste akribisch festhält. Eigentlich zur Hand müsste ich ihm dabei gehen, ebenfalls mitschreiben, jedoch sonderbarerweise, keinerlei tadelnde Beachtung findet die Tatenlosigkeit.

Khajmel stupst mich an, will mir Trost und Mut spenden, verdeutlichen, dass ich keine Angst vor der Vergangenheit haben muss, mich ihr stellen muss. Um abzuschließen, um zu erkennen, welch Anteil sie doch ebenso hatte an dem, was ich nun bin. Ohne sie, der Armut und dem Unglück in dem ich aufwuchs, dem Verlust, den ich erlitt und der mich den Weg gehen ließ, so steinig wie er auch manches Mal war, und der mich nun hierher zurückführte. Gewiss nicht als bitterarmes Mädchen, verletzt, verlassen und hoffnungslos, sondern als Frau, als Kriegerin, als jemand, der viel erreichte, erlebte und wuchs an jedem Ereignis.

Daher tief einatmend, den Gestank des Rinnsals verdrängend, sehe ich schließlich auf und erschrecke fürchterlich. Niemals wirklich ansehnlich oder geräumig, geschweige denn in gutem Zustand, war die Höhle, in der meine Mutter und ich wohnten, eher hausten. Lehm bröckelte aus den Wänden, verursachte mitunter große Löcher, die wir versuchten mit Papier, Steinen und Kohlestücken zu füllen. Fenster und Tür waren schief und undicht. Die Dielen im Inneren splittrig, bildeten breite Spalten und knarzten durch Feuchtigkeit verzogen bei jedem Schritt. Jedoch der Anblick dessen, was von ihr übrig blieb, nachdem meine Tante, die sie mir einst abstritt, sie wohl recht bald darauf bereits verließt, versetzt mir unendlich viele, nadelfeine Stich ins Herz, die tiefer gehen und schmerzvoller sind, als jedweder Verlust bisher.

Kaum mehr etwas ist an seinem Platz. Die Tür halb aus den Anglen gehoben. Die Scheiben der Fenster allesamt zersprungen. Löcher und lange, gezackte Risse klaffen in der Außenmauer. Langsam gehe ich näher heran, spähe bange durch das Türloch, in Erwartung Chaos im Inneren vorzufinden, jedoch nicht ein solches. Die Dielen knarzen noch schlimmer, als ich eintrete, bildeten Spalten, durch die das blanke Gestein zu sehen ist. Mäuse und Ratten verkriechen sich erschrocken in Ecken. Überall liegt der Kohlestaub zentimeterdick auf zerfallenen, zertrümmerten und umgestoßenen Möbelstücken und zurückgelassenen Dingen. Tonscherben, madenlöchrige Holzbretter, Stofffetzen und allerhand Unrat stapeln sich wo man auch hinsieht zu Haufen auf. Die Holzpritsche, auf der meine Mutter und ich dicht aneinandergedrängt schlafen mussten, steht als Einzige noch an der vertrauten Stelle, jedoch die Matratze ist aufgerissen und die Strohfüllung quellt heraus. Das Ungeziefer baute sich bestimmt gemütliche Nester damit und darin.

Gleichwohl dessen, schockiert lasse ich mich auf sie niedersinken, ungeachtet der Kohlestaubwolke, die mich daraufhin einhüllt. Tränen rinnen nun unaufhaltsam die Wangen hinab. Oh Mahal, dieser Anblick ist zu viel für das eh bereits verlustleidende Herz. Was ist nur geschehen?! Warum nur entriss mir meine Tante das Wenige, dass ich besaß, nur um es so verkommen zurückzulassen?!

Neben mir finde ich plötzlich doch noch etwas Intaktes. Behutsam hebe ich das Erinnerungsstück auf, wiege es in den Händen, während meine Tränen darauf herniedergehen und sich mit dem Staub zu einem schwarzen Bächlein aus Trauer und Schmerz vermischen.

„Astâ?" Dwalins besorgte Stimme ist es, die die Stille abrupt zerreißt. Gesucht hat er mich wohl. „Was tust du hier drin?" Eine berechtigte Frage. Ich zögere trotzdem, sie ihm zu beantworten, wende das Antlitz beschämt ab. Gleichwohl, als er dennoch die Tränen sieht, daraufhin näher kommt, eine Hand hebt und mir so liebevoll wie früher, über die bestimmt schmutzverklebte Wange streicht, fasse ich doch den Mut mich ihm zu offenbaren. „Das war einst mein Zuhause", flüstere ich mit heiserer Stimme.

