Märchenstunde

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Bei Durins Bart, was für einen hässlichen Hunger habe ich nach der langen Reise. Wie klaftertief dieser jedoch bereits ein Loch in meinen Bauch grummelte, merke ich gleichwohl erst, als Thorin und ich das Esszimmer der Familie Tuk betreten. Selbstverständlich frisch gebadet (gemeinsam natürlich) und umgezogen.

Einzig ein langer eichener Tisch steht inmitten des riesigen Raums, durch den zu meinem Entzücken der Stamm eines mächtigen Baumes wächst, dessen Äste einen Teil des Gebälks bilden und mit bunt-leuchtenden Lampions behangen sind. Ihr Scheinen vermischt sich mit dem des Feuers im gemauerten Kamin und zaubert dadurch eine beruhigende Atmosphäre. Trotzdem anständige Hobbits etliche Mahlzeiten am Tag zu sich nehmen - Thorin berichtete von sieben! an der Zahl – zelebrieren sie diese mit Hingabe und einer gewissen Verbissenheit. Es sind keine schnellen Gerichte, die sie nebenbei essen. Jedes Einzelne von ihnen wir mit Leidenschaft bereits am Vortag geplant, akribisch und teilweise nach alten Familienrezepten zubereitet und pünktlich eingenommen. Jedwede Verzögerung oder Störung dabei ist eine Ungehörigkeit sondersgleichen und an Taktlosigkeit nicht zu überbieten, geschweige denn zu verzeihen. Daher eilten wir uns mit dem Herrichten, trotzend dem Verlangen, dass das warme Wasser die verspannten Muskeln nach dem langen Ritt weiter lockern solle.

Jedoch plangemäß zu den Mahlzeiten zu erscheinen wird wohl eine der wenigen festen Termine unserer Tage hier sein. Zudem wurde uns gestattet, einige von ihnen auszulassen, wenn wir das Bedürfnis dazu verspüren. Die Hobbits wissen um die Trinkfestigkeit der Zwerge und dass wir genauso wie sie Unmengen bei einem einzigen Mahl vertilgen können, gleichwohl sind sie nachsichtig darin, dass wir es gewohnt sind nur wenige über den Tag verteilt zu uns zu nehmen.

Thorins und mein Platz befindet sich ehrenvoll links neben Gerontius und seiner Gemahlin, die als Hausherr und Clanchefin des Hauses an der Stirnseite die ihren eingenommen haben. Mit gegenüber als älteste Tochter an der Seite ihres ältesten Bruders sitzt Belladonna. Sie trägt ein hübsches Kleid mit großen Rüschen am Kragen, die mich ein wenig an wogende Wasserwellen erinnern, denn der Stoff irisiert bei jeder Bewegung in Hellblau und Weiß. Der Rest der Familie die ich bereits kennenlernte und viele weitere Hobbits, die vom Aussehen her entweder Gerontius oder Adamanta oder keinem von beidem ähneln, platzieren sich wohl ebenso einer strengen Sitzordnung folgend. Einige Kinder sind unter ihnen, blondgelockt und pausbäckig und so bezaubernd zuckersüß wie der Guss auf dem Apfelkuchen vor mir. Junge Mädchen mit langen Wimpern und Bändern im Haar. Staatliche Burschen, nahe der Adoleszenz, die Hobbits mit dreiunddreißig Jahren bereist erreichen. Sie gelten ab dann als verantwortungsbewusst, jedoch bei einigen von ihnen funkelt weiterhin der gleiche schelmische Schabernack in den Augen, wie ich ihn von Fili und Kili kenne. Gleichwohl niemand reicht auch nur ansatzweise an das Alter Gerontius' heran, der sich, nachdem alle ihre Plätze einnahm, mit einem Glas Wein in der Hand wieder von seinem erhebt.

Er stellt uns den Anwesenden vor - jedoch ohne zu erwähnen, welch hohe Stellung Thorin innehat - und heißt uns erneut als seine Gäste willkommen, bevor er darauf anstoßen lässt, dass wir eine schöne Zeit hier erleben mögen. Thorin dankt ihm herzlich, auch in meinem Namen, und bietet als Erkenntlichkeit unsere Hilfe an, wo immer wir sie einbringen können. Ein Schmied wie er und gelehrte Geschichtenerzählerin wie ich werden hoffentlich ebenso hier benötigt.

