Ich gebe dich frei

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Schwer liegt die Erinnerung des Gefühls seiner Lippen auf den meinen, obgleich nurmehr eine Ahnung ihrer Weichheit und der Hauch des bitter-süß-herben Geschmacks nach Kaffee, Schokolade und Pfeifenrauch verweilten. Wie vermisse ich doch ihre Zärtlichkeit, ihre Dringlichkeit, ihre Leidenschaft und wie sie allzu geschickt vermochten, eine brennende Begierde in mir zu entfachen.

Ich entsagte diesen Gelüsten unter Schmerz und Leid, denn kaum weniger davon empfanden wir während ihres ungezügelten Auslebens. Gleichwohl das Sehnen nach seinen Berührungen, seinen Küssen, der Geborgenheit seiner Umarmung, erstarb niemals gänzlich. In Träumen erlebte ich die gemeinsamen Nächte allzu oft erneut seitdem, mitunter so greifbar und nachhaltig, dass ich erschöpft und verwirrt in der Dunkelheit meines Gemachs erwachte, unsicher, ob die Kälte und Einsamkeit real oder eine Täuschung ist, die ein hässlich-gemeiner Alb mir aufdrückte.

Verloren in den Gedanken an Thorin, laufe ich zwar mit weitem Blick durch den vertrauten Gang in Richtung Bibliothek, bemerke ihn aber nicht mir entgegenkommen, bis die Nasenspitze auf harten Stein stößt. „Vorsicht", sagt Dwalin und fängt meinen Arm, noch bevor ich aus dem Gleichgewicht gebracht zurückweichen kann. „Du träumst wohl schon mit offenen Augen." Wenn er nur wüsste, wie recht er damit hat.

Ich lächle ausweichend und trete schließlich einen Schritt zurück, um die in der Öffentlichkeit gebotene Distanz zwischen uns wiederherzustellen. „Es freut mich sehr, dass du wieder auf den Beinen bist", sage ich ehrlich erleichtert und lege eine schätzende Hand auf die seine, die noch immer behutsam auf meinem Arm ruht. Für eine weitere Woche, nachdem er entlassen wurde, verordnete Oin ihm strikte Bettruhe. Hoffentlich bemerkt der Heiler nicht, dass er diese nicht ganz erfüllte und es nun schon nach fünf Tagen nicht mehr in seinem Gemach aushielt. Verstehen kann ich die Ungeduld. Wenig Zeit blieb uns ihn tagsüber zu besuchen, meist waren es Dís, Fili und Kili, die bei ihm waren und versuchten die Langeweile zu mildern. Die vielen liegengebliebenen Aufgaben mussten schließlich aufgeholt und zudem neu hinzukommende trotzdem zügig abgearbeitet werden. Abends erst schaffte ich es, bei ihm vorbeizusehen. Oft schlief er bereits. Manches Mal jedoch, war ich mir dessen nicht ganz zu sicher und nur selten konnten wir ein paar Minuten beisammensitzen und reden. Über Belangloses meist. Wie mein Tag verlief, welche Neuigkeiten im Berg herumgehen, was für Fortschritte dieses und jenes Projekt erzielte.

Dwalin nickt bestätigend, dass es ihm wieder gut geht. Jedoch um die verlorene Kraft wiederzugewinnen, stehen ihm noch einige Mühen bevor. „Hast du heute Abend dienstfrei?", möchte er schließlich wissen. Selten ist dies, aber zufälligerweise gerade eben stellte mich Thorin für den Rest des Tages frei, vorgeblich, um meine Strafe abzuarbeiten, die das mehrfache, präzise Abschreiben des Gesetzes umfasst, gegen das ich verstieß. Ein lapidarer Urteilsspruch, kaum zufriedenstellen wird er Abarron in seiner Blasiertheit, jedoch egal ist dies Thorin. Über Höhe, Dauer und Umfang einer Ahndung gegen einen Adligen darf nur er allein entscheiden und sich nach Gutdünken dabei auch auf mildernde Umstände berufen, um sie abzuschwächen.

„Wie wäre es dann mit einer kleinen Schwertkampfübung? Ich bin etwas außer Form, wie du dir vielleicht denken kannst", scherzt er, nachdem ich meine Verfügbarkeit bestätigte. Gerne nehme ich den Vorschlag an. Lange schon trainierten wir nicht mehr miteinander und meine volle Unterstützung bei der Wiedererlangung seiner Stärke habe ich ihm versprochen.