Thorin und Balin treten ebenfalls ein in meine Vergangenheit, scheinen gleichermaßen erschüttert von ihrem Zerfall, während Dwalin vor mir in die Knie geht. „Was meinst du damit?", möchte er wissen. Nicht nachvollziehen und vermutlich noch weniger glauben kann er die Enthüllung, obwohl sie eindeutig formuliert war. Ich blicke auf die mit blauen Efeumuster verzierte Teekanne, die von mir umklammert wird, als wäre sie der kostbarste aller Schätze, so sehr, wie sie Amad damals geschätzt und gehütet hat. „Ich ... ich habe hier zusammen mit meiner Mutter gewohnt, bis sie starb, und meine Tante, ihre Schwester, mich einfach hinauswarf." Tränenschwer ist die Offenbarung, unterbrochen von Schluchzern. So lange trug ich dieses Geheimnis im Herzen. Niemanden erzählte ich seither davon.

Thorin kommt näher, will Dwalin nicht verdrängen, sondern sorgt sich mit ihm. „Verzeiht mir, Majestät", flehe ich. „Verzeiht mir, dass ich Euch zwar mitteilte, dass ich aus einfachen Verhältnissen stamme, aber nicht vollkommen ehrlich darin war, wie ärmlich und abstoßend sie tatsächlich waren." Er schüttelt den Kopf, kniet sich ebenfalls hinunter, so dass er sich auf Augenhöhe zu mir begibt. Eine Geste großer Achtung, von jeher und nun noch viel bedeutender. Dwalin würdigt sie mit einem anerkennenden Blick.

„Warum hast du es mir denn nicht gesagt? Ich hätte dich doch sonst niemals hierher gebracht, an den Ort so vieler Erinnerungen, die dich schmerzen könnten." Verunsichert senke ich den Blick. „Ich schämte mich ihrer so sehr." In Thorins Augen schimmert Verständnis, Kummer und weitaus herzzerreißendes mehr. „Das musst du nicht. Deine Herkunft ist nicht weniger teuer denn die Dwalins oder die meine. Die Verhältnisse, in denen wir aufwuchsen, sagt nichts über den Wert, den wir als Zwerg innehaben. Und sieh nur, was du erreicht hast, wer du jetzt bist, auch wegen ihnen. Ich habe mich immer gefragt, woher das große Mitgefühl rührt, dass du zu jedem Wesen und insbesondere zu denjenigen hegst, die nur wenig besitzen oder durch Umstände alles von diesem verloren. Nun jedoch weiß ich es und meine Wertschätzung dieser Eigenschaft an dir, vermag ich nicht in Worte zu fassen."

Tränen laufen weiterhin über die Wangen, inzwischen allerdings nicht mehr ob des Schocks, sondern der anerkennenden Äußerung. Hinter mir lassen kann ich nun die Vergangenheit, den Verlust, den Groll, meine Herkunft. Ich bin ich, Kriegerin, Vertraute des Königs, die Rechte seiner Hand. Mündel zwar, Dienerin, dennoch frei und wohlhabend an Freunden und Getreuen. Beide sehen auf die Teekanne hinunter, die ich nach wie vor fest umklammere, erkennen, dass sie hierin wohl das einzige noch intakte ist und nicht nur darum von großer Bedeutung sein wird.

„Deine Mutter wäre mit Sicherheit sehr stolz auf dich und das Erreichte. Ich hätte sie gerne kennengelernt", verkündet Dwalin, wie immer die Gedanken erahnend, die mich in diesem Moment bewegen. Thorin nickt zustimmend. „Ich ebenso. Sie war bestimmt eine wundervolle Frau, freundlich, inspirierend und wertschätzend." Ich lächle sie beide dankend dafür an.

„Möchtest du noch bleiben?", fragt Thorin sanft und greift nach meiner Hand, aber ich schüttle den Kopf. „Dann lass uns nach Hause reiten", schlägt er vor und schmunzelt über das wohl unbewusst Gesagte, denn ja, dort wo er ist, seine Schwester, Kili, Fili, Dwalin, Balin, Jassin und all die anderen sind, da ist nun mein Zuhause. Und ich bete zu Mahal, dass es dies bis zum Lebensende bleiben wird.


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