Mutterliebe

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Der Tag bricht an, den ich so lange herbeisehnte, in dessen Erreichen so viele Versprechungen und Hoffnungen lagen ... und der nun voller Traurigkeit steckt, denn nicht mit dem an meiner Seite, die diese all die Jahre galten, kann ich ihn begehen.

Die Augen brennen nach den Nächten, in denen ich sie nur gefüllt mit Tränen und für wenige Stunden schloss, da Alpträume beständig den Schlaf beschwerten. Der Kopf schmerzt. Die Beine sind schwach. Dennoch schiebe ich sie langsam über die Bettkante und zucke zurück, als die nackten Füße auf kalten Boden treffen, denn genauso wie ich mich vordem, freuen sich meine Freunde und Vertrauten auf ihn. Ein großer Tag im Leben eines Zwerges ist der 75. Geburtstag und verbunden mit vielen Zeremonien, Wünschen und Vergnüglichkeiten.

Die ersten Rituale muss ich allerdings traditionell für mich und mit mir allein durchführen, denn ein Tag des sich Bewusstwerdens des neuen Lebensabschnittes und mit ihm einhergehenden Veränderungen, Verpflichtungen sowie Freiheiten ist es ebenso. Sorgfältig haben mich Jassin, Fenna und auch Dís schon seit Monaten auf die über viele Generationen weitergetragenen Bräuche vorbereitet. Enttäuschen will ich sie nicht.

Mein Weg führt mich daher zuerst in die Badestube. Nur schummrig beleuchtet von nach Rosen duftenden Kerzen wird sie. In dem großen Zuber, der bereits von Jassin mit frischem Wasser aus den tiefen Seen des Berges gefüllt, sorgfältig angewärmt und mit Salbei, Beifuß, Lavendel, Wacholder und Salz versetzt wurde, wasche ich mich gründlich von den Taten, Denkweisen und jugendlichen Sünden der vergangenen Lebensphase rein. Es mildert das Brennen der Augen, die Schmerzen des Kopfes und spendet spürbar neue Kraft, denn durch das Gestein, aus denen Mahal auch mich schuf, sprudelte es viele Jahrhunderte.

Die gereinigte Haut sowie Haare und gestutzter Bart werden mit einem Öl aus Lavendel, Rosen und Jasmin gepflegt. Nur zu einem dicken Flechtzopf bändige ich danach das Goldblond, befestige eine einzelne Perle mit einer Bindrune für Schutz unter dem Kinn und ziehe ein Kleid aus reinweißem Leinen an, dass lediglich silbern bestickte Bündchen an den Säumen aufweist. So einfach, unbescholten, geschützt und rein wie möglich soll ich in den neuen Abschnitt meines Lebens eintreten, in dem ich nun viel Eigenverantwortung übernehmen muss. Jedoch trotz der Freiheiten, bleibe ich weiter Mündel meines Herren, so, wie es einer Frau bestimmt ist.

Zufrieden bin ich mit dem Aussehen. Erwachsener sehe ich tatsächlich aus. Bereit zu wachsen an allem, was da kommen und ich entscheiden mag.

Damit auch der Kopf befreit wird, steige ich danach auf zum höchsten Punkt des Berges. Früh ist es noch, so früh, dass es der fahlen Spätsommersonne gerade erst gelang, sich beschaulich über die fernen Gipfel des Nebelgebirges zu erheben. Nebel liegt auf der Ebene, allein die sanften Hügel ragen aus ihm hervor, bewaldete, grüne Inseln in einem grauen Meer gleich. Frisch ist die Luft. Rein und von einem besonderen Knistern erfüllt, dass nur spürbar ist, wenn man sich bewusst wird, wie groß die Welt doch ist, wie klein einjedes Geschöpf in ihr, aber wie viel Einfluss jede Handlung, jedes Leben gleichwohl auf sie nimmt. Dass ich hier stehe, den Wind wahrnehmend, der vom Meer im Westen heran weht und den leichten Geruch von Salz und die leisen Schreie der Möwen in sich trägt, festes, starkes Gestein unter den nackten Füßen spürend, die Wärme der Sonne auf der Haut, fernab von allen, nah am Dach der Welt, scheint kaum von belang. Jedoch habe ich das Leben vieler bisher beeinflusst, sei es mit Worten, Taten, dem Schwert, Mut, Zögern, Verstand oder Torheit.

Ich erinnere mich zurück an Tage in Armut, in denen ein Leib Brot die Welt bedeutete.
An Nächte verbracht in Trauer und Angst.
Übergriffe. Verzweiflung. Hunger.
Die Geborgenheit eines Zuhauses, das ich schließlich fand und mir endlich Sicherheit, Respekt, Anerkennung, Liebe und Zuversicht bot.
Umarmungen. Vertrauen. Hoffnungen, auch wenn ein Teil ihrer vergebens war.

All die Ereignisse der zurückliegenden Jahre. Gute wie Schlechte, Traurige wie Freudvolle. An jeder Einzelnen von ihnen wuchs ich. Erlebte so viel. Lernte so viel. Litt und lachte. Facettenreiche Erfahrungen nehme ich mit in das Dasein als Mündige. Sie werden mir auf dem Weg, der nun vor mir liegt, beratend zur Seite stehen und bestimmten, was, wer und wie ich bin und sein werde. Ungesehen ist dieser Pfad jedoch, windet sich verborgen in der Finsternis der Nacht. Der Blick zurück ist gleichwohl schwarz. Keiner der Fehler umsonst. Jede getroffene Entscheidung, und war sie noch so schmerzhaft, barg Gutes in sich, auch wenn ich dieses nicht immer sofort sah. Auch die Letzte, die ich traf, obzwar sie mir auf dem Weg vorwärts einen hellen Lichtfunken in der Dunkelheit nahm.

Einen bewussten Moment der Stille und Leere genieße ich. Fühle den Wind, der mit den losen Strähnen der Haare spielt, wie mit einem übermütigen Kind. Schöpfe neue Kraft aus dem Stein des Berges, auf dem ich fest und ungebeugt stehe. Fülle die Lungen mit der frischen Luft, deren Kälte sticht, aber mir gewahr werden lässt, dass im Leben auch Schmerzen vonnöten sind, denn nur durch sie wachsen wir und erfahren Heilung von Wunden, die noch viel qualvoller sind, sollten sie offenbleiben.

Vom höchsten Punkt des Berges führt mich mein weiterer Weg hinab zum tiefsten. Still und kühl ist es auch dort. Bedächtig und einsam. Jedoch kein Wind weht und nur das beständige Fließen und Tröpfeln von aus dem Gestein heraussickernden Wasser ist zu hören.

Zwei Wachen stehen am Portal zu den Grüften, den Hallen des Todes. Ehrenvoll und aufmerksam trotz des vom Leben im Berg abseitigen Dienstes begrüßen sie mich mit gesenktem Blick und lassen mich passieren, nachdem ich ihnen sagte, wer ich bin und zu wem der hier liegenden ich will.

Einen bitteren Moment verweile ich vor dem breiten mit immerbrennenden Fackeln erhellten Gang, der nahe des Eingangs zu den Hallen der Adligen und Ehrenvollen führt. Später werde ich ihn gehen, Vilí und der kleinen Vís einen Ehrenbesuch abstatten, jedoch vordem muss ich einen anderen Weg einschlagen, den ich lange schon nicht mehr ging. Er bringt mich tief in das Innere der Grüfte, vorbei an hohen Wänden, in denen sich unzählige Nischen mit darin aufgebahrten Särgen einfacher Machart befinden. Aus oft billigem Holz sind sie. Nur wenige aus Stein, lediglich vereinzelt beschlagen mit Metallen und verziert durch Gold oder Silber, so, wie es die Tradition eigentlich verlangt. Einige wurden mit frischen Blumen geschmückt, andere werden von einer bereits zentimeterdicken Staubschicht bedeckt und vermodern unlängst, so dass das Weiß der Leichentücher durch große Spalten hindurchblitzt. Zwerge liegen hier, die dem dritten Stand angehören. Bauern, Handwerker, Tagelöhner, Büttel, Schmiede, Knechte und Mägde. Oft kaum Geld besaßen ihre Anverwandten, um sie angemessen beisetzten zu können. So auch ich einst, denn der Sarg meiner Mutter ist einer von denen, der ärmlich schlicht hier aufgebahrt ruht.

Lange besuchte ich sie schon nicht mehr und die Blumen, die ich dereinst brachte, sind seit einer ganzen Weile bereits verdörrt. Ich könnte das Versäumnis mit Zeitnot, Verpflichtungen, Unbedachtheit begründen, jedoch ist es vielmehr die Traurigkeit, die mich auch nach den vielen Jahren noch immer überkommt, wenn ich hier bin, die mich davon abhielt. Gleichsam brauche ich diesen Ort nicht unbedingt, um sich ihrer zu erinnern.

„Hallo Amad", flüstere ich und streiche sorgfältig den Staub vom fasrigen Buchenholz, an dem ich mir bereits einige Splitter einriss. „Entschuldige, dass ich so lange nicht mehr hier war." Ich lasse die Hand verweilen, dort, wo ihr Kopf ruht, schließe die Augen und versuche, ihrer Gestalt, ihr Lächeln, ihre Blicke, mit denen sie mich immer stolz gleichwohl mit einer eigenartigen Wehmut vermischt ansah, deren Ergründen mir nie gelang zu erfahren.

Kurz halte ich inne, erweise einer kleine Prozession vorbeiziehender Zwerge mit respektvollen Schweigen und gesenktem Blick Ehre, die einen ebenso ärmlichen Sarg tragen. Eine Frau und ihre Tochter, kaum älter als Ori, gehen ihnen schluchzend nach und werden schließlich von der Dämmerung des Ganges verschluckt, der sich weiter in den Berg hinein windet. Vom Munde abgespart werden sie sich Träger und Bestattung haben, denn unter den zerlumpten Kleidern waren die ausgemergelten Körper schaurig leicht zu erkennen. Bittere Armut herrscht in diesem Reich trotz aller Bemühungen. Nicht zur Gänze Kenntnis von ihr erlangen die Verantwortlichen und auch mir gerät sie oft in Vergessenheit, bei all dem Glanz, der mich alltäglich umgibt.

Tief greife ich in die Tasche des Kleides und hole etwas aus ihr hervor, das wohl kostbarer ist als all Sonstiges in den Hallen Thorins, obwohl es so klein und schlicht erscheint, bar jedes edlen Metalls oder funkelnder Steine. Lange überlegte ich, was ich ihr zur Würdigungen herstellen soll, denn Tradition ist es, dass beim Erreichen der Mündigkeit auch die Mütter, die Bewundernswertes leisteten mit Schwangerschaft, Geburt und Versorgung der Kinder, ein Geschenk erhalten. Selbst angefertigt mit den Fähigkeiten, die im Laufe des Lebens erlangt wurden, muss es sein. Das Handwerk der Stoffverarbeitung erlernte ich von ihr, wenn auch nicht vollumfänglich. Dennoch war ich in der Lage, gleichwohl mit durch Nadelstiche geschundenen Händen, eine Puppe für sie anzufertigen, auf die ich, vermessen gesagt, recht stolz bin. Haare aus schwarzer Wolle, Knopfaugen, gesticktes Gesicht und ein ebenso selbstgemachtes Kleid aus einfachen Leinen, das jedoch Bordüren aus Silberstickereien besitzt, die das Muster abbilden, das sie mir einst persönlich fertigte und übergab. Andächtig lege ich sie auf den Sargdeckel, dort, wo ich ihr Herz vermute.

„Für dich, Amad", flüstere ich, „denn du gabst mir das Leben, das ich schätze und so gut und ehrenvoll es mir möglich ist, zu führen versuche, um dich und Adad, auch wenn er nicht von mir wusste, stolz und glücklich zu machen." Tränen fließen mir über die Wangen, denn oh wie gerne hätte ich ihr das Geschenk und die Worte von Angesicht zu Angesicht gegeben. Wie gerne würde ich sie noch einmal in die Arme schließen und hören, dass sie auch bisher stolz auf das Erreichte und Geleistete ist. Ich bete zu Mahal, dass sein Bruder im Geiste, der über die Totenhäuser in Aman wacht, ihr die Nachricht überbringen wird.

Aber nicht nur ihr will ich danken für all die Fürsorge, Erfahrungen und die gegebene Liebe, auch wenn es nicht die einer Mutter war, so fühlte sie sich dennoch für mich so an.

Mein Weg führt mich daher zurück zu einem Ort, den ich ebenfalls schon lange nicht mehr aufsuchte. Das ‚Baraz Anâm' ist gewachsen seither. Neue Verzierungen erhielt der Schweifgiebel und der Stein, der die Fassade bildet, wurde abgeschliffen und sorgfältig poliert, so dass die natürlichen blau-grauen Maserungen, die sonst auch überall im Berg zu finden sind, wieder stärker hervorkommen. Die Fenster sind geputzt und wäre da nicht noch immer das knarzende Schild, das eine üppige Zwergin mit auffallend roten Lippen zeigt und über der großen Eingangstür schwingt, um die Vorbeilaufenden zum Einkehren zu bewegen, ich würde glauben, einen anderen Namen und zusätzliche Bestimmung würde das Gasthaus tragen.

Von meiner Mutters Haus gelang ich einst hierher. Erlebte Schönes und Schreckliches, fand Freundinnen und eine von ihnen lehrte mich viel und ich liebte sie trotz der Gefahren, und dass sie mich nicht vor ihnen beschützen konnte, wie eine Mutter.

Drinnen ist es stickig und blau-dunstig vom gerauchten Pfeifenrauch des gestrigen Abends, der niemals abzieht. Das Gasthaus ist immerzu für Reisende, die eine Unterkunft benötigen, geöffnet, jedoch zu dieser Zeit zwergenleer bis auf die Tagelöhner, die keine Arbeit fanden, und ihren Kummer darüber unter dem Einsatz des Wenigen, das sie noch besitzen, in Bierkrügen ertränken. Ihre Augen blicken traurig in die Leere ihrer Abgründe, beachten mich nicht, bemerkten vielleicht nicht einmal mein Eintreten. Auch dies änderte sich nicht.

Eine Zwergin steht hinter dem Tresen und räumt mir abgewandt abgewaschene Krüge in ein hohes Regal. Graue Strähnen wie Gespinstfäden weben sich durch das sonst noch immer feuerrote Haar. Auch sie wurde älter.

„Ich komme gleich, der Herr", sagt sie freundlich mit immerlachender Stimme, als sie bemerkt, dass jemand an den Tresen herantrat. Umso größer ist die Überraschung, nachdem sie eine Frau dort entdeckt. Jedoch erkennt sie mich nicht sofort, denn das Grün ihrer Augen, das mir einst so strahlend wie ein Smaragd erschient, wird nun von einem blassen Wolkennebel überzogen.

„Verzeiht, die Dame", entschuldigt sie sich mit einer leichten Verbeugung. Ihr erblinden betrübt mich. Selten ist dies bei Zwergen und wie wohl auch bei den Minenarbeitern, die allzeit Staub und kleinen Gesteinssplittern ausgesetzt sind und bei denen die Erkrankung sonst auftritt, wird die andauernde Arbeit hier, beständig Rauch und zu sehende Schandtaten ausgeliefert, das Fortschreiten begünstigen.

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen", flüstere ich leider mit schwermütiger Stimme und räuspere mich, damit sie ihren normalen Klang wieder annimmt. Sie stutzt, denn gleichwohl kommt sie ihr bekannt vor. „Darf ich Euch ein Zimmer anbieten, oder ein Mahl? Wir haben Reh hereinbekommen, ganz frisch, heute Morgen erst geschossen, wie mir der Jäger versicherte."

„Darf es auch eine Umarmung sein, liebste Myra?", frage ich stattdessen und jetzt erst erkennt sie mich. „Astâ, bei Mahal Kind, bist du es wirklich?!" Ich lache traurig und glücklich zugleich und fasse zur Bestätigung nach ihrer Hand, die auf dem Tresen ruht.

Sie scheucht die Tagelöhner hinaus und schließt ab, damit wir in Ruhe reden können. „Lass mich dich ansehen", sagt sie und tastet mit leichten Fingern mein Gesicht ab. „Du bist so wunderschön wie einst und so erwachsen." Zum Glück kann sie das heiße Erröten der Wangen ob ihres Kompliments nicht sehen.

„Stehst du noch im persönlichen Dienste Ihrer Majestät?" Ich bejahe, erzähle ihr von meinen Aufgaben und den Ereignissen der letzten Zeit. Stolz lächelt sie darüber. „Ich wusste bereits bei unserer ersten Begegnung, dass mehr aus dir werden sollte und auch wird, als nur eine Schankmaid in einem schäbigen Etablissement. Aber sag, was führt dich hierher zurück."

Ich greife erneut in die Tasche meines Kleides und ziehe eine kleine Rosenblütenbrosche aus Silber und mit einem Smaragd bestückt heraus. Die Finger habe ich mir gebrochen bei ihrer Anfertigung und währenddessen mehrmals an den Rand der Verzweiflung und Aufgabe getreten, bis Thorin mir zu Hilfe eilte, nachdem ich ihm von den Schwierigkeiten die Blütenblätter zu formen und zusammenzufügen erzählte. Daher nicht gänzlich eigenhändig ist sie gefertigt, aber mit den Fähigkeiten, die er mir beibrachte.

„Ich erreiche heute meine Mündigkeit", beginne ich das Hiersein zu begründen, „und will dir gerne diese Brosche hier schenken." Ehrfürchtig übergebe ich ihr das Schmuckstück und einen Moment braucht sie, um die Bedeutung dahinter zu erkennen, währenddessen sie sie mit vorsichtigen Fingern befühlt. An der den Wolkennebel hinweg spülen wollenden Tränenflut wird mir schließlich gewahr, dass sie ihrer erfasste.

Fenna ist die nächste Zwergin und Ziehmutter, die ich aufsuche. In der Küche werkelt sie, trotzend ihres Alters und der Gebrechen und das es Andere dafür gibt. Anders als Mysa bemerkt sie mein Hereinkommen sofort, wenngleich auch sie unlängst gleichwohl nicht vollständig erblindete. An den Schritten, selbst wenn ich mich darauf konzentriere, dem Geruch und weiteren Merkmalen erkennt sie jeden von uns recht zuverlässig.

„Astâ, mein Mädchen", sagt sie und säubert sich die mehlbestäubten Hände an der Schürze. „Lass mich dich ansehen an deinem großen Tag." Liebvoll streicht sie mir über Wangen und Haare, lächelt dabei warm und stolz und wehmütig. „Du hast dich so sehr verändert, seitdem du zu uns kamst. Wie war ich erschrocken, als ich dich das erste Mal sah, so ausgemergelt und verletzt, über die körperlichen Verletzungen hinaus."

Ich senke den von Gedankenschwere bedrückten Blick. Wie recht sie hat. Wie sehr ich mich doch wandelte in Erscheinung, Charakter und Stärke. Gleichwohl Wunden mich noch immer zeichnen, einige bereits vernarbt, andere erst frisch gerissen im Herzen, so wuchs ich an jeder Einzelnen von ihnen und keine vermochte es, mich wieder so schwer zu verletzen wie die Damalige. Bis auf eine und die Blutung aus ihr ist noch lange nicht gestillt. Heißes Rot fließt beständig aus ihr, seitdem er mich verließ. Jedoch anmerken lassen will ich mir nicht, wie sehr sie schmerzt und der Kummer quält, gerade an diesem Tag, der eigentlich uns gehören sollte, nachdem alle Riten vollzogen wurden und ich vollständig Sein werden könnte.

Fenna weiß natürlich um sein Gehen und das dem vermutlich ein entzweiender Streit vorausging. Wie wohl viele setzte sie Hoffnung in die Verbindung und fühlt den Schmerz in mir. Daher bekümmert ist ihr Lächeln auch. Aber nicht hier bin ich, um sie zu betrüben.

Ich fasse erneut in die Tasche des Kleides und hole das Geschenk an sie hervor. Ein Bild aus sorgfältig und langwierig in Seidenpapier gepressten Blumen, die sie so sehr liebt. Reinweiße Margeriten, hellblaue Kornblumen, zartrosane Geranien, purpurne Veilchen, gelber Jasmin und feuerrote Mohnblüten, verziert mit Farnen und bunten Herbstblättern. Ehrfürchtig übergebe ich ihr es. Nah an die Augen muss die den Rahmen führen, damit sie die sonst verschwommenen Farbkleckse erkennen kann. „Ich danke dir für deine warmen Worte in Zeiten der Not, die fürsorglichen Hände, die meine Wunden heilten, für jeden Ratschlag und all das, was du mir beibrachtest, als ich unter dir diente."

Sie begreift den Sinn des Geschenks schnell. Eine Ziehmutter war sie als Amme auch für Thorin, Frerin und Dís, nachdem ihre leibliche in den Flammen des Drachen starb. Ebenso von ihnen erhielt sie Ehrungen, wie mir Balin erzählte, währenddessen ich mir einige dicke Bücher von ihm auslieh, zwischen denen ich die Blumen presste. „Mein Kind, es war mir eine Ehre dich mit aufzuziehen", erwidert sie mit Tränen in den Augen und streicht mir so liebevoll, wie es nur eine Mutter kann, über die Wange.

Hell klingt mein Klopfen an der mit Blumenranken verzierten Tür und genauso schallt die Erlaubnis eintreten zu dürfen durch sie hindurch zurück. Verändert haben sich die Räumlichkeiten dahinter in den zurückliegenden Jahren. Pastellfarben und verspielte florale Muster wichen erdigen Tönen und sich immer wiederholenden geometrischen Verzierungen aus Gold, an denen wir Zwerge so sehr Gefallen finden. Nur hier und da findet sich noch eine verschnörkelte Weinranke auf Kissen oder die Andeutung einer Rosenblüte, geschnitzt in eines der Möbelstücke aus dunklem Holz. Ein wenig - und es betrübt mich, dies festzustellen - spiegelt der Wandel auch den Fall der Prinzessin in die finsternis-schwere Trauer des Verlustes über Gemahl und kaum geborenen Kind. Dennoch behaglich blieb ihr Gemach. Immer warm und gemütlich und voller wohliger Worte und Taten. Das Lachen ihrer Söhne die Freude ihres Lebens. Tief durchdrang es das blau-weiße Gestein und setzte sich darin fest, erfüllt die Räumlichkeiten beständig mit Heiterkeit.

Dís sitzt in einem Sessel Nahe des großen Fensters und betrachtet die von einer warmen Spätsommersonne beschienene Ebene vor dem Berg. Sie lächelt, nachdem ihr mein Hereinkommen gewahr wird, noch bevor sie sich mir zuwendete.

„Du bist bereit", anerkennt sie das Aussehen leise und dennoch voller Stolz. Langsam aber anmutig, wie es einer Prinzessin gebührt, erhebt sie sich, um auf mich zuzuschreiten. Überwältigend schön ist sie noch immer, trotzend des Grams, der tiefe Falten in ihr Antlitz furchte und einige Strähnen der goldblonden Haare mit Silberfäden verzierte.

Ich verbeuge mich vor ihr. „Hast du alles erledigt?", fragt sie liebevoll und streicht eine der sich störrisch kräuselnden Haarsträhnen hinter mein Ohr. Als meine Herrin obliegt ihr die Führung der weiteren Zeremonie, die sich den Ritualen anschließt, die ich alleine verrichten musste. Ich nicke beflissen, jedoch: „Noch nicht gänzlich", offenbare ich, gleichwohl nicht bereuend, bereits vorher zu ihr gekommen zu sein. Sie stutzt merklich über die Dreistigkeit dennoch hier zu sein. „Dürfte ich Euch bitten, Euch zu setzen, Hoheit?", erkundige ich mich, gesonnen ihre Entrüstung darüber schnell legen zu wollen. Sie kommt dem Ersuchen ihrer Dienerin nach, trotzend des Stolzes einer Prinzessin, und lässt sich auf den weichen Polstern des Sofas nieder.

„Verzeiht mir Herrin, dass wir noch nicht fortfahren können, aber ..." Ich fasse - nein nicht ich in die Tasche meines Kleides, denn dafür ist es zu groß - sondern in einen Beutel, den ich vordem holte, und ziehe das Geschenk für sie hervor. Lange überlegte ich, was sie wohl gebrauchen könnte, sie als Herrscherin der silbernen Quellen, Prinzessin aus Durins Geschlecht, wunschlos glücklich an Materiellen, und fand schließlich etwas mit der Hilfe ihrer beiden Söhne, die ganz besessen nach Geschichten sind.

Ein Buch überreiche ich ihr ehrfürchtig, eingeschlagen in Eichenholzdeckel, die mit metallenen Eckbeschlägen aus Messing verstärkt wurden, und den klarsten Bergkristall, den ich finden konnte, oval geschliffen als Zierde in der Mitte der Vorderseite trägt. Sie nimmt es mit fragendem Gesichtsausdruck an. „Es enthält Sagen, Lieder und Legenden unseres Volkes, zusammengetragen aus alten Schriften und den Erzählungen von Balin, Fenna, Ihrer Majestät und Euch, gerne gehört von Euren Kindern und mir", erkläre ich hoffend, es gefällt ihr. Dís blättert einige der eng und ordentlich beschriebenen Pergamentseiten um, verweilt kurz an einer Stelle oder einer eigens angefertigten Zeichnung oder Karte, und liest dann weiter. Jedoch weiterhin verwirrt sieht sie mich anschließend an.

„Mein Verweilen in diesem Haus habe ich Euch zu verdanken, Hoheit. So viel an Wärme, Vertrauen und Zuneigung gabt Ihr mir, begleitete meine Entscheidungen mit Ratschlägen, Zuversicht und Warnungen. Mit Geduld wiest Ihr mich in die Feinheiten des Hofes ein, vermitteltet mir Wissen über bloße Fähigkeiten hinaus. In so vielen Dingen erinnert Ihr mich an meine Mutter und das erste Mal nach ihrem Verlust, fühlte ich mich in Eurer Umarmung wieder geborgen und geliebt wie in einer der ihren."

Dís scheint völlig überwältigt von Geste und Erklärung. Natürlich ist ihr die Bedeutung geläufig, aber sie rechnete wohl nicht damit, dass ich ihr diese Anerkennung erweise. „Bei Mahal, ich weiß nicht, was ich sagen soll", stammelt sie und währe es nicht anmaßend respektlos, über ihr sprachloses Verhalten könnte ich lächeln. Niemals bisher erlebte ich sie so.

Die ringbewehrten Finger gleiten über den Einband, verweilen an dem reinen Bergkristall. „Das schönste Geschenk, das ich jemals erhalten habe. Wertvoll über seinen Wert hinaus", anerkennt sie schließlich und macht mich glücklich.

Langsam beugt sie sich zu mir hinüber, lässt die zitternden Finger die Wange entlang streichen. Warm und liebevoll ist die Berührung. „Wir haben dich gerne hier, mein Kind. Du bist ein kostbares Mitglied unserer Familie. Ein einst verlorener Edelstein, der den Weg zu uns zurückfand." Und sanft lehnt sie die Stirn an meine. Eine innige Geste, empfangen schon oft von ihrem Bruder und von Dwalin, aber noch niemals von ihr. Zuneigung drückt sie aus. Wertschätzung und Vertrauen. Ich weine unter ihr, überwältig ob der Stärke und Bedeutung.

Lange Zeit verweilen wir so. Die Bindung stärkend. Das Gefühl genießend. Bis sie sich schließlich von mir löst, ein Schniefen nicht unterdrückend, und noch einmal über den Einband des Buches streicht. Das Empfinden beschleicht mich, etwas mehr will sie sagen. Etwas Bedeutsames, denn ihre Lippen und Finger zittern und der Blick verweilt gedankenschwer, wendet sich jedoch nach einigen Momenten wieder befreit mir zu. „Aber jetzt lass uns gehen. Die anderen werden schon voller Ungeduld auf dich warten."


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