Die Rechte der Hand und ihr König
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Weit geht der Blick über die Gefilde des Gebirgsvorlandes, das in goldgelbes Sonnenaufgangslicht getaucht still und beschaulich zum Fuße des sanften bewaldeten Hügels liegt, der die imaginäre Grenze zwischen der Wildnis und Thorins Reich darstellt. In der Ferne, am Rande eines Hains, entdecke ich eine Herde Rotwild das vom frischen Morgentau benetzte Gras äsen, die von einem stattlichen Hirsch mit gewaltigem Geweih angeführt werden. Unklug wäre es, sie für die Jagd ins Auge zu fassen. Viel zu schnell würden sie uns im freien Gelände kommen sehen und inmitten der Bäume verschwinden. Vielleicht Rebhühner gelingt es, aufzuspüren, auch Fasane sind hier keine Seltenheit und am nahegelegenen See stoßen wir sicherlich auf einige unvorsichtige Enten. Geeignete Ziele, um den Gebrauch von Pfeil und Bogen zu trainieren.
Ein herbstrotes Blatt schwebt langsam hinab und fällt auf meine die Zügel haltenden Hände. Wehmütig betrachte ich es einen Moment. Drei Monate sind bereits vergangen, seitdem Dwalin alleine aufbrach, um Trost in der Ferne zu suchen. Drei Monate, in denen ich bislang nur einen einzigen durch einen Raben überbrachten Brief kurz nach meinem Geburtstag erhielt. Er versicherte mir in reserviert gehaltenen Zeilen, dass es ihm gut ginge und er eine Anstellung als Schmied fand, allerdings nicht wo. Auch als ich den Raben geradezu anflehte, mir doch zu sagen, woher sein Herr ihn losschickte, schwieg er beharrlich, gleichwohl mit traurig gesenkten Kopf und hängenden Flügeln. Verboten wurde es ihm eindeutig und loyale Wesen sind sie, die niemals einen Befehl missachten würden. Mit der Bitte an ihn, weiterhin auf sich Acht zu geben und bald zurückzukommen, schickte ich ihn daraufhin zurück.
„Astâ, wollen wir weiter?" Bofurs Stimme beendet das Nachdenken über ihn und seinen Verbleib, jedoch nicht die immerwährenden Sorgen. Ich nicke lächelnd und sehe nach hinten, um Fili und Kili, die uns mit ihren Ponys trödelnd folgen, heranzurufen. Jeden Strauch, jedes vorbei oder ins Unterholz huschende Tier, jedes fallende Blatt müssen sie in allen faszinierenden Einzelheiten begutachten. Wie kann ich sie verstehen, war doch damals, als ich die ersten Male den Berg verließ, selbst ein hoppelnder Hase mit langen Ohren ein Wunder für mich. Mit Betrübtheit entsinne ich mich Dwalins enervierten Blick, als ich ihn voller Entzücken darauf aufmerksam machte. So intensiv wie einst wahrgenommen ist er mir noch im Gedächtnis, wie vieles, an das ich mich jetzt, da er nicht mehr bei mir ist, nur in Schwermut zurückerinnere.
Den beiden Brüdern möchte ich einiges von dem weitergeben, das ich bislang für das Überleben in der Wildnis erlernte und das Jagen, gehört hierzu. Bofur bot uns dabei seine beschützende Begleitung und Unterstützung an, denn ein ausgezeichneter Spurenleser ist er, sogar besser als Dwalin, von dem ich diese Fähigkeit einst vermittelt bekam. Wie man Fallen stellt, lehrte mich Thorin. Welche Kräuter, Harze, Wurzeln und sonstige Pflanzen in der Not gegen Verletzungen, Krankheit oder Unwohlsein helfen und wie sie anzuwenden sind, zeigte mir Oin. Wie ich mich anhand der Sterne, dem Lauf von Sonne oder Mond, der Moosseite von Baumstämmen und sogar der Lage eines Ameisenhaufens in der Wildnis orientieren kann, brachte mir Balin mit viel Geduld bei.
Aufmerksam sind die Prinzen, folgen Bofurs und meinen Ausführungen und Anweisungen erpicht und genau. Nicht geschaffen sind die für das Lernen in verstaubten Stuben, vergraben zu sein in Büchern ist ihnen ein Graus und ihr Benehmen während der Lehrstunden von Balin, ihrem Onkel oder mir in Politik, Diplomatie, Staatskunde, Geschichte und Sprachen regelmäßig Anlass für Strafpredigten.
