Die Tränen so heiß auf den Wangen. Das Leiden so groß im Herzen.
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Schwer fällt es mir, mich zu konzentrieren auf die belanglosen Diskurse der von Geburt aus bevorrechtigten Herren über ihre Auffassungen, wie und warum überhaupt eine Mädchenschule – Thorins neuster Splen der Gutherzigkeit gegenüber dem einfachen Volk, wie sie den Plan abfällig nennen - gebaut werden müsse. Das Geschnatter der vornehmen Damen, die nichts Weiteres interessiert, als die in ihren Augen mindere Wertigkeit des Kleides einiger anderer Grazien und warum in Mahals Namen eine von ihnen kaum Geschmeide zu so einem wichtigen Anlass trägt, ist mir zutiefst zuwider.
Es mag die Erschöpfung sein, die sich nach drei Wochen des Feierns und Tanzens, Verhandelns und immer gefälligen Lächelns, der anstrengenden Tage und noch kräftezehrenderen Nächte tiefer in den Knochen steckt, wie es ein Zug durch raue Wildnis und anschließende Schlacht nicht könnte. Vermutlich trägt die zum Glück in vier Tagen endende Festzeit einen wesentlichen Anteil daran, dass ich die Gesellschaft anderer kaum mehr ertragen kann, jedoch ein weiterer Grund begünstigt die Abneigung noch arger.
Dwalin. Keinen Moment, den er in meiner Nähe verbringt (und es sind ihrer seit dieser Nacht auffallend mehr als sonst sogar), kann ich ihn aus den Augen lassen. Jede Bewegung und noch so beiläufige Berührung, jedes kurze Lächeln, jede liebvolle Geste und plötzlich aufkommender Gedanke an das Erlebte, schüren den Drang, in diesem Augenblick mit ihm allein zu sein. Eigenartig warm wird mir ums Herz und im ganzen Leib, sobald er seine Hand auf meinen Rücken platziert, um mich beschützt durch den Ballsaal zu geleiten, oder mir sein an Erinnerungen verlorener Blick gewahr wird, mit dem er mich allzu oft während unterschiedlicher Gelegenheiten betrachtet. Verlegen räuspernd und Ausflüchte murmelnd wendet er sich sofort ablenkenden Dingen zu, wenn ihn jemand – meist sein Bruder - darauf hinweist. Balin lächelt dann still in sich hinein und klopft ihn ermutigend auf die Schulter. Jedoch auch anderen fällt das Verhalten auf.
„Du wirkst abwesend." Yrsa als langjährige Vertraute spricht leise hinter vorgehaltenem Fächer und weiterhin der tanzenden Gesellschaft zugewandt, an deren Rand wir stehen, sodass sich keiner der Umstehenden ihrer Äußerung bewusst werden kann. Ich senke rasch den Blick, der sich offenbar erneut allzu auffällig Dwalin widmete. Thorin befahl ihm, den Abend an seiner Seite zu verbringen. Eine ungewöhnliche Anweisung, aber wohl allgesehene Stärke will er demonstrieren mit seinem trotz des jungen Alters an Kraft und Befehlsgewalt imposanten General.
Und wahrlich einschüchternd und prächtig sieht er aus. Nicht seine Paradeuniform trägt er heute. Gleichwohl edle Gewänder ganz im mitternachtsblau seines Garderegiments, mit Stickereien aus dunkelrotem Garn, die das für ihn persönlich einst von seinem Vater entworfene geometrische Muster darbieten, das auch in einigen Körperbildern Einschluss fand und den Siegelring an seinem Finger bestimmt, den er niemals ablegt. Darüber einen glänzenden Prunkharnisch aus kleinen Silberringen, die bei jeder Bewegung den Eindruck vermitteln, klares Wasser fließe über seine Brust und mit Goldfüllungen punzierte Armschienen aus schwarzem Leder. Mit finsterer Strenge in der steinernen Miene blickt er umher. Immer wachsam. Allzeit zum Angriff bereit.
Gewiss Thorin, der neben ihm auf dem steineisernen Thron sitzend die Gesellschaft mit ebensolch einen Ausdruck im würdevoll erhobenen Blick beobachtet, vervollständigt die ausdrucksvolle Darbietung. Ganz in opulenten Pelz und weiches Leder, edel schimmernden und samtigen Stoff gehüllt, funkelnd von Gold, Silber und Edelsteinen, ist er das vollkommene Ebenbild eines ehrfurchtgebietenden Zwergenkönigs.
„Gedanken beschäftigten mich", antworte ich Yrsa. Sie lächelt hinter weiter diskret vorgehaltenem Fächer. „Gedanken an wen der beiden Herren, die du so auffallend schmachtend beobachtetes?" Oh Mahal, kann sich nicht augenblicklich der Boden unter meinen Füßen auftun, um die Peinlichkeit und mich in einer tiefen Grube verschwinden zu lassen! Yrsa lacht nun etwas lauter, als sie wohl die ob ihrer Bemerkung hochrot-brennenden Wangen entdeckt. Freundin ist sie, Vertraute. Sicher bin ich mir, dass sie niemanden auch nur ein Wort von dem, das ich ihr anvertraue, erzählen würde. Zudem genauso wie andere, wird sie unlängst bemerkt haben, dass Dwalin mir und ich ihm zugetan bin.
Dennoch erwidere ich nichts. Aus Respekt und Freundschaft akzeptiert sie das Schweigen. Dankbar bin ich ihr dafür, denn gleichwohl ich ihr vertraue und sie mir eine goldwerte Beraterin in diesen Dingen sein würde, sagen kann ich ihr nicht, was mich beschäftigt. Es sollte furchteinflößend sein, was zwischen ihm und mir geschah und welche Auswirkungen es letztendlich doch hatte, und ein bisschen ist es das auch. Eine Grenze haben wir überschritten, stillschweigend vor vielen Jahren gemeinsam definiert und ihre Einhaltung mit Bedacht und Wertschätzung gewahrt. Ihr überschreiten war von uns beiden gewollt, zumindest von ihm überdacht, bevor er den ersten Schritt tätigte, gleichwohl geschah er vor dem vereinbarten Zeitpunkt. Dennoch zurückgehen können wir nicht mehr und ein einmal entfachtes Feuer, sei es nun das von Leidenschaft oder Liebe oder beiderlei, nur schwerlich zu ersticken. In dieser Nacht entschied sich meine Zukunft, das wird mir in diesen Moment erzitternd bewusst. Doch flattert das Herz ganz aufgeregt bei der Erkenntnis und ein Lächeln stiehlt sich auf die Lippen, die sich noch immer Dwalins Küsse erinnern.
„Du bist bald alt genug, um zu wählen", murmelt Yrsa, Freud und Weh gleichermaßen in den Worten hallend. Endgültig kein Kind bin ich dann mehr, frei Entscheidungen zu treffen, gleichwohl noch immer gefangen in unter Eid versprochener Verpflichtung gegenüber unserem König. Er hat weiterhin Macht über mich und meine Zukunft, bis er mich freigibt oder der Tod mich nimmt.
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„Wir sollten ... das nicht tun", wispere ich erstickt, kaum fähig einen klaren Gedanken zu fassen und außerstande solcherlei überhaupt ohne Stocken zu formulieren. Denn vermaledeit, Dwalins Lippen pressen sich geben meinen Hals und ich bin mir sicher, ein hochgeschlossenes Kleid muss ich morgen tragen, da er versucht, dort ein eindeutiges Mal zu hinterlassen, das mich zumindest die nächsten Tage als Sein kennzeichnen wird. „Jedenfalls nicht hier."