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Jedoch nicht den Trainingsplatz wählte Dwalin für unsere Übung, sondern bittet mich in den kleinen Garten, der nur durch den seit Ausbruch der Krankheit ungenutzten Ballsaal zu erreichen ist. Ich kann mir nur vorstellen, dass er so vermeiden will, von anderen Kriegern dabei gesehen zu werden, wie er – so vermutlich seine Befürchtung – nicht die gewohnte Stärke im Kampf einzusetzen vermag.

An der Schwelle zu einem weisgesagten heißen Sommer steht der Frühling. Schwer flimmert schwüle Luft auf dem Plateau, obwohl dieses so weit oben liegt, dass von hier aus bei klarem Wetter der Blick bis zu fernen Inseln gelangen kann, die aus den tiefblauen Wässern des Meeres im Westen Mittelerdes ragen. Jedoch kein noch so leiser Windhauch weht von der Küste heran. Ein weitab entferntes Donnern allerdings, das aus schwarzen Wolken erklingt, die den baldigen Sonnenuntergang in seiner Pracht schmälern werden, wird die Hitze vermutlich in Kürze mildern.

Schmetterling umfliegen weiß und lilane Fliederdolden, die ersten Rosen recken ihre noch geschlossenen Knospen dem Sonnenschein entgegen, bunter Rittersporn, Nelken und blauer Elbenspiegel blühen am Rand des verschlungenen Pfades hin zur Wiese an der Nordseite des Gartens, denn ich einschlug. Hier warten wollte er, gleichwohl keine Spur von ihm ist zu entdecken. Daher mich geduldend, lege ich die Arme auf die breite steinerne, goldbewährte Balustrade, die einen Absturz in den darunter klaffenden Abgrund verhindern soll, und lasse den Blick schweifen über die Landschaft, die sich an die Hänge des sich in weite Ferne weiteraufragenden Gebirges schmiegt. Wäldchen, Wiesen, sanfte Hügel, kleine Flüsse, die sich glitzernd durch das Grün schlängeln. Keinen Fuß bislang setzte ich auf das Gebiet diesseits der blauen Berge, wie mir plötzlich bewusst wird. Nichts gibt es dort, außer Wildnis und die zerfallenen Überreste längst vergessener Kulturen. Die zerbröckelnden Rückstände einer bedeutungsvollen Zwergenstraße, die den regen Handel zwischen den Städten Nogrod und Belegost ermöglichte, lassen sich sogar unweit finden. Vielleicht sollte ich Thorin einmal bitten, sie entdecken zu können. Einen wichtigen Teil unserer Vergangenheit bilden sie ab. Außerdem, Tharkûna erzählte, dass sich einst ein Feld von Niphredil auf einer Lichtung in einem Wald in der Nähe befand. Auch wenn wir die Krankheit weitergehend besiegten, zu wissen, wo die Heilblume wächst, um ihrer bei einem erneuten Ausbruch schneller habhaft zu werden, wäre von Vorteil.

„Beobachtest du etwas Interessantes?" Dwalins Stimme lässt mich erschaudern, obwohl ich mit ihrem Aufkommen rechnete. Mit den scharfen Sinnen einer Kriegerin bemerkte ich sein Herannahen unlängst. Schwere Stiefelschritte, auch wenn sie vom weichen Gras gedämpft werden, tiefer Atem, die fein klirrenden Glieder seines Harnisches, das Klappern der Rüstung, sein Geruch nach Erde und Stein ... all das verriet ihn. Vielmehr die wohlige Wärme in seiner Stimme ist es, die meinen Leib erbeben lässt. Lange vermisste ich sie, glaubte sie sogar schon für alle Zeiten verloren. Langsam wende ich mich ihm zu und genauso dort begrüßt die erleichterte Seele unversehens die seit einigen Wochen unauffindbare und eingebüßt geglaubte Schokoladenwärme in seinem Blick, mit der er mich früher einst immer betrachtete. Etwas wandelte sich während der letzten Tage in dem schrecklichen Groll, den er (berechtigt) gegen Thorin und mich hegte.

„Nicht wirklich", beantworte ich dennoch besonnen seine Frage. „Nur die herrliche Aussicht." Er lächelt daraufhin, fremdartig scheu allerdings für den großen, mutigen, jederzeit gefassten Krieger. So eingehend ungewohnt, dass die Befangenheit jäh mit einem mulmigen Gefühl behaftet auf mich übergeht. Ihr beunruhigt ausweichend, eile ich mit gesenktem Blick an ihm vorbei auf die Mitte der Rasenfläche zu, währenddessen ich mein Schwert ziehe. Schließlich zum Trainieren und nicht zum Reden sind wir hier.

„Sage bitte, wenn du eine Unterbrechung benötigst. Ich will Meister Oins Sorge und Zorn nicht schüren, solltest du dich überanstrengen, vor allem, solange du eigentlich noch in deinem Bett liegen müsstest." Dwalin schnauft belustigt über Anweisung und darin enthaltende Rüge. „Das werde ich", verspricht er mir dennoch und zieht auch sein Schwert. Schwer liegt es unverkennbar in einer Hand. Einiges an Kraft büßte er während der Krankheit ein, gleichwohl versucht er, den unübersehbaren Umstand zu verbergen, in dem er schließlich beide um den Griff schließt. Nur selten führt er eine Waffe auf diese Weise, selbst wenn diese dafür ausgelegt ist. Achtsam muss ich sein, damit er sich nicht zu sehr erschöpft.

Unser Kampf ist daher langsam, stetig, vorhersehbare Angriffe wechseln sich mit Paraden und weiten Ausfallschritten ab. Erzwungene Pausen, in denen ich vorgeblich taktische Überlegungen anstelle. Hohes Klirren, wenn Metall auf Metall trifft und dumpfe Schläge auf hölzerne Schilde. An meine ersten Übungen mit ihm erinnert mich die Herangehensweise. Dennoch bald schon, sehe ich Dwalin die beginnende Ermüdung an. Die Krankheit schwächte vor allem die Lunge und damit die Fähigkeit zu langen, tiefen, ruhigen Atemzügen, die unerlässlich sind im Schwertkampf, um die Kontrolle über seinen Körper und die Schwerthand zu behalten. Doch niemals freiwillig zugeben würde er dies.

„Lass uns eine Pause einlegen", schlage ich deshalb vor. „Ich bin selbst ein wenig aus der Form, wie mir scheint." Dwalin zieht die Augenbrauen misstrauisch zueinander, denn ihm fällt wohl auf, dass ich anders als er kaum erschöpft und außer Atem wirke. „Mir fehlte in den letzten Wochen einfach die Zeit, um ausreichend zu trainieren." Ein wahrer Umstand zwar, aber dennoch führt dieser nicht unbedingt dazu, dass ich schneller erschöpfe. Die kleine Notlüge wird mir Mahal verzeihen.

In das weiche Gras lassen wir uns nieder und beobachten lange schweigend das langsam näherziehende Gewitter am Horizont. Weit entfernt zucken die ersten gelbhellen Blitze aus den dunklen Wolken und das Grollen wird bedrohlicher, auch wenn es eine halbe Ewigkeit benötigt, um zu uns zu gelangen. „Wir sollten bald hineingehen", empfehle ich, gleichwohl ich keine Lust dazu verspüre. Viel zu friedlich und ruhig ist es hier und Dwalins Wärme, wohltuend. Unsere Schultern berühren sich bei jedem Einatmen, so nah sitzt er mir. Fast so vertraut wie früher, fühlt sich die Situation an.

„Könnte ich vorher noch etwas mit dir bereden?", fragt er jedoch leise, als ich mich anschicke aufzustehen, denn die ersten zarten Regentröpfchen nieseln bereits herab. Sofort lasse ich mich wieder neben ihn nieder. „Natürlich." Tief atmet er durch und zupft verlegen ein paar der Grashalme. Schwer fällt ihm der Beginn des Gespräches offenbar. Ob er es plante oder spontan auf die Idee kam mit mir zu sprechen, das Training nur eine vorgeschobene Rechtfertigung war, um mit mir alleine zu sein, wäre hochinteressant zu erfahren.

„Ich wollte ... mich bei dir entschuldigen", sagt er schließlich und wirft die Halme unachtsam von sich, den Blick gerichtet auf das herannahende Gewitter. „Bei dir und Thorin. Ich bereue, dass ich euch für verachtenswert hielt, nur, weil ihr euren Gefühlen und der Leidenschaft, die zwischen euch seit Jahrzehnten bestand, endlich nachgabt."

Dumpf klingen seine Worte von damals in meinem Kopf nach. Die Hitze seines Zorns - schrecklicher noch als der, den er Feinden entgegenbringt - brennt bis zum heutigen Tag auf der Haut, als hätte er das Fleisch bis in die Tiefe versengt. Enttäuscht war ich von ihm. Verständnis hatte ich gleichwohl. Zu erfahren, wie die Frau, die man einst liebte und die einem abschwor, sich einem anderen Mann ganz ohne Liebe hingab, muss unsagbar schmerzen.

„In der Zeit meiner Krankheit habe ich erkannt, dass, trotzdem ich mich dir gegenüber wie ein Vollidiot verhalten habe, unversöhnlich war, eifersüchtig und zutiefst beleidigt tat, ich dir noch immer wichtig bin, ich dir noch immer wenigstens etwas bedeute." Hoffnungsvoll, dass er mit seiner Einschätzung nicht falschliegt, wendet er sich mir zu, den Blick demütig gesenkt. Gleichwohl weiter spricht er. Viel liegt ihm auf dem Herzen. „Oin bestätigte mir, dass du derweil kaum von meiner Seite gewichen bist und berichtete, welch Risiko du eingingst, um das Heilmittel zu finden. Nicht ungefährlich ist es Tharkûnas Rat zu ersuchen. Die Schicksalsbringerin ist eine mächtige Hexe, die in ihrem kleinen Finger mehr Kraft besitzt als einer der Istari. Und Thorin ... auch wenn er mir dies unter der Annahme erzählte, ich lege noch in tiefem Schlaf, so hörte ich es doch. Er vermisst dich und meine Freundschaft. Es schmerzt ihn, uns beide wegen seiner Dummheit verloren zu haben und seine Entschuldigung genauso wie deine Fürsorge und die Heilblume, brachten mich dazu zurückzukehren."

Näher zu ihm heran rutsche ich nach kurzem Zögern, lege eine eindringliche Hand an seine Wange, fordere damit aufzublicken. Matt wirken seine Augen. Unsicherheit und Scham schmälern die lang vermisste Wärme, die mir aus ihnen entgegenstrahlt, gleichwohl nicht einen Deut. „Du hast mir immer viel bedeutet und egal, was zwischen und war und was vorfiel, du wirst mir immer mehr bedeuten als jeder andere auf dieser Erde. Mein Leben verdanke ich dir. Du hast mich auf so vielfältige Weisen gerettet, nicht nur einmal. Daher, auch wenn ich nicht um die Gefahr wusste, jederzeit wieder würde ich mein Leben für deines riskieren und falls es nötig ist, in Mandos' Hände geben."

Dwalin lächelt, wenngleich weiterhin unsicher trotz der zutiefst ehrlichen Beschwörung. Er glaubt nicht daran, dass er in meinem Herzen einen wichtigeren Platz einnimmt denn Thorin. „Du sollst glücklich sein, das ist alles, was ich will und was mich ebenfalls glücklich machen würde. Und ich habe wohl gemerkt, wie bittere Schwermut auch von dir Besitz ergriff, nachdem du dich von Thorin distanziert hast. Wie sehr dich die schwerlich zu beherrschenden Gefühle zu ihm, die Sehnsucht und das Verlangen quälen."

Er senkt den Blick erneut, während Blitze den dunklen Himmel spalten. „Ich gebe dich daher frei und bitte dich, wenn du dies von Herzen möchtest, werde glücklich mit Thorin an deiner Seite. Kein verräterisches Wort darüber wird von meinen Lippen kommen. Beschützen werde ich eure Verbindung mit allem, was ich aufbieten kann, das schwöre ich dir hier und jetzt auf mein Leben." Dicke Regentropfen prasseln unvermittelt auf uns hinab und durchnässen die Kleidung innerhalb von wenigen Augenblicken bis auf die Knochen. Donner grollt nahe und aufkommender Sturmwind reißt an den Ästen der Bäume ringsherum, lässt die Blätter rauschen und das Holz bedrohlich unter der Vehemenz knacken. Jedoch ohne Belang sind die Naturkräfte.

Eine Stärke, die machtvoller ist als alle irdischen Kräfte in ihrer Gesamtheit aufzubringen vermögen, ist von Nöten, um sich einzugestehen, dass aufzugeben zwar entsetzlich schmerzt, gleichwohl demjenigen, den man liebt, genauso wie sich selbst, somit eine neue Chance geboten wird, glücklich zu werden. Zu Lieben bedeutet ebenfalls, loslassen zu können, wenn dies unentbehrlich wird.


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