Kilis Fähigkeiten im Bogenschießen festigten sich weiter und es gelingt ihm ohne große Schwierigkeiten ein Rebhuhn zu erlegen, das wir im Heidekraut aufscheuchten, was ich mit glühendem Stolz anerkenne. Er lächelt darob über das ganze goldige Gesichtschen. Auch einige Wildkaninchen und sogar einen Rehbock können wir erjagen. Reichlich Beute mit der wir schließlich zum Berg zurückkehren, angesichts dessen sich Bofur sicherlich freuen wird.
„Astâ, Thorin erwartet dich im Salon." Die Herrin Dís benachrichtigt mich mit einer eigenartigen Ruhelosigkeit in der Stimme über den Wunsch meines Königs, nachdem sie ihre Söhne und mich begrüßte und sich von ihnen in einem aufgedrehten Redeschwall anhören durfte, was sie alles gesehen und erlebt und gelernt und geschossen haben. Daher keine Zeit verschwende ich damit mich zu waschen und umzuziehen, und suche ihn sofort auf. Zu meiner Verwunderung folgt mir die Herrin Dís in den hellerleuchteten Salon, in dem ebenfalls unvermutet neben Thorin auch Balin verweilen, der jedoch am Kamin steht, während der König in angespannter Haltung auf einem der Kanapees sitzt. Ernst blicken sie drein und ein ungutes Gefühl überkommt mich.
Thorin begutachtet einen Moment die ungewöhnliche Aufmachung, nachdem ich mich begrüßend verbeugte. Keineswegs alltäglich und schon seit langem nicht mehr, sieht er Hose, Hemd, fellbesetzten Mantel, dicke Stiefel und Rüstung - eingeschlossen seiner neu geschenkten Armschienen - an mir. „Ward ihr erfolgreich?", fragt er mit ruhiger Stimme. Natürlich weiß er darum, was ich die letzten Stunden tat. Ich nicke. „Ja, Majestät. Eure Neffen werden einmal sehr gute Jäger werden. Viel und mit Interesse lernten sie heute über die Gefahren und sie mindernden Möglichkeiten der Wildnis." Zufrieden scheint er mit dem Bericht. Jeder von uns bildet die jungen Prinzen nach seinen Potenzialen aus, um sie zu ehrenwerten Männern, starken Kriegern und würdigen Anwärtern auf den Thron aufzuziehen.
„Setz dich bitte, wir müssen etwas mit dir bereden", weist er schließlich an und deutet mit höflicher Geste auf den Sitzplatz ihm gegenüber. Ungemein eigenartig ist dies. Solch hochoffizielle Behandlung wurde mir bislang noch nie von ihm zuteil und das ungute Gefühl wächst, während sich Dís hinter ihren Bruder platziert und ich mich niederlasse. Jedoch das Lächeln, das sie mir schenkt, ist beruhigend und vermittelt keinesfalls, dass entsetzliche Dinge bevorstehen.
Thorin räuspert sich umständlich, nachdem er wohl meine sich nervös ineinanderverkrampfenden Hände bemerkte. „Entschuldige bitte, dass wir dich in solch einem förmlichen Rahmen empfangen, aber die Situation erfordert es." Beklommen blicke ich von einem zum anderen und für einen flüchtigen Augenblick glaube ich zu erkennen, wie sich Balin mit aller Beherrschung die ein Berater nur aufbringen kann, ein Lachen verkneifen muss.
„Du bist nun schon einige Monate mündig", beginnt Thorin dann endlich. „Mit Erreichen dieser, hast du auch die Befugnis erworben, öffentliche sowie hohe Hofämter wahrzunehmen. Die Prinzessin und Balin als meine Hand, haben mich daher dazu bewegt, zur Würdigung deiner Verdienste für das Königshaus genauso wie für das Reich, der über viele Jahre ungebrochenen Loyalität und da du einige der Aufgaben, die damit einhergehen, sowieso bereits mit Eifer, Zuverlässigkeit und Integrität ausführst ...", er stockt in seinen Ausführungen, holt tief Luft und beugt sich wohlwollen mir entgegen, die Unterarme locker auf den Schenkeln abgestützt und plötzlich vollkommen befreit von der vordem spröden Förmlichkeit, die mir Unwohlsein bereitete. „... dich zur Rechten der Hand zu ernennen."
Jegliche Funktion meines Körpers scheint ihren Dienst für den Bruchteil einer Sekunde einzustellen. Mir wird schwindelig und übel und ein Schauer schüttelt mich. „Das ... das ist eine sehr große Ehre, Majestät." Zu mehr, als diese gestammelten Wörter mit viel Mühe hervorzubringen, sehe ich mich daher nicht in der Lage.
Thorin lächelt. Dís lächelt. Balin lächelt. „Und nimmst du diese Ehre an?", fragt mich mein König. Ausgerechnet die Augen erinnern sich als Erste wieder ihrer Fähigkeiten und beginnen zu tränen. „Wenn Ihr es wollt, Majestät, dann nehme ich diese natürlich gerne an und werde alles dafür tun, um Euch und Meister Balin und das in mich gesetzte Vertrauen nicht zu enttäuschen."
Anerkennend senkt er den Blick für einen langen Wimpernschlag. „Dann werde ich es morgen in der Ratssitzung und anschließend offiziell im Reich verkünden, denn ein mit deiner neuen Stellung einengendes Recht ist es auch, dass du nun amtlich und sprachberechtigt Teil des kleinen und großen Rates bist."
Noch nie wurde einer Frau und ihrer Meinung solch eine Bedeutung beigemessen. Über die Geschicke des Reiches soll ich mit beraten und beschließen. Dekrete unterschreiben, Balin in seinem Amt vertreten, wenn er abwesend ist. Erneut ganz schwindelig wird mir bei derlei plötzlicher Macht, die ich nun besitze. Ein Bastard des untersten Standes. Einst Mittel- und Zukunftslos. Günstling des Königs geworden und nun Rechte seiner Hand. Was würde Mutter nur dazu sagen?!
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„Das Meister Abarron seine Bedenken zu deiner Ernennung äußert, war vorauszusehen." Balin versucht, mich zu trösten, denn nicht ganz uneingeschränkt fanden die Ratsmitglieder Gefallen an Thorins Verkündung. Jedoch muss er dies nicht. „Meister Abarrons Meinung interessiert mich persönlich schon seit geraumer Zeit nicht mehr. An allem, was Thorin plant oder beschließen lässt, hat er etwas auszusetzen und selbst wenn ich ein Mann und Krieger von tadelloser adliger Abstammung wäre, hoch gebildet oder sogar von ihm indoktriniert, er hätte meine Ernennung aus Prinzip nicht gutgeheißen."
Balin lächelt, denn diese Tatsache kann er nicht abstreiten. „Dennoch bitte ich dich, besonders in deiner neuen Stellung: unterschätze ihn nicht, wahre stets Höflichkeit, Respekt und Abstand. Er mag viel reden, aber kann dies auch. Mit seinem hohen Rang, der Macht und dem Vermögen kann er allzu leicht und schnell sehr gefährlich werden und sogar den Günstling des Königs ins Unglück stürzen." Ich nehme mir seine eindringliche Warnung natürlich tief zu herzen. Länger und abgründiger kennt er ihn denn ich.
Noch einmal auf Fehler kontrolliere ich das vorbereitete Schriftstück und gebe es danach Balin zur Durchsicht und Unterzeichnung. Keine Korrekturwünsche hat er und unterschreibt an der vorgegebenen Stelle am Ende, ergänzt hier allerdings etwas und reicht es mir zurück. Auch mein Amt steht nun dort in schwungvollen Buchstaben geschrieben unter Verfasser und Zeuge.
„Nun darfst du, ganz offiziell, gleichermaßen die Dokumente bestätigen, die du angefertigt hast", erläutert Balin. Meine erste wirkliche Amtshandlung wird dies sein und so gebe ich mir besonders viel Mühe bei der Unterschrift. Mein Meister lächelt stolz. „Bring den Stoß bitte sofort zu Thorin, damit die Erlasse umgehend angewiesen werden können. Er hält gerade seinen Neffen und Ori eine Unterrichtsstunde in Geschichte."
Ungern wird der König bei diesen behelligt, bedarf es doch allerhand Konzentration der Schüler und Nervenstärke des Lehrenden, die nur durch Ungestörtheit aufrecht gehalten werden kann, dennoch ein wirklich wichtiges Dekret befindet sich unter den Pergamenten und so mache ich mich auf den Weg zur Bibliothek.
Allerdings kaum erreichte ich den Gang, der dorthin führt, unter dem Arm die Schriftstücke mit mir führend, höre ich einen zwar nicht lauten, aber dafür bedrohlich dumpfen Knall, der eindeutig aus dieser Richtung kommt. Ich bleibe von Schrecken erfüllt stehen, horche, harre mit klopfendem Herzen dem Unglück, das nun wieder geschah. Dann jedoch öffnet sich die Tür zur Bibliothek mit einem hastigen Ruck und Wölkchen aus Asche und Ruß quellen hervor, dicht gefolgt von drei kleinen Gestalten, die schadenfroh lachend an mir Vorbeistürmen.
Oh weh, denke ich noch und erwarte einen sehr, sehr heftigen Gewittersturm, der die Hallen viele Tage lang erzittern lassen wird, da beginnt er bereits über uns hereinzubrechen. Mit Donner und Blitzen, die den Himmel spalten und so hell sind, dass die nachfolgende Dunkelheit so schmerzlich düster ist, als würde sie für immer weilen. „Fili, Kili! Wenn ich euch erwische!" Thorins Stimme grollt in schlimmsten Zorn über den Streich seiner Neffen und ihres unzweifelhaft von ihnen zum Mitmachen angestifteten Spielgefährten an ihm.
Ängstlich diesen, weil er ihrer in diesem Moment durch ihre kluge Flucht nicht habhaft werden kann, als Erstes abzubekommen, starre ich zur Tür, aus der er schließlich hervorbricht wie eben jener Blitz aus dunklen Wolken, den sein zwergischer Name allegorisiert. Jedoch bei all dem wütenden Gebaren und der drohenden Haltung, beginne ich plötzlich laut und ungehemmt zu lachen, denn allzu komisch sieht er aus. Vermutlich eine kleine Kugel des Sprengstoffes, der in den Minen zum schnellen und effektiven Abbau von Gestein genutzt wird, haben die Jungs aufgetrieben und in Thorins Pfeife gelegt, die er pflegt während der Unterrichtsstunden zur Beruhigung des Gemüts zu rauchen. Als er sie entzündete, fing auch sie Feuer, explodierte und schleuderte ihm Ruß und Asche in das Gesicht. Über und über damit bedeckt ist es demzufolge.
Ich halte schicklich die Hand vor den Mund, während ich noch lauter lache, denn ob des plötzlichen überschwänglichen Anblicks ist er so beirrt, dass die Wut verraucht und er stattdessen recht verdutzt dreinschaut. Gleichwohl irgendwo in meinem Denken wird mir schließlich bewusst, dass ich gerade meinen König und Dienstherren auslache. Dennoch kann ich nicht damit aufhören. Einfach zu komisch sieht er aus. „Oh verzeiht mir, Majestät", japse ich atemlos vor Lachen, darum bemüht die unvermeidlich auf die Dreistigkeit folgende Strafe etwas abzumildern.
Die Verwirrung wandelt sich allerdings plötzlich in einen Ausdruck, der in seiner Vielfältigkeit und in solch Emotionalität noch nie seie Gesichtszüge beeinflusste. Eine Mischung aus Leidenschaft unbekannter Art, Erregung, Begierde, Aufregung und Unstetigkeit, dass mir ganz bange wird, als er schließlich auf mich zu stampft. Sofort erstirbt das Lachen, denn eine harte Bestrafung an Ort und Stelle erwartet mich unabweisbar. Mit wenigen Schritten ist er bei mir, jedoch nicht vergeltend treffen seine Hände meine Wangen, sondern umschließen sie mit dem Ungestüm der Sehnsucht.
Und ebenso, legen sich seine Lippen auf die meinen.
Zu überwältigt bin ich von dem Geschehen, denn das ich auch nur irgendwie reagieren könnte. Sein Kuss schmeckt staubig zwar von der an den Lippen haftenden Asche, gleichwohl warm, von feuriger Leidenschaft durchdrungen. So sehr von Begehren und einem wohl lange verborgenen Sehnen entflammt, dass mir ganz schwindelig unter ihm wird. Die Pergamente entgleiten mir und flattern raschelnd zu Boden, indem er ihn weiter vertieft. Den Mund leicht öffnet, die Zunge über meine Lippen streichen lässt, geradezu darum fleht zwischen sie dringen zu dürfen.
Jedoch dann ganz plötzlich ... ist der Zauber des Moments vorbei. Er begreift wohl, was er gerade im Ungestüm der ihn ob der Eindrücke ergreifenden Gefühle anrichtet und entfernt sich hastig von mir. Erschrocken weit sind seine Augen, mit denen er mich betrachtet. So unendlich tief wie ein klarer Bergsee, dessen Grund ich dennoch nie erblicken kann. So frei von Makel, die ihn trüben. Vollkommen befreit vom Eis des Winters.
„Verzeih mir", murmelt er und rauscht an mir vorbei, so dass nur noch das Gefühl seiner Lippen auf den meinen bestehen bleibt.
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