Die Jötunn

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Mit schweren Schritten tritt eine hünenhafte Gestalt in die feuerflackernde Höhle. Keiner der Zwergriesen, die uns vordem angriffen, ist es. Gleichwohl Haare und Bart genauso lang und zausig, sind sie anstatt nachtschwarz silberweiß und die Augen von dem blassen Blau der Kristalle mit einem roten Glühen wie Feuer in ihnen.

Die kampfbereiten Krieger weichen vor ihr zurück. Zu sicher wissen wir, dass ein Sieg gegen dieses Monster nicht allein mit Waffengewalt errungen werden kann. Jedoch auch keinerlei Strategie kam mir bislang in den Sinn. Unvergleichlich überlegen sind sie und selbst die beste Kampfausbildung, exzellente Unterweisung in Kriegsführung noch jahrzehntelange Erfahrung vermochte es einen von uns auf diese Übermacht vorzubereiten.

Dennoch den Versuch zu wagen unsere einzige Chance, um zu fliehen. Keinen anderen Ausweg gibt es. Und obwohl wir nicht wissen, was uns in den Gefilden außerhalb dieser Höhle begegnen und wohin wir laufen sollen, wir müssen ihr entkommen. Dringend. Das Gespräch mit Thermyr, seine Entschuldigung und die junge Liebe, die er für Ibûna empfinden mag, gaben mir sonderbaren neuen Mut und weckten Zuversicht im Herzen.

Ich fasse mein Schwert fester. Schwer liegt es in der von Hunger, Erschöpfung und noch nicht gänzlich aus den Knochen entwichenen Verzweiflung geschwächten Hand. Thorin fertigte und übergab es mir einst, ernannte mich mit ihm zur Schützerin seines Hauses. Das Heft aus dem schwarz-rötlichen Holz des Lebensbaums gefertigt, mit geometrischen Mustern kunstvoll verziert. Die Klinge schimmernd im Schein der Flammen. Die kraftvollen Kombinationen der Runen für Stärke und Mut, aber auch derer für Kriegerin und im Gegensatz dazu Edelfrau leuchten silbrig in ihm, als würden sie der Hitze des Schmiedefeuers erinnern. Viele Jahre diente es mir, bewahrte Thorin, seine Familie, Freunde und mich vor dem allzu oft dräuenden Tod.

Tief und ruhig ist der Atem. Die Gedanken fokussiert auf mich und meine Kraft. Die behütende und stärkende Energie der Runen will ich heraufbeschwören. Sie sollen mir beistehen im Kampf. Kraftvoll sind sie, denn mit Liebe und edler Absicht des Schutzes wurden sie von Schmiedemeistershand eingearbeitet. Ihr Leuchten wird daraufhin heller, feuriger, fiebern im flackernden Halbdunkel der Höhle. Dem Riesen ihre Macht präsentierend, trete ich vor. Er bemerkt den mutigen Vorstoß sofort, richtet den durchdringenden Kristallblick auf mich, versucht, ihn niederzudrücken. Gleichwohl abhalten lasse ich mich nicht von dem gefassten Vorhaben, ehe der Mut erneut abhandenkommen könnte.

Allerdings kaum einen Schritt tätigte ich, da hebt der alte Zwergriese seine Hand. Faltig ist sie wie ein ungebügeltes Leinenhemd. Etwas, das durchaus erscheint, als wäre es Moos, leuchtet dunkelgrün in den ausgeprägtesten Vertiefungen, wächst den Arm entlang und verliert sich unter dem Ärmel des grob gearbeiteten Harnisches. Eine eigenartige bannende Kraft geht von ihr aus. Sie stoppt den Vorstoß, jedoch ohne den Willen der ihn bewegte niederzuwerfen. Mit aller Stärke versuche ich die Beine zum Weitergehen zu bewegen, aber es scheint, als seien sie mit dem Boden verwachsen wie die Wurzeln eines jungen Baumes.

„Idrib!", befiehlt er mit steinrumpelnder Stimme das Einhalten. Ein Raunen erfüllt die Höhle. Dieses Wesen spricht unsere Sprache. Wie kann das sein!? Geheim ist sie! Nur wenige Phrasen und Wörter sind anderen Völkern bekannt, denn kaum in ihr sprechen wir außerhalb unserer Heimathallen. Ebenso Aufzeichnungen und Inschriften in ihr sind nur Zwergen zugänglich.

„Was gibt dir das Recht Khuzdul zu gebrauchen?!", fragt daher Lórid aufgebracht. Die Offenbarung vertrieb für den Moment Angst und Verzweiflung und mutig tritt er mit erhobenem Schwert vor. Jedoch auch er wird nach nur einem Schritt gebannt, zerrt heftig an den Wurzeln, die seine Füße umschlingen.

Der Hüne runzelt die Stirn, die sich dadurch aufwirft wie ein Faltengebirge. Wie aus Stein erscheint mir seine Haut plötzlich. Missmut ob des implizierten Vorwurfs scheint die Gebärde ausdrücken, vielleicht aber auch denkt er ernsthaft über den Grund nach.

„Ich lernte sie wohl zum Anbeginn der Zeit, als unsere Völker Freunde anstatt Feinde waren. Lange, bevor wir hierher in die Unterwelt verbannt wurden. Allerdings Ewigkeiten ist dies her, so dass ich mich nicht erinnern kann, von wem genau." Verwundert sehen wir uns an.

„Wer seid Ihr?", will Amdal wissen. Neugierde anstatt Kampfeswille lässt ihn wohl vortreten, denn dieses Mal stoppt der Zwergriese die Bewegung nicht. Gefährlich nahe kann er ihm sogar kommen. „Mein Name ist Mimir und ich bin einer und der Älteste von wenigen der Jötunn, die noch in Eas Erde aus der wir stammen wandeln." Niemals zuvor hörte oder las ich von dieser Wesensart.

Das Schwert lasse ich sinken und plötzlich nicht mehr mit dem Untergrund verwurzelt sind meine Füße. Langsam gehe ich, gleichwohl weiterhin von Misstrauen begleitet, auf das Ungetüm zu. „Wo sind wir und warum haltet Ihr uns hier fest?" Der Riese sieht mich an. Tief wie ein Bergsee sind seine Augen. Traurigkeit findet sich darin, Verlorenheit und altes Wissen.

„In den Hallen Okolni, die tief liegen in Utgard, der Unterwelt", sagt er. „Durch das Tor Iving seid ihr gekommen, das Letzte, das unsere Welten miteinander verbindet. Und festhalten ... wir hindern euch nicht daran, zu gehen, denn selbst Gefangene sind meine Brüder und Schwestern hier."

„Aber zwei eurer Art haben uns angegriffen!", entrüstet sich Thermyr. Der Riese kräuselt erneut die faltige Stirn und ein erbostes Glimmen durchzuckt die Augen. „Grid und Frid haben euch nicht zuerst attackiert, so erzählte sie es mir jedenfalls. Sie mussten sich eurer Übergriffe erwehren und wurden dabei schwer verletzt."

Mir der Schuld daran bewusst senke ich den Blick. Zum Angriff rief ich als Erste, nicht abwartend, ob die beiden Jötunn ihrerseits einen solchen starten würden, und verursachte eine der schrecklichen Wunden im anschließenden Kampf. Nur verteidigen wollten sie sich gegen uns, waren zuerst womöglich genauso erschrocken ob unser plötzliches Erscheinen wie wir über ihres. „Entschuldigt", bitte ich daher und verbeuge mich auf Vergebung hoffend.

Mimir wendet sich mir zu. Sein Blick brennt eisig und feurig zugleich. Die uralte Kraft dieser Wesen begründet sich zwar aus Bösem, jedoch unterlagen sie ihm nicht. Melkor erschuf sie in Hass und Missgunst, gleichwohl aus ähnlichen Materialien und auf übereinstimmende Art und Weise wie Mahal uns, zudem aus dem wesensgleichen Willen heraus Großes entstehen zu lassen. Daher Brüder und Schwestern sind wir sozusagen, wenn auch von verschiedenen Wuchs.

Der Riese schnaubt und senkt den Blick, scheint die Entschuldigung anzunehmen und wendet sich schließlich der Steintür zu. „Kommt mit mir, ihr werdet hungrig sein und ungern möchte ich euch so ausgezehrt zu Egnin bringen."

„Wer ist das?", will Lórid misstrauisch wissen. Mimirs Augen werden unvermittelt dunkel. Tiefe und schmerzvolle Traurigkeit überschattet das Blau der Iriden. Er erwähnte, dass die seinen ebenfalls nur Gefangene dieser Hallen unter der Erde sind, sie vor langer, langer Zeit hierher verbannt wurden. Nicht sie sind es, die uns mit einer unheimlich starken Zaubermacht festhalten. „Er ist der König der Dunkelfaien und damit dieses Reiches. Er ist es, der Gewalt über alles und jeden ausübt, der in es gelangt, ob nun zufällig, gezwungen oder gewollt. Eure Ankunft durch sein Tor und die Gefangennahme, nachdem er euch den Verstand trübte, wurde ihm unlängst mitgeteilt und euch nun zu holen, war sein Befehl an mich."

Unendlich lange Tunnel, breite, schmale, hell erleuchtete, ohne die an ihrem Beginn mitgenommene Fackeln wohl tiefdunkle, nehmen wir. So verschlungen und durch viele Abzweigungen miteinander verbunden sind sie, dass selbst wir Zwerge, die solcherlei aus ihren eigenen Hallen gewohnt sind, bereits nach kurzer Zeit die Orientierung verlieren. Niemals wieder allein zurück und schon gar nicht aus diesem Wirrwarr heraus würden wir finden.

Schließlich in eine Kammer führt uns Mimir, in der lediglich ein sehr niedriger, leerer Tisch aus Stein steht und die schummrig von einer Feuerstelle in ihrer Mitte erhellt wird. „Setzt euch", sagt er und hockt sich gemächlich, mit einem altersschweren Stöhnen und steinrumpelnden Gelenken, auf ein bereitliegendes Fell nieder. An seine Knie stößt die Kante der Tischplatte, für uns jedoch befindet sie sich genau in der richtigen Höhe.

„Was beliebt ihr zu essen?", fragt der Zwergriese und beugt sich nach vorn. Wir sehen uns fragend an, denn selbst sofern wir Wünsche äußern würden, woher sollte er die Nahrungsmittel dafür holen und gar diese zubereiten? Kein Ofen, Herd oder Sonstiges entdecken wir, ja noch nicht einmal ein Topf oder Spieß könnte man über der Feuerstelle anbringen. „Ich hätte gerne eine Pilzpastete ... wenn es möglich wäre", wispert da jedoch Ibûna verschämt und krallt die zitternden Hände von der Kühnheit selbst erschrocken fester in den Mantelärmel ihres Bruders.

Mimir lächelt sie an. Ein eigenartiger Ausdruck in dem steinalten Angesicht, der vermutlich lange nicht mehr dort wirkte, denn an den hochgezogenen Mundwinkeln bröselt ein wenig Haut wie Sandgestein von dem Antlitz. „Wie Ihr wünscht", sagt er sanftmütig und streicht mit der flachen Hand über die Stelle des Tisches, vor der sie sitzt. Ein Leuchten und Flirren entspringt unmittelbar dem Stein, steigt auf wie Funken von einem windgetriebenen Lagerfeuer und aufgescheuchte Glühwürmchen an einem lauen Sommerabend. Und plötzlich, steht dort ein Teller mit einem Stück dampfender, perfekt gebräunter, herrlich duftender Pilzpastete.

„Hexerei", stößt Lórid verwundert aus. Mein Magen grummelt dringlich nach Aufmerksamkeit beim Anblick der Köstlichkeit. Zaubertrick oder nicht, echt und so, so mundend sieht sie aus. Ibûna starrt mit offenem Mund und genauso ihr Bauch verlangt lautstark danach, mit ihr gefüllt zu werden. Eine gefühlte Ewigkeit haben wir allesamt nichts mehr gegessen und auch wenn Zwerge tagelang ohne Nahrung auskommen können, so zehrt der Hunger bereits bedenklich an unseren Kräften.

„Esst", fordert Mimir die junge Kriegerin auf. Unsicher löst sie die schutzsuchende Klammerung und beugt sie sich nach vorn, schnuppert an dem aufsteigenden Dampf und steckt sich schließlich mit der ebenso herbeigezauberten Gabel ein großes Stück der Pilzpastete in den Mund. Den Tränen nahe kaut sie langsam und genießend, so herrlich muss dieser Bissen schmecken.

„Und was wünscht ihr?" Mimir freut sich sichtlich darüber, dass es ihr schmeckt und da nun das Misstrauen schwand, fragen wir nacheinander nach den unterschiedlichsten Speisen - gebackenes Hühnchen, Bratkartoffeln, Schinken und noch warmes Brot, Schweinshaxe, Aufläufe, Pasteten, gebratene Forelle - die allesamt von ihm herbeigezaubert werden. Dazu herzigen Wein, frisches Wasser, herbes Bier und honigsüßen Met.

Selten bisher speiste ich besser, jedoch einen bitteren Nachgeschmack bietet meine Fleischklößchensuppe, denn nachdem muss uns Mimir zum König der Dunkelfaien führen, so wie es sein Auftrag war. Ich befürchte, nicht ohne Sinn wird er uns das stärkende Mahl bereitet haben. Vielleicht auf einen Kampf, mental oder körperlich, wollte er uns bestmöglich wappnen. Keine Vorstellung habe ich von diesen Wesen oder anderen, die hier womöglich außerdem hausen. Schrecklich könnten sie sein. Stark. Feindlich gesinnt. Viel Kraft wird es uns vermutlich kosten, ihnen zu entrinnen, wenn dies überhaupt möglich sein wird.

Hoffnungslosigkeit ergreift erneut mein Herz. Für den Moment vergaß ich sie. Wurde geblendet von der Freundlichkeit des Jötunn. Beabsichtigt oder nicht, in ihm erinnerte ich mich nicht der Welt, aus der wir stammen und die, die in ihr zurückgeblieben, voller Angst uns vermissend. Oh Mahal ich bitte dich, komm uns zu Hilfe, denn alleine werden wir dieser Gefangenschaft und dem drohenden Vergessen wohl nicht mehr entrinnen.

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Idrib! – Stop!

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