Der Schmerz ihres Verlustes
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„Entweder möchtet ihr mir einen Warg aufbinden, oder wollt, dass ich frühzeitig Mandos' Hallen entdecke." Dís ist wie erwartet wenig begeistert, als ihre beiden Söhne stolz mehr denn nur die erjagte Beute präsentieren. Thorin scheint unbeeindruckt über das fassungslose Gesicht seiner Schwester, jedoch glaube ich, innerlich freut er sich wie ein kleines Kind darüber, mitverantwortlich dafür zu sein, sie aus dieser gebracht zu haben.
Das Schattenwolfjunge scharwenzelt derweil um ihre Beine herum, setzt sich schließlich plump und schaut mit schrägliegenden Kopf interessiert und leise fiepend zu ihr auf. Die Prinzessin schnauft ob dieser Zurschaustellung geballter Niedlichkeit und wendet den Blick schnell ab und ihren Kindern zu. Jedoch genauso große, flehende Augen wie der Welpe bemühen sie, um ihre Mutter davon zu überzeugen, ihn behalten zu können, und mit aller Beherrschung die eine Kriegerin nur aufbringen kann, versuche ich stark zu bleiben, um sie nicht ebenfalls darum anzuflehen.
Dís schlägt die Hände vor dem Gesicht zusammen, atmet mehrmals verzweifelnd tief ein und aus, und schaut dann tadelnd ihren Bruder an. „Das ist dein Werk, nicht wahr?" Dieser zuckt mit den Schultern. „Wie haben ihn im Wald entdeckt, vermutlich von den Eltern verlassen. Halb erfroren, abgemagert und herzzerreißend wimmernd. Deine Kinder, gütig wie sie sind, konnten ihn nicht einfach zurücklassen." Wir beschlossen auf dem Rückweg Dís nichts von dem Angriff zu erzählen und erdachten uns daher diese für unser aller Gesundheit sehr viel verträglichere Variante, wie wir den kleinen Wolf fanden, denn sollte sie jemals die Wahrheit erfahren, zumindest Thorin dürfte schreckliche Wunden davontragen und Kili und Fili ihr restliches Leben den Berg nicht mehr verlassen.
Erneut schaut sie den Welpen an, der sich mittlerweile mit der Hinterpfote sehr unbeholfen das Schlappohr kratzt. Ihre Augen werden plötzlich sanft. Vielleicht erinnert sie sich daran, dass ihr Bruder, Frerin, dereinst ebenfalls kein notleidendes Tier zurücklassen konnte. Thorin erzählte mir einst davon. Erschöpfte Vögel, die durch das große Tor oder breite Luftschächte in die Hallen des Erebors gelangten und aus der Weitläufigkeit nicht mehr hinausfanden, pflegte er und erfreute sich daran, wenn er sie wieder freilassen konnte. Halbverhungerte Füchse, verlassene Rehkitze, sogar einen eigentlich gefährlichen Dachs, der sich den Fuß in einer Falle verletzte, brachte er einstmals mit nach Hause und weder Großvater noch Vater konnten es ihm verbieten, obwohl er sonst ein folgsamer Zwergling war. Sie schnauft ... und nickt schließlich.
Ihre Kinder umarmen sie stürmisch und von ihrer Freude mitgerissen, springt der Welpe ebenfalls wild herum. „Aber ihr müsst euch um ihn kümmern", mahnt sie mit gestrengem Blick und beide Nicken eifrig. „Er kann nicht den ganzen Tag im Berg bleiben und muss regelmäßig nach draußen." Wieder nicken sie. „Er muss gefüttert, erzogen und beschäftigt werden. Wir helfen euch dabei, aber verantwortlich seid dennoch ihr allein." Erneut nicken sie und umarmen ihre Mutter abermals vor Freude.
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„Wie ich hörte, habt ihr eine kleinen, verwilderten Schattenwolf aufgenommen, wie außergewöhnlich!" Nicht lange dauerte es - genau gesagt, nur die wenigen Stunden bis zum Abend - damit sich die Neuigkeit im Berg verbreitete. Eine der Damen, die mich bereits während meines ersten Balls am Hofe ungebührlich anstandsvergessend mit Fragen bedrängten, nahm meine Gesellschaft kaum, dass ich die Thronseite Thorins verließ, erneut recht anmaßend dreist in Beschlag. Wie damals trägt sie auch heute ein leuchtend rotes Kleid und wedelt sich mit dazu passendem rubinenbesetztem Fächer einen leichten Lufthauch in das noch immer hübsche Gesicht. Durch die günstige Heirat mit einem Fürsten stieg sie derweil im Rang, stand eine Zeit lang über mir, erlangte damit einhergehend das Privileg, mich zuerst anzusprechen. Wie genoss sie diese Jahre, denn allzeit musste ich ihr auf Fragen antworten. Jedoch durch die Ernennung zur Rechten der Hand des Königs begleite ich als Frau nun eine Stellung, die in Macht, Ansehen und Bedeutung nur noch unter der der Kronprinzessin Dís steht. Eine Art Prinzessin bin ich als Unverheiratete nun ebenfalls und nur wenige vergleichbaren Titels gibt es am Hofe Thorins. Daher mit einem kleinen überheblichen Lächeln anstatt einer Begrüßung begegne ich ihr, und stolziere erhobenen Hauptes weiter, obwohl dies sonst nicht meiner Manier entspricht. Jedoch die Ungehörigkeit muss gesühnt werden.