Dwalin lacht leise, voll und tief, und anstatt vernünftig zu sein, küsst er mich, warm, weich, leidenschaftlich, aber ohne Eile. Der Geschmack von honigsüßem Wein fließt in meinen Mund und einen Moment vergesse ich, dass lediglich der Schatten und die Einsamkeit des so spät in der Nacht gänzlich unbeleuchteten Ganges zur Gesindeküche unser Treiben verbirgt. Abgefangen hat er mich hier, nachdem der Ball endete. Jedoch die Gefahr besteht immer, dass uns jemand entdecken könnte.
„Ich weiß, dass du mich beobachtet hast", flüstert er gegen meine Lippen. Schelte kann der Hinweis sein, genauso wie Würdigung. „Euer Aussehen verdient heute aber auch sehnsuchtsvolle Beachtung, mein General, daher verzeiht die ungebührlichen Blicke." Ein Schnauben verdeutlicht die Verlegenheit ob des ungewohnten Kompliments, denn selten bekommt er solcherlei zugesprochen, und ein weiterer behutsamer Kuss soll zusätzliche unterbinden, um ihn nicht noch mehr in Bedrängnis zu bringen.
Er stützt beide Hände neben meinen Kopf auf die kalte Gesteinswand und drängt sich dichter als bisher bereits an mich. Umfangen werde ich von ihm. Seine starken Arme, der warme Atem, der über die Haut streicht, tiefe Küsse voller Absicht, sanft gemurmelte Worte ... sie schaffen einen Raum, in dem nur wir und eine Zeit, die nur für uns zu existieren scheinen. Nicht vergleichbar mit den bisherigen unschuldigen Begegnungen, in denen verstohlene Liebkosungen und zurückhaltend geraunte Beteuerungen alles waren, was wir teilten. Jedoch gut fühlt es sich an. Sicher. Geborgen. Warm und wohl im Herzen.
Ich umfasse sein Gesicht, kraule mit den Fingernägeln durch den immer struppigen Bart, ziehe ihn näher zu mir, vertiefe den Kuss. „Wir sollten wirklich gehen", raune ich an seine Lippen, nachdem wir ihn enden ließen. Er brummt ein Einverständnis. Ein anderer Ort wäre angebrachter, in den wir uns zurückziehen können, müssen sogar, denn noch bin ich unmündig und jede seiner Berührung unlauter und gefährlich für uns beide.
Nur ungern lassen wir voneinander. Nur stockend senkt er die Arme und widerstrebend entlasse ich seinen Bart aus dem kraulenden Griff. Nur mit deutlicher Unlust entfernt er die Lippen von den meinen, kehrt daher immer wieder zurück, haucht Küsse auf sie. Schnelle, leichte. Sie wollen mich necken. Kichernd wie ein kleines Mädchen, nehme ich das Spiel an. Es ist dunkel und spät, wer soll uns schon entdecken, denke ich noch und genieße schließlich einen, der ganz unvermittelt aufs Neue länger währt, da zerreißt ein grimmiges Räuspern die Stille des Ganges, das schlechthin klingt wie das Knurren eines garstigen Warges.
Erschrocken rauschen wir auseinander. „Thorin", erkennt Dwalin den Ertappenden zuerst in der Dunkelheit. Groß und breit und verärgert steht er dort, wer weiß wie lange bereits, angelockt womöglich durch das Kleinmädchenkichern. Sein finsterer Blick unter eng zusammengezogenen Augenbrauen verdeutlicht den Unmut über das Gesehene.
Dwalin geht einen Schritt nach vorn, positioniert sich von dem Instinkt eines Kriegers getrieben so, als wolle er einen bevorstehenden Angriff abwehren. Beschützen will er mich vor dem Groll unseres Herren. „Du kennst meine Gesetze", knurrt dieser, der Zorn verdunkelte ebenso die Stimme, lässt sie noch tiefer und bedrohlicher wirken, als es ihr eh bereits zu eigen ist. Ich beginne zu zittern, denn plötzlich wird mir entsetzlich schauervoll bewusst, was uns nun droht. Ins Gefängnis werfen könnte er Dwalin für die Schandtat und mich verbannen, da ich als Mündel ohne seine Erlaubnis einem Mann zugetan war.
„Verzeiht uns, Majestät", flehe ich daher. Er schaut von Dwalin zu mir und sein enttäuscht-verärgerter Blick trifft mich mit solch einer schmerzbereitenden Gewalt, dass ich den meinen abwenden muss, um nicht in verzweifelnde Tränen auszubrechen. „Was erlaubt ihr euch für eine Dreistigkeit in meinem Haus!", grollt er. „Hinauswerfen sollte ich euch." Das Recht hat er dazu. Begründet ohne Erbarmen kann er über uns und unsere Strafe verfügen. All die Jahre handelten wir mit Vorsicht und Vernunft, nur noch wenige Tage hätten wir diese weiter aufrecht erhalten müssen. Nur noch ein paar Tage uns und unsere Leidenschaft zügeln müssen.
Dwalin verbeugt sich vor seinem König, fasst dabei jedoch nach meiner Hand, um mich an seine Seite zu führen. „Dann tut dies, Majestät. Verstoßt uns beide Eurer Hallen." Auffallend förmlich und sich von seinem Freund und Vetter distanzierend spricht er die Worte. Sie sind schrecklich und schön zugleich.
Familie, Rang, Titel, Heimat ... all das würde er für ein gemeinsames Leben mit mir aufgeben. Ich flüstere seinen Namen in Ehrfurcht und Furcht. Nein. Das kann ich nicht von ihm verlangen, so sehr es mich auch tief im Herzen berührt und das, was ich für ihn empfinde, wachsen lässt. Jedoch für seine Sicherheit, sein Leben, dessen Schutz ich mich ebenso verpflichtete, als wir im Schwur der Krieger unser beider Blut vermischten, muss ich es (ver)bannen. So schrecklich dies auch schmerzen und die erhoffte Zukunft zerstören wird und so eindringlich das Herz mich in diesem Moment davor warnen will. Ich kann nicht auf sein Verlangen hören.
„Majestät, ich bitte Euch, verzeiht uns. Wir handelten in ungestümer Dummheit. Es wird nie wieder vorkommen, das verspreche ich Euch." Mein Flehen ist verzagend und voller Demut gehe ich vor ihm auf die Knie, während das Herz in abertausende splitternde Scherben bricht, die sich mit scharfen und nadelspitzen Schneiden tief in mich bohren.
Der Boden ist kalt unter meinen Händen, so kalt, dass die heißen Tränen, die auf ihn klirren, noch bevor sie von den Wangen fallen, zu Eis erstarren. Jegliche Wärme stahl sich aus meinem Körper. Ich zittere. Vor Angst und Schmerz. Jedoch der traurig-fassungslose Blick von Dwalin, der mich dornenreich durchstößt, martert mehr als jede Eiseskälte.
Er wispert meinen Namen, frostklirrender noch als der erste schneetreibende Wind die Nachricht des herannahenden Winters ankündigt. Unverständnis über das, was ich gerade sagte und schweren Kummer darüber, was es bedeutet ausdrückend. Das Leid ihm diesen Schmerz zufügen zu müssen quält mich, aber keine andere Möglichkeit haben wir. Illusorisch war diese Bindung von Anfang an. Niemals hätte sie Erfüllung finden können, denn zu unterschiedlich sind wir. Zu weit entfernt voneinander in so vielen Dingen und ich will nicht, dass er meinetwegen unglücklich wird.
„Ich verspreche es", beteure ich meinem König erneut, wenngleich die beständig fließenden Tränen die Beschwernis verdeutlichen, unter der ich die Bekräftigung gelobe. Er kommt näher. Schwere Schritte treffen auf den eisklirrenden Boden, während Dwalins Kummer sich jählings in brennenden Zorn wandelt. Nicht auf mich, sondern auf ihn. Ich spüre ihn heiß neben mir emporlodern. Beängstigend gefährlich ist er. Aber zurück hält der Krieger die Erregung, wenngleich die dafür aufgebrachte Beherrschung allgewaltig sein muss.
„Steh auf!", befiehlt Thorin mit harscher, noch immer verärgerter Stimme. Ich gehorche sofort, reibe unbeholfen die Tränen von den Wangen, wage jedoch nicht ihn anzusehen. Mir entgeht somit das Aufzucken eines selbstgefälligen Lächelns, das seine Mundwinkel für einen flüchtigen Moment nicht unterbinden können. Gewiss Dwalin wird ihm gewahr und ein finsterer Blick voller Verachtung trifft den sich seiner Macht nur allzu bewussten Zwerg.
„Wenn ihr beide es mir gleichsam schwört, dann werde ich Gnade vor Recht walten lassen." Nicht ausreichend, dass ich das Versprechen gab, nein, Dwalin muss die Enthaltung ebenso geloben. Eine Herabsetzung meiner Redlichkeit und eine Demütigung für seinen Freund. Dessen Zorn glüht erbitterter, schrecklich genug, um alles und jeden zu verbrennen, dennoch verbeugt er sich nach kurzem Zögern schließlich vor ihm. „Wie ihr wünscht, Majestät", knurrt Dwalin durch zusammengebissene Zähne. Kein wirkliches Ehrenwort ist es, keine eindeutige Entsagung, trotzdem gibt sich Thorin damit zufrieden.
„Geht", entlässt er uns letztendlich, ohne weitere der angedrohten Strafen geltend zu machen, obwohl das, was er uns abverlangte, schrecklicher wirkt als Folter, Vertreibung oder selbst der Tod es könnte.
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Tage vergingen seither. Tage, in denen ich abwesend war, mich wenn immer möglich in meinem Zimmer verkroch und kaum die Kraft fand, auf die Beine zu kommen. Nächte, in denen ich mich in den Schlaf weinte, in Unruhe von Dwalins Kummer träumte und mit Schmerzen im Herzen aufschreckte.
Nur ein paarmal seitdem begegneten wir uns. Zufällig während des Essens oder im Vorbeilaufen, denn ich bat Thorin darum, mich von meinen Verpflichtungen freizustellen. Er gewährte mir das Ersuchen, wenn auch nicht gerne, wie er unmissverständlich verdeutlichte, entband er mich dadurch doch ebenso von der Teilnahme an den Bällen, die gestern endlich ihr Ende fanden. Immerzu musste ich mir anhören, wie sehr die Gäste mich doch vermisst hätten.
Befremdlich unangenehm waren die Begegnungen. Schweigsam, distanziert, kummererfüllt. Seine trüben Blicke, mit denen er mich nur kurz bedachte, weiterhin von Enttäuschung und Schmerz beherrscht. Ich getraute mir nicht, mit ihm zu sprechen. Mich zu erklären. Die so plötzliche Entsagung zu begründen. Angst habe ich, dass er die Rechtfertigung nicht verstehen wird. Nicht nachvollziehen kann, warum ich sein persönliches Heil über eine gemeinsame Zukunft stelle, die sowieso niemals Bestand gehabt hätte, ein Wunschtraum, Utopie war.
„Astâ?" Jassins gutmütige Stimme lässt mich aus den zehrenden Gedanken an ihn aufschrecken. Zusammengesunken in dem großen Sessel vor dem Kamin meines Gemachs sitze ich, die Beine dicht an den Körper gezogen, mit tränenden Blick in die Flammen starrend, so entrückt in Kummer und den Herzschmerz bekämpfend, dass ich ihr Anklopfen wohl lange nicht bemerkte und sie sich schließlich sorgenvoll selber Zutritt erlaubte.
Widerwillig langsam sehe ich auf. Obwohl sie meine beste Freundin ist, die Kraft fehlt mir, mit ihr darüber zu sprechen. Jedoch muss ich das nicht. Ihr Blick verdeutlicht, dass ihr, wie wohl bereits einigen anderen uns Nahestehenden, gewahr wurde, dass etwas zutiefst Bitteres zwischen Dwalin und mir zerbrach.
In dem lieben Versuch, Trost zu spenden, streicht sie mir über den Rücken und kniet sich dann vor mich, nimmt meine Hände in die ihren. Die Wärme ist willkommen auf der seitdem sie den kühlen Boden berührten immerkalten Haut.
„Ich weiß nicht, was vorgefallen ist, und ich werde dich auch nicht danach fragen. Aber ...", flüstert sie und holt einen Umschlag aus ihrer Schürzentasche, „... Meister Dwalin bat darum, dir diesen Brief zu geben. Eigentlich erst heute Abend, jedoch irgendetwas treibt mich dazu, gegen seinen Befehl zu handeln."
Zögerlich nehme ich ihn entgegen und entfalte mit zitternden, eiskalten Fingern das enthaltene Pergament. Sorgfältig wurde es beschrieben. Ohne Hast, gleichwohl unter Kummer, der die Tinte an einigen Stellen verschmieren ließt und als dunkle Flecken trocknete.
Liebste Astâ,
als ich Dir einst das erste Mal begegnete - jung, verschüchtert, verängstigt und zutiefst verletzt - hatte ich mir geschworen, Dich immer zu beschützen. Kein Leid sollte Dir jemals wieder zugefügt werden. Niemals wieder solltest du Furcht erleben oder Verletzungen erfahren, dir Sorgen um deine Zukunft bereiten müssen.
Jedoch versagt habe ich. Meinen Schwur gebrochen. Mehrmals.
Ich konnte Dich nicht behüten vor den Schrecken, die außerhalb des Zuhauses, in das ich Dich brachte, wüten. Und ich konnte es nicht verhindern, dass Dich diese nun auch in ihm heimsuchen und Du ihnen zum Opfer fällst. Eifersucht und Habgier, verbunden mit einer Dich beherrschenden Macht und Deiner bedingungslosen Ergebenheit, machten es mir unmöglich.
Dein Recht ist es, mir dieses Vergehen nachzutragen und mich zu bestrafen. Deine Abkehr von einem Versprechen, von dem ich mir einbildete, dass Du es mir aus tiefsten Herzen und voller Vertrauen und Zuneigung gabst, ist gerechtfertigt. So sehr es mich auch schmerzt, dies zu akzeptieren.
Daher werde ich gehen.
Ich wünsche Dir von Herzen alles, was Du Dir in Deinem Leben ersehnst.
In ergebenster, ewiger Liebe und Schuldigkeit
Dwalin, Fundins Sohn
Ich starre die Zeilen an. Lese sie immer und immer wieder. Nein! Oh Mahal, nein!
„Wann hat er dir diesen Brief gegeben?", frage ich Jassin aufgewühlt. Sie scheint verwirrt über die plötzliche Beunruhigung. „Vor etwa einer Stunde, als er auf den Weg zu den Stallungen war, mit etwas Reisegepäck beladen. Ich dachte, er müsse einige der Gäste zurück in ihr Reich begleiten."
Ich springe auf, stürme zur Tür, höre nur noch leise und weit entfernt durch ein Rauschen von Blut und Angst, wie meine Freundin mir fragend hinterherruft. Noch nie so schnell legte ich den langen Weg durch die verschlungenen Gänge des Berges bis zu den Stallungen zurück. Aufgebrachte Beschimpfungen derjenigen, die ich in Hast anrempele, wenn sie ihn unbedacht kreuzen, prallen ungehört an mir ab. Die Rufe der Soldaten am Tor, mit denen sie mich aufhalten wollen, bleiben unbeachtet.
Zu kühl ist die Luft für einen Morgen Mitte September. Oder fühle ich sie nur als solche auf den erhitzten Wangen, die brennen von über sie fließenden Tränen? Äquinoktium ist bald, die Stunden, in denen die Helligkeit des Tages sowie die Dunkelheit der Nacht gleichlang währen.
Nur noch wenige Schritte sind es bis zu den Stallungen. Mein Pferd Khajmel und einige andere, die auf der Koppel grasen, begrüßen mich mit einem freudigen Wiehern, jedoch auch sie beachte ich nicht. Ein Flügel des Tors steht weit offen und ein schwacher Schimmer Licht fällt hinaus. Oh bitte, bitte lass ihn noch dort sein!
Mahal erhöhte mein Flehen. Mit dem Rücken zum Tor steht er im Stallgang und belädt seine bereits gesattelte und aufgezäumte Stute, die mich mit einem Schnauben begrüßt. Auch Dwalin schnaubt, als er sich meiner Ankunft durch ihr Verhalten gewahr wird, jedoch missvergnügt darüber.
„Ich wusste, es war ein Fehler, ihn deiner besten Freundin zu geben", brummt er und zieht den Riemen der Satteltasche fest. „Was willst du hier?"
Hart klingt seine Stimme. Kein Funke der einstigen warmen Zuneigung glimmt mehr in ihr. Ich konzentriere mich darauf, die kalte Luft in die schmerzenden Lungen zu saugen, spüre das Brennen, das die Kontrolle über Denken und Handeln zurückbringen soll.
„Du willst einfach so gehen?", flüstere ich schließlich. Er atmet ruhig, hält in seinem geschäftigen Tun inne und senkt den Kopf. „Ich muss. Warum, das schrieb ich dir bereits." Der Kummer der Zeilen - verflucht und erhofft nach dem Schreiben überwunden zu sein - scheint ihn dennoch erneut zu durchdringen. „Ich gebe dich frei, so, wie wir es Thorin versprochen haben. Keine Verbindung haben wir mehr zueinander, denn keine Verpflichtungen binden uns mehr, und ich kann gehen, wann und wohin ich will."
Seine Worte treffen mich grausam im Herzen. Tränen verschleiern die Sicht. Was habe ich nur angerichtet. „Dwalin, ich wollte nicht, dass ...", beginne ich stammelnd, aber er fährt wütend herum, die Augen gerötet von bisher ungeweinten Tränen, die nun brennend in ihnen schimmern.
„Was wolltest du nicht? Mich verleugnen, mich demütigen? Ich hätte alles für dich getan, Astâ, allem hätte ich für dich abgeschworen!" Er versteht nicht, dass genau dies mich dazu brachte, diesen Schritt zu gehen. Diese bedingungslose und vollständige Aufgabe all dessen, was ihm wichtig ist. Daher schweige ich zu den Vorwürfen, senke nur den Blick.
„Bitte geh nicht", flehe ich eindringlich, indes mit wenig an Hoffnung, die schließlich enttäuscht wird. Ich höre an dem Knarzen des Sattelleders, dass er aufsitzt. Langsam lenkt er seine Stute neben mich, hält jedoch für einen Atemzug inne, als ich die Hand ausstrecke und ihn am Bein berühre, um einen letzten Versuch zu wagen, ihn aufzuhalten. „Ich werde zurückkommen, aber ich weiß nicht wann", sagt er, nachdem er das Schweigen, hoffend darauf, dass ich meinen Schwur an Thorin doch noch läutere, einen Moment ertrug. Energisch und nicht länger zögernd, denn jedes weitere Verweilen betrübt uns beide gleichermaßen tief im Herzen, treibt er sein Pferd an und reitet hinaus in den zu kühlen Morgen.
Der Schmerz, der mich überflutet, sobald das Klacken der Hufe auf dem Schotterweg der ihn weiter von mir hinfort führt, langsam immer mehr verklingt, ist so gewaltig, dass er mich unweigerlich in die Knie zwingt. Weinend und schluchzend über den Verlust, der schlimmer ist als einjeder, den ich bisher ertragen müsste, kaure ich auf den strohbedeckten Boden. Die Tränen so heiß auf den Wangen. Das Leiden so groß im Herzen.
Was habe ich nur angerichtet! Ich wollte ihn doch nur beschützen, so wie er mich immer beschützt hat.
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