Das Essen schmeckt herrlich. Pilzpasteten, noch warmes Brot und fluffig-weiche Brötchen, mit und ohne cremige Fleischfüllungen, verschiedene Suppen, Knödel mit Soße, gedampftes Gemüse, Wild, eine ganze Ente, Kartoffelauflauf, zwei Kuchen, Apfelstrudel, gebratene Forelle, aufgeschnittenes Obst. Wie schade, dass ich trotz des großen Hungers nur einen Bruchteil der aufgezählten Köstlichkeiten überhaupt probieren kann. Gleichwohl in einer erstaunlichen Schnelligkeit leert sich jede Schüssel und jede Platte restlos.

„Erzählt Ihr uns von einem Eurer Abenteuer, Meister Thorin?", bittet, nachdem alle satt und zufrieden weiterhin am Tisch verweilen und plaudern, ein kleiner Hobbitjunge mit großen rehbraunen Augen und zupft dabei an seiner Tunika. „Fortinbras, bitte belästige unseren Gast nicht", wird er jedoch sofort von Isumbras, seinem Vater und zweitältesten Sohn von Gerontius, zurechtgewiesen. Es ist schwer die Namen und Verhältnisse aller Mitglieder der Familie Tuk, ihre Anverwandten und Nachkommen im Gedächtnis zu behalten, aber ich versuchte es zumindest vor Anritt unserer Reise, um mir keine Ungeschicklichkeit zu leisten. Der Junge zuckt von der Maßregelung getroffen zusammen. An Ori erinnert er mich. So wissbegierig und mutig darin, denn es bedarf einiges davon, um einen ausgewachsenen Zwergenkrieger anzusprechen.

„Nein, bitte, das ist doch keine Belästigung", versichert Thorin daher wohl ebenso beeindruckt und hebt das Kind auf seinen Schoß. „Was möchtest du denn gerne hören ... über den alten Ent, dem mein Bruder Frerin und ich einst im Grünwald begegneten, oder darüber, wie ich meiner Schwester Dís einst heimlich die unteren Minen im Erebor zeigte und wir dort einen Klumpen Gold fanden, der größer war als ein Drachenkopf, oder aber, wie meine Gefährtin Astâ hier, ein paar meiner Freunde und ich das verzauberte Elbenreich Lothlorien entdeckten?"

Kaum vorstellen könnt ihr euch, wie tellergroß und sternenleuchtend seine Augen werden und in welcher Geschwindigkeit sich plötzlich so ziemlich alle Hobbitkinder, die bis eben noch brav und gesittet am Tisch bei ihren Eltern saßen, und auch einige der Älteren, um uns versammeln. Sie reden wild durcheinander. Der eine möchte die erste, der nächste die zweite, andere lieber die dritte Geschichte hören. Thorin lacht. Laut und brummend und herrlich anzuhören. Zuhause versammelt er regelmäßig seine Neffen, Ori und die Kinder der Ministeriale und Dienerschaft um sich. Er liebt und genießt es ihnen von großen Heldentaten, Schlachten, Legenden, Ursprüngen von Brauchtümern, Drachen und Unholden zu erzählen.

„Ich weiß etwas anderes", sagt er schließlich mit geheimnisvoll-tiefer Stimme. „Die Geschichte, wie ich einst drei Bergtrollen begegnete und sie mit einer List dazu brachte, sich so lange zu streiten, bis die Sonne aufging, wird euch bestimmt gefallen" Ja, ja, jubeln alle im Chor. Selbst mir ist diese Begebenheit noch nicht bekannt.

In ein dem Speisesaal angrenzendes Kaminzimmer, das sich mit seinen gemütlichen Sesseln mit hohen Lehnen, dick gepolsterten Sofas auf denen unzählige Kissen liegen, flauschigen Wollteppichen und schummrig-warmen Flammenlicht als ein Traum von einer Märchenstube erweist, zieht sich die Gesellschaft also zurück. Auch einige der Erwachsenen und Halbwüchsigen schließen sich der Kinderschar an, die dem Zwergenkrieger ganz aufgeregt ab und auf hüpfend folgt, genauso wie Hausherr und Clanchefin.

Märchenonkel Thorin lässt sich in einen der Sessel nahe des Kamins nieder und wartet, bis alle einen Platz fanden, wobei er mir deutet, dass ich den meinen neben ihm einnehmen soll, so, wie es mir auch zuhause immer gestattet wird. Manches Mal, wenn er von gemeinsamen Abenteuern berichtet, unterstütze ich ihn bei seiner Erzählung, schmücke sie mit spannenden oder lustigen Begebenheiten, ergänze hier und dort oder schildere eine besondere Situation aus meiner Sicht.

Mit tiefer Stimme beginnt er schließlich zu fabulieren. Von einem Streifzug durch den einst Grünwald aber nun, da das Dunkle langsam wieder in ihm erwacht, düster genannten Tann erzählt er. Jung war er damals, fern der Kriegsreife, jedoch darin begabt sich unerlaubt aus dem Heimatberg zu schleichen, um die umliegenden Gegenden zu erkunden. Vorstellen kann ich mir einen bockbeinigen, rebellischen und nur Flausen im Kopf umhertragenden halbwüchsigen Thorin sehr gut, sehe ich doch, wie er so manches Mal an dem Schabernack von Fili und Kili verzweifelt, gleichwohl sie allzu oft mit Milde davonkommen lässt. Er weiß aus eigener Erfahrung, dass aus ihnen dennoch anständige Krieger, Prinzen und Anwärter auf Durins Thron werden.

Der Wald grenzt im Norden an das Gebirge Ered Mithrim, in dem sich seit jeher allerhand böse Kreaturen verkriechen. Orks, Drachen, Warge, Vampire, Werwölfe, riesige Spinnen, Unholde und Trolle. Keinerlei Vorstellung haben jedoch die Hobbitkinder von diesen Ungeheuern, sind die ihren im Auenland doch nur weit entfernte und fast vergessene Legenden, über die einige der Älteren berichten können, obgleich keiner von ihnen wohl jemals einen Ork geschweige den Drachen in Wirklichkeit zu Gesicht bekam. Daher ein verstaubtes Buch holt Gerontius aus seinem Arbeitszimmer hervor. Fein säuberlich auf vergilbtem Pergament wurden darin allerhand Schreckgestalten gezeichnet und erstaunlich detailreich beschrieben. Ein seltenes Werk ist solch ein umfangreiches und vor allem noch intaktes Bestiarium. Ich selbst fand bislang wenn überhaupt nur einzelne lose Buchseiten oder Entwürfe in den zwergischen, elbischen oder menschlichen Bibliotheken. Ob ich mir wohl eine Abschrift anfertigen darf, frage ich Gerontius daher, aber er drückt mir daraufhin das Buch freudig lächelnd einfach so in die Hand. Allerhand Sonderliches und Wunderliches haben seine Vorfahren vermutlich über all die Jahrhunderte angesammelt. In ihren Augen ohne gegenwärtige Verwendung, trotzdem einen gewissen Wert für sie aufweisend, werden sie seither in Kisten und Truhen und Kästchen und Bücherregalen aufbewahrt, verstaubend, aber niemals vergessen, um bei passender Gelegenheit an Freunde verschenkt zu werden. Mathoms nennen die Hobbits solcherlei Dinge. Eines von ihnen ist nun wohl auch in meinen Besitz übergegangen.

Weiter erzählt Thorin, dass er auf der Jagd nach einem Reh unbemerkt immer tiefer in den Wald geriet und sich alsbald verlaufen hatte. Sein Sinn für Orientierung war noch nie gut ausgeprägt. Während die Dunkelheit hereinbrach, irrte er weiterhin durch das Unterholz, sorgte sich jedoch nicht um seine Sicherheit, wurden die Grenzen doch gut von den im Waldlandreich lebenden Elben und einem alten Volk der Menschen beschützt, denen nachgesagt wurde, dass sie die Fähigkeit besitzen, sich des Nachts und nach eigenen Willen in Tiere zu verwandeln.

Jedoch alsbald hörte er ein schrecklich lautes Knacken und Rumpeln, gefolgt von dem mächtigen Stapfen gewaltig großer, plumper Füße, als würde jemand die alten Bäume umknicken wie Getreidehalme. Thorin suchte hinter einem umgestürzten Baumstamm, Deckung, beobachtete allerdings, aus Neugierde wohl, weiter die Umgebung. Und dann sah er sie plötzlich. Trolle. Riesige, hässliche, dumpfe Bergtrolle, drei an der Zahl, mit grauer, rauer Haut, die Stein ähneln, langen Armen und kurzen Beinen und einem unschönen Vokabular, das aus ihren nach Fäulnis stinkenden Mäulern drang und er hier lieber nicht wiedergeben möchte.

Schnell suche ich die passende Stelle in meinem neu erworbenen Schatz und zeige den gefesselten Zuhörern die Zeichnung eines solchen Ungeheuers. Ein Raunen geht durch die Runde. Frauen schlagen sich geschockt von der Hässlichkeit die Hände vor die Münder. Die jungen Männer brüsten sich damit, dass sie es mit solch einer Bestie bestimmt auch aufnehmen könnten, und die Kinder rutschen gespannt näher heran.

Thorin berichtet weiter, dass er zögerte, jedoch niemals an Flucht dachte. Er führte sein treues Schwert und Pfeil und Bogen mit sich. Gleichwohl schwer ist es, Bergtrollen mit Waffen beizukommen, besonders als einzelner Krieger. Ungeahnt schnell sind sie und ihre Haut überaus dick, einem Panzer gleichend. Er entsann sich allerdings, dass sein Lehrmeister einst erwähnte, dass Trolle bei nur dem kleinsten Sonnenstrahl der auf sie trifft zu Stein erstarren und entschloss sich, auszuprobieren, ob dieser Mythos wirklich stimmt oder nicht.

Er schlicht sich leise an das Lagerfeuer der Unholde heran, dass sie unweit von ihm auf einer Lichtung entzündet hatten, um einen gefangenen Hirsch zu verspeisen, und versteckte sich hinter einem Baum. Ihr Geruch verpestete die Waldluft und kein Halm und Strauch war vor ihren klobigen Händen und unvorsichtigen Füßen sicher. Neben seinen Waffen führte Thorin zu dieser Zeit auch immer eine Schleuder mit sich, die sein Bruder Frerin ihn gefertigt hatte. Er las einen geeigneten Stein vom Waldboden auf und zwiebelte ihn einen der Trolle in den Nacken, eine der wenigen Stellen, an denen sie verwundbar sind. Sofort sprang dieser auf.

Etwas hat mich gebissen, jaulte er. Die anderen lachten. Ein Floh mag es gewesen sein, mutmaßten sie spöttisch, er solle ihn gefälligst bei sich behalten. Thorin feixte, denn sein Plan ging wie vorgesehen auf. An eine andere Stelle der Lichtung schlich er und beschoss den zweiten Troll. Auch dieser sprang auf und beschwerte sich, dass der Floh nun ebenso ihn gebissen habe. Wenig später führ der dritte hoch und griff sich in den schmerzenden Nacken. Verdammtes Ungeziefer schimpfte er und schüttelte sich.

Thorin war zufrieden. Zwei Taschen voll sammelte er weitere Steine, lief um die Lichtung und beschoss die Trolle immer wieder. Ganz wild wurden sie mit der Zeit, beschimpften und beschuldigten sich gegenseitig. Keiner von ihnen kam mehr zur Ruhe, denn Thorin ließ sie ihnen nicht.

Bald hielten die Trolle das Zwicken und Zwacken nicht mehr aus. Immer noch in dem Glauben, ein Floh bisse sie, liefen sie los, in die Richtung eines nahe fließenden Baches. Tief war sein Lauf und steil das Ufer. Mit einem lauten Platsch sprang erst der eine, dann der Zweite, und schließlich der Dritte in das Wasser, um das Ungeziefer von sich zu spülen. Ein vielleicht zweimal in ihrem Leben baden Trolle und dann auch nicht in Flüssen oder Seen, sondern seichten Gewässern, denn ihre Leiber sind schwer und Sauberkeit ihnen sowieso verhasst.

Zum Verhängnis wurde ihnen daher die Kopflosigkeit. Zwar gingen sie nicht unter, jedoch fanden sie keinen Halt an dem steilen Hang, rutschen immer wieder hinunter. Ihr Fluchen krakelte durch den Wald, denn ihnen wurde allmählich bewusst, was dies bedeuten könnte.

Thorin indes wagte sich zum Rand der Uferböschung vor, als der Morgen langsam am östlichen Himmel graute. Die Trolle entdeckten ihn und als sie die Schleuder in seiner Hand sahen, erkannten sie ihre Dummheit. Jedoch keine Zeit blieb ihnen mehr, denn immer höher stieg die Sonne über die Wipfel der Bäume empor.

„PUFF!" Die Kinder, die Thorin nun beinahe auf den Schuhspitzen hocken, erschrecken sich von seinem Ausruf. „Und sie alle zu Stein verwandelt wurden." Ein Moment Stille herrscht danach. Nur das Knacken und Knistern der mittlerweile weit heruntergebrachten Holzscheite im Kamin zu hören. Dann beginnt Gerontius dem Erzähler zu applaudieren und wenig später Fallen auch alle anderen in den Beifall mit ein.

„Das war wirklich eine abenteuerliche Geschichte. Warum hast du sie uns bislang niemals erzählt?", frage ich Thorin bei der Rückkehr zu unserem Gemach. Der Gang vor uns nur schwach von dem Schein der Kerzen die wir mit uns führen beleuchtet. Er lächelt sanft.

„Ich habe mich erst vor kurzen wieder an sie erinnert, als mir Frerins Steinschleuder aus Zufall in die Hände fiel und ich beschloss, sie Ori zu geben." Ein äußerst kostbares Geschenk. Der junge Zwerg wird es auch ohne das Wissen um seine Herkunft wie ein Juwel hüten und schätzen, dessen bin ich mir sicher.


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