Fassungslosigkeit entstellt das feine Gesichtchen und die Bewegungen des Fächers werden hastiger, damit sie nicht droht vor Empörung in Ohnmacht zu fallen. Ich muss mit ihr nicht reden, mit niemanden, außer denen, die ich selbst auserwähle und einigen Männern, die mir weiterhin höhergestellt sind. Da ich Thorins Seite nun auch des Nachts nicht mehr verlasse, ich eine gewisse Macht ebenso auf den König wirken lassen kann, uns sei es nur, dass ich, während er sich unter den geschickten Händen gänzlich der Leidenschaft hingibt, Gefälligkeiten erwirken könnte, wurde mir erst vollkommen bewusst, welch Respekt die hochwohlgeborene Gesellschaft des Hofes mir und meiner Stellung erweisen muss. Viel zu lange forderte ich diesen nicht durchweg ein, obwohl Thorin darauf beharrte. Als verwaistes Mädchen, mittellos, gebrochen, verzagt, fürchterlich zugerichtet und mit nichts mehr als einen geerbten kostbaren Ring in der Tasche, kam ich einst hierher. Der Aufstieg aus der schmutzigen Gosse der Straße, in die ich dereinst geworfen wurde, war lang, mühsam, schmerzhaft, gleichwohl von Glück und dem Wohlwollen der Valar beseelt. Blut, Schweiß, Tränen, Schwert und Verstand eröffneten mir den Weg, den ich nun durch die sich vor mir achtungsvoll teilende Menge gehe, erwirkten den ehrfürchtigen Respekt, den einjeder mir mit tiefen Verbeugungen und gesenktem Blicken entgegenbringt. Die Huld des Königs der Preis für all die überstandenen Leiden. Die seinem Begehren innewohnenden Möglichkeiten jedoch nur unerheblich wichtig. Ausnutzen zu meinen Gunsten werde ich sie nicht. Vielleicht zu deren die ich liebe und schätze, aber niemals eigennützig und ungerecht, das verspreche ich euch.
„Zirkûna Astâ, Ihr tragt heute ein außergewöhnlich hübsches Kleid, falls ich dies anmerken darf." Meister Abarrons blasierte Höflichkeit lässt mich erschaudern. Nur notwendige Worte, wenn überhaupt, spricht er sonst mit mir und bisher während öffentlicher Anlässe noch nie suchte er Gesellschaft geschweige denn ein freundliches Gespräch. Jedoch einer der Männer ist er, dem ich weiterhin untergeordnet stehe. Vom Geschlecht Durins stammt seine Familie ebenso ab, wenn auch die Heirat einiger weiblicher Erben die Reinheit des Blutes des Stammvaters schwächten, so genießen sie hohen Titel, Ansehen und sogar Anrecht auf den Thron, sollte Thorins Geblüt schreckliches widerfahren. Ein Umstand, der ihn schon so manche Ränke und Komplotte schmieden ließ, aber die wir immer schafften zu zerschlagen, noch ehe sie großes Unheil anrichten konnten. Ein gefährlicher Mann ist er. Durchtrieben, listenreich, skrupellos und leicht in seiner Ehre zu kränken. Daher, obwohl mir zuwider, verbeuge ich mich respektvoll vor ihm.
„Ihr dürft, Meister des Handels und des Handwerks." Er verzieht die schmalen Lippen zu einem süffisanten Lächeln und es schaudert mich erneut. „Ihr kennt meinen Sohn Armand?" Der schmächtige Jüngling, obwohl ein Jahrzehnt älter als ich, wird von seinem Vater am Arm hinter seinem Rücken hervorgezogen. Mit tief gesenktem Blick und zitternder Stimme begrüßt er mich. Häufig bereits sah ich ihn bei gesellschaftlichen Anlässen, jedoch immer im dunklen Schatten Abarrons wandelnd, wortkarg und kaum imstande auch nur einen Funken an Eigenwert zu zeigen. Eingeschüchtert wirkt er ebenso jetzt. Unsicher. Verschämt geradezu. Eigentlich die Stellung, die ich innehabe, sollte er nach dem Willen seiner Familie und einiger Sympathisanten bekleiden. Im Grunde hübsch anzusehen ist er, wie mir jedoch nun erst auffällt. Die Augen von einem hellen grau-braun wie Rauchquarz, ziehen mich vollends unerwartet in ihren Bann, als Armand den Blick wieder hebt. Zu einem strengen Zopf zurückgebunden die schwarzen Haare. Der im Gegensatz zu seinem Vater reichlich wenig mit Silber, Gold und Edelstein geschmückte Bart reicht ihm bis auf die Brust, die jedoch schmal ausgebildet davon zeugt, dass er dem Umgang mit Schreibfeder der Handhabung von Schwert oder Axt bevorzugt. Ein Student der Akademie ist er, wie ich weiß. Gebildet und geübt mit Worten. Rechtsbelesen. Diplomatieerfahren. Kein Krieger. Nicht durchsetzungsstark. Unwissend der Welt außerhalb des Berges und die, die in den Büchern beschönigt und heroisch dargestellt wird. Keine Persönlichkeit, die dem Leben an Thorins Seite standhalten könnte.
