Niphredil

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Bekümmert kehre ich mit dem frisch und belebend duftenden Kräuterwasser an Dwalins Bett zurück. Zudem eine der lieben Heilerinnen bestand darauf mir etwas gerade gebackenes Brot, Schinken, gesüßten Hirsebrei mit Birnen und Tee mitzugeben, das sie zusammen mit der Schüssel auf ein Tablet stellte. Ein Stück Apfelkuchen aß ich zuletzt, kurz bevor ich mich in die Bibliothek zurückzog, um den Bericht fertigzustellen, und mein Magen knurrte erbost darüber, dass ich ihn die letzten Stunden geflissentlich ignorierte, als mir der Duft des warmen Laibs in die Nase stiegt. Hätte ich doch nur auf Fenna gehört, die es wie immer nicht guthieß, dass ich das Abendbrot verpasste und darum bat, stattdessen wenigstens etwas Vernünftigeres zu mir zu nehmen. Mit einem Kuss und dem Versprechen vor dem Zubettgehen noch ein klein wenig zu essen, gelang es mir allerdings, die alte Zwergin zu beschwichtigen. So unendlich weit entfernt scheint dieser profane Moment, obwohl seither nicht einmal ein ganzer Tag verging.

Ori bemerkt wohl, dass das Gemüt bedrückter wirkt als vordem bereits, jedoch zu viel Ehrfurcht besitzt er und die weiterhin bestehende Scheu hindert ihn zusätzlich, um zu fragen, was denn geschah. Dankend und mit dennoch sorgenvollem Blick nimmt er eine Scheibe Brot mit Schinken und eine Schüssel des Breis entgegen.

„Das riecht köstlich. Kann ich vielleicht auch etwas haben?" Beinahe die herübergereichte Tasse mit dem heißen Tee lasse ich auf ihn fallen, so sehr erschreckt mich Dwalins schwach-geflüsterte Stimme. Trotzdem weiterhin dicke Schweißtropfen auf seiner aschfahlen Stirn schimmern, hat er die fieberglänzenden Augen geöffnet und blickt recht munter zu uns hinauf.

„Du bist wach", hauche ich. Nicht sicher, ob die erneut von selbst fließenden Tränen mehr Freude, Erleichterung oder Angst innehaben, denn oft bereits schienen die Patienten in diesem Stadium der Krankheit auf dem Weg der Besserung, nur um wenig später in ein Delirium zu fallen, aus dem sie nie wieder erwachen. Er nickt und greift kraftlos nach meiner Hand, die neben der seinen ruht. Warm ist sie und nicht mehr fieberglühend. Aber genauso dies könnte ein trügerisches Abflauen sein.

Ein paar Löffel meiner Portion des Hirsebreis flöße ich ihn vorsichtig ein. Dazu Athelassud, gleichwohl er diesen nur mit deutlichem Widerwillen selbst nach Oris sorglichem Zureden zu sich nimmt, der uns anschließend allerdings alleine lässt. Vorgeblich um sich die Beine ein wenig zu vertreten, jedoch vermutlich einen Moment der Zweisamkeit will er uns geben.

Wund scheint seine Kehle vor Durst und Fieber zu sein, denn schrecklich erschöpfend hustet er, als die warme Flüssigkeit darin hinab rinnt. Erschrocken verberge ich die blassroten Flecken vor ihm, die das Weiß des vorgehaltenen Taschentuchs besudeln. Die Krankheit schädigt das Gewebe, besonders das der Lunge, löst es regelrecht auf, ähnlich der Schwindsucht. Durch genauere Untersuchungen von Verstorbenen, die ihre Körper den Heilern dafür zur Verfügung stellten, konnten wir dies feststellen, jedoch weiterhin nicht ausmachen warum. Aber auch andere Organe, Augen, Schleimhäute, sogar die Haut, können im späteren Verlauf betroffen sein. Ich hörte bereits von Fällen, in denen sich diese in großen, schwarzen Fetzen vom Leib der Sterbenden schälten, sie vollkommen erblindeten oder im Mundraum Ekzeme und offene Wunden jedwede Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit unmöglich machten. Welch unwürdiger Tod, egal für wen.

Still zu Mahal betend, dass er ihm dieses Schicksal verwehrt, helfe ich Dwalin, sich wieder erschöpft niederzulegen. Die dürftige Energie, die ihm langer Schlaf und Brei gab, scheint binnen weniger Augenblicke aufgebraucht. Verzweiflung, noch zehrender als jemals zuvor, packt plötzlich das Herz. Tatsächlich sterben könnte er, schnell, qualvoll und ohne, dass ich oder Oin oder Thorin oder selbst Mahal etwas dagegen unternehmen könnten. Hilflos müssen wir sein und das Leiden so vieler anderer mit ansehen. Unbewusste Tränen tropfen auf seine Brust. Stark muss ich doch für ihn sein, schelte ich mich sofort und verbanne sie hastig von den Wangen, ihm nicht mit gramerfüllter Hoffnungslosigkeit zeigen, wie schlecht es um ihn steht.

„Weine nicht, kundanud", wispert er, so leise, dass ich mich hinunter, näher zu seinen aufgesprungenen Lippen, beugen muss, um das Gesagte zu verstehen. Sein warmer Atem streicht über das Gesicht und unwillentlich, unpassend im Kummer, erwachen die Erinnerungen an das Gefühl der ihren, liegend auf den meinen. „Weine nicht um mich, ich habe gelebt, gekämpft, gesiegt und geliebt, mehr konnte mir Mahal in seiner Güte an Erfahrung und Glück nicht schenken. Ich bin bereit meinen Platz neben Vater und Mutter einzunehmen. Ich werde dort auf dich warten, eine Ewigkeit, und wenn es sein muss, bis zum Ende aller Tage, an dem ich wieder an deiner Seite kämpfen darf."

„Ich will nicht, das du gehst", schluchze ich leise und bette die Stirn auf seine Brust. Langsam, schwer und stockend hebt und senkt sie sich. Das Strömen des Atems rasselnd darin. Eigentlich unerträgliche Schmerzen wird er leiden. Unaufhaltsam ist der Zerfall bereits. Der Wille daher fürchterlich egoistisch. Unter größter Anstrengung bettet er eine tröstend-liebende Hand auf mein Haupt. Nicht mehr sagen kann er, jedes weitere Wort inhaltsleer, würde ohnedies keinen Trost spenden oder den sinkenden Mut aufhalten können. Er hat sich verabschiedet. Wohl nicht wirklich mit den Erklärungen und Taten, mit denen er es tief in seinem Inneren möchte, jedoch jedwede Kraft fehlt ihm bereits dazu. Gleichermaßen ihn wie mich betrübend, bleibt nur die vielsagende Verwebung unserer Finger ineinander, als Zeichen ewiger Verbundenheit und Liebe.

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

Schauderhaft schrecklich ist das Erwachen aus Träumen, an deren Inhalt sich der Geist zum Schutz nicht mehr erinnert, jedoch das schnell pochende Herz verrät nur allzu arg: Fürchterlich waren sie. Sorgenstarre Finger, die über die Wange streichen, erlösten mich zum Glück von ihnen. Ori ist es. Entschuldigend für das so Plötzliche aus dem Schlaf reißen senkt er den Blick, während er mit der anderen Hand mein Buch fest an sich presst. Nicht bemerkt hatte ich, dass er sich mit sich nahm.

Der Kopf schmerzt genauso wie der Rücken, denn auf Dwalins Brust liegend schlief ich letztendlich in einer krumm-schiefen Haltung ein, nachdem sich sein Atem beruhigte, langsamer und noch schwerfälliger wurde, dadurch verriet, dass die Erschöpfung ihn erneut in einen hoffentlich heilsamen Schlaf zwang. Tränenspuren kleben auf den Wangen, jedoch sinnlos erscheint es mir, sie zu entfernen. Neue werden allzu bald dazukommen, dessen bin ich mir sicher. Ori wartet, bis ich mich aufrichtete, mit schmerzunterdrücktem Stöhnen die steifen Glieder strecke und den Nacken wieder mobilisiere. Aufgeregt scheint er derweil, andererseits jedoch auch unsicher.

„Ich glaube, ich habe etwas gefunden, das helfen könnte", sagt er schließlich, schwankend, ob er dies leise aussprechen oder nicht doch lieber in Jubelstürme ausbrechen soll, denn grandiose (falsche) Hoffnung könnte die Vermutung entfachen. Ich fahre jeglichen weiterhin verbliebenen Schmerz des Körpers und die trotz der kurzen Ruhe dumpfe Erschöpfung ignorierend auf. „Was hast du gesagt?!" Die Chance dafür war jämmerlich, kleiner noch als ein Staubkorn in einem Berg aus Kieselsteinen. Er schlägt das Buch an der hastig mit einem zwischen die Seiten geklemmten Bleistift markierten Stelle auf und zeigt mir diese vor.

Die kunstvoll detaillierte Skizze einer mir durchaus bekannten Blume dominiert eine der beiden Pergamentseiten, obwohl ich sie vor langer Zeit in einem weit, weit entfernten Land wachsend auf grünen Auen unter goldenen Bäumen sah. Zart wie ein erster Frühlingshauch sind ihre hängende Kelche formenden Blütenblätter. Weiß wie Schnee. Rein wie ein sich gerade durch die Kraft der nach tiefen Winterschlaf wiederauflebenden Sonne von Eis befreienden Bachlaufes. „Niphredil", flüstere ich voller Ehrfurcht vor dieser so unscheinbaren jedoch mächtigen Blume und lese hastig den sie begleitenden Text.

Über ein schreckliches Leiden berichtet er, dass einst zu Beginn des Dritten Zeitalters Menschen, Zwerge und die damals dort ansässigen Harfüße, eine scheue und längst in Vergessenheit geratene Art der Hobbits, in den Gebieten Rhovanions heimsuchte und viele Todesopfer forderte. Jede wenn auch manchmal vage Beschreibung der Symptome steigert das fieberhafte Verlangen in Euphorie auszubrechen, denn allzu ähnlich lauten sie. Die Elben Lothlóriens wurden um Hilfe ersucht, da fähige Heiler und Gelehrte unter ihnen waren, aber gleichermaßen sie kannten kein Mittel, um das Sterben zu lindern. Zuerst. Denn der Zufall oder das Schicksal, Ilúvatar, einer der Valar oder ein anderer Schutzgeist wollte es, dass ein Krieger seine an der Krankheit sterbende Geliebte auf dem Hügel Cerin Amroth brachte. Ihr Wunsch war es, das Reich Lothlórien ein letztes (erstes) Mal zu erblicken. Silberne Niphredil und ihre goldene Schwesterblume Elanor wachsen noch heute dort zuhauf und nirgendwo sonst in ganz Mittelerde. Niemand weiß genau warum. Er legte sie in das weiche Gras und pflückte ihr eine der weißen Blumen, da ihr Anblick sie erfreute und beruhigend auf den Weg, den sie nun bereit war zu gehen, schicken sollte. Wie viele Dinge, die in ihrer Art bezaubernd und unschuldig erscheinen, so ist Niphredil giftig. Beim Genuss der Blütenblätter oder Stängel fällt man in einen tiefen, ruhigen Schlaf, aus dem es kein Erwachen gibt, gleichwohl die unansehnliche, kleine Zwiebel aus dem sie erwächst, eine schwach-heilende Wirkung gegen allerhand Krankheiten besitzt. Jedoch als die Sterbende das Blümchen aß und sich darauf freute, dem qualvollen Schmerz endlich in einer tiefen Ohnmacht entfliehen zu können, da merkte sie plötzlich, wie er dagegen immer mehr entschwand, unterdessen sie dennoch weiter bei Bewusstsein blieb, ja sogar neue Lebenskräfte wie ein silberner Fluss ihren Körper durchfluteten. Ihr Fieber ging zurück. Der Schweiß bedeckte zwar weiterhin klebrig und übelriechend ihre Haut, jedoch auf zu fließen hörte er. Binnen weniger Stunden erholte sie sich vollständig. Niphredil besiegte die Seuche letztendlich.

„Hol Oin, schnell", befehle ich Ori und er hastet ganz aufgeregt davon. Immer und immer wieder lese ich die Zeilen des Kapitels, weiterhin im Unglaube dessen, was dort geschrieben steht: Die Lösung, die wir hofften zu finden. Jedoch schlagartig wird mir stechend im Herzen bewusst, zu spät entdeckten wir sie. Der Wald Lothlórien liegt weit, weit entfernt. Weder die Erkrankten noch die Blumen können wir dorthin oder hierhin bringen. Sterben würden beide gleichermaßen auf dem langen Weg. Selbst Raben, die obendrein nur wenige der Pflanzen tragen könnten, würden einige Tage benötigen. Die erhoffte Lösung, die doch keine ist.

In Tränen will ich ausbrechen, da kehrt Ori mit Oin und zudem Balin zurück. Vage wird er ihnen mitgeteilt haben, worum es geht. Viel zu weitsichtig denkt und handelt der junge Zwerg, als dass er sie vielleicht unnötig in Euphorie versetzt. „Ist es wahr?", fragt Oin mich und ich nicke unsicher, während ich ihm das Buch übergebe. Mit konzentriert zusammengezogenen buschigen Augenbrauen liest er die Zeilen, in Zweifel seiner Auffassungsgabe und des Wunders immer und immer wieder von vorn, so wie ich vordem. Und dann sehe ich wie gleichermaßen in seinen Augen der währenddessen erglimmende Hoffnungsfunke ob der über ihn kommenden eiskalten Ernüchterung jäh zugrunde geht.

Balin erkennt den trüb-traurigen Blick, den Oin mir zuwirft, wissend darum, dass ich die Unmöglichkeit der Rettung ebenso begriff, obwohl sie direkt vor uns liegt. „Was ist?", drängt er schließlich zur Aufklärung. „Niphredil, eine Blume, die nur in den Gefilden Lothlóriens zu finden ist, könnte nach diesem Text ein Heilmittel für die Krankheit sein", unterrichtet ihn Oin mit kummerschwerer Stimme. Selten sah ich den Heiler dermaßen jedweder Hoffnung beraubt. Balin versteht nun und erschreckende Blässe überzieht innerhalb eines Augenaufschlags sein Antlitz. Vater und Mutter verlor er bereits, der jüngere Bruder der Einzige, der ihm an Familie blieb. Wie groß die Angst um ihn und der Schmerz seines drohenden Verlustes sein wird, kann ich allzu sehr nachempfinden. Mutlos stützt er die sonst nimmerruhenden Hände auf das Fußende des Bettes und betrachtet mit tränenglänzenden Augen den schlafenden Dwalin. Sein Kummer ist ebenso der meine, sticht tief im Herzen, und so lege ich die Arme um ihn. Tröstend, beistehend, im verzweifelten Versuch ihm Halt zu geben, obwohl die Verzweiflung droht mich gleichermaßen unerbittlich in den Abgrund zu ziehen.

„Er stirbt", flüstert Balin. Das Bewusstwerden und Aussprechen dessen so schmerzhaft, als wäre es ein scharfes Messer, dass das Schicksal uns grausam in die Brust rammt. Die getrockneten Tränenspuren auf den Wangen zeichnen den neuerlich rinnenden einen Pfad vor. Dicke Tropfen versinken in dem Stoff seiner Tunika, während er ebenfalls sie nicht mehr zurückhaltend mich gleichermaßen tröstend und beistehend in die Arme schließt.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top