Ich lächle ihn an und erwidere die Begrüßung knapp aber gebührlich. „Natürlich. Erst vor kurzem sah ich ihn in den Hallen des Wissens studieren." Die Rauchquarzaugen werden plötzlich von einem flackernden Streifen der Begeisterung durchzogen. „Würdet Ihr ihm vielleicht den nächsten Tanz gewähren?", fragt Abarron mit ungewohnt honigsüßer Stimme. Ich stutze und vermute nur, warum er solch ein unangenehm Vertraulichkeit heuchelndes Schauspiel aufführt. „Meister Abarron, ich bin mir sicher, dass Euer Sohn alt genug ist, um dies selbst bei mir zu erbitten, sollte er es denn wirklich wollen."
Eine leichte Schamesröte überzieht das Gesicht des jungen Zwerges. Gewohnt ist er es wohl, dass sein Vater allerhand und womöglich oft, ohne ihn einzubeziehen, oder nach seiner Meinung zu fragen, für ihn entscheidet und bestimmt. Allerdings selten bisher traut sich jemand, dies so offen anzumerken, wie Abarrons kurz entschwindendes dünkelhaftes Lächeln verdeutlicht. „Natürlich, Nathûna", presst er durch knirschende Zähne und stößt seinen Sohn mit dem Ellenbogen recht unsanft in die Rippen. Dieser verbeugt sich erneut tief, versucht so, die Unsicherheit herunterzuspielen und zu bekämpfen. „Würdet ... würdet Ihr mir ... wenn Ihr möchtet ... den nächsten Tanz schenken, verehrte Zirkûna Astâ." Abarron schnauft enttäuscht über die Verlegenheit seines Stammhalters. Höher gestellt ist er mir, älter, kein Krieger, aber nach seiner Meinung wohl klüger und daher besser geeigneter für die Stellung, die ich anstatt seiner innehabe. Die Befangenheit, die möglicherweise von empfundenen Respekt herrührt, dementsprechend unnötig und weidlich unangebracht.
Kurz überlege ich, der Bitte nicht zu entsprechen, denn die anfängliche Vermutung über Sinn und Unsinn dieser Pose stärkte sich derweil. Keine Gelegenheit will ich ihm bieten, Anlässe für Gerüchte selbst in Gang zu setzen. Jedoch weiß ich auch, würde ich das Ersuchen ablehnen, andere Mutmaßungen, teilweise mittlerweile bereits wahre, würde er im Berg verbreiten, um mich um das Ansehen mit aller Macht zu diffamieren. Die Gefahr ist groß, dass nun, da ich volljährig bin, Thorin mir eine so hohe Stellung gab und Dwalin nicht mehr an meiner Seite weilt, jemand ihrer doch Glauben schenken wird. Daher gestatte ich es, dass Armand mich bei Beginn des nächsten Tanzstückes auf die Fläche inmitten des Saals führt.
Geübt ist er, wie mir schnell gewahr wird, obwohl ich ihn bislang niemals mit irgendjemandem während öffentlicher Anlässe tanzen sah. An der Seite seines Vaters musste er allzeit verweilen, sich mit hochrangigen Offizieren, Ratsmitgliedern, alten Gelehrten und bedeutenden Adligen austauschen. Oft jedoch, begleitete ein etwa gleichaltriger Zwerg ihn, was die langweiligen Gespräche über Politik, Kriegsführung und gesellschaftliche Themen ihm scheinbar ein wenig erträglicher werden ließ. Gleichwohl heute entdecke ich diesen nicht zwischen den anderen Anwesenden.
„Verzeiht meines Vaters Verhalten Euch gegenüber", erbittet er plötzlich mit gesenktem Blick. Misstrauen überkommt mich. „Ich weiß nicht, was Ihr meint." Trotz der abgrundtiefen Abneigung ob des Wissens, dass Abarron nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht handelt, ein Verräter ist und der königlichen Familie, die ich schwor zu beschützen, Schaden zufügen will, darf ich meinen Hass auf ihn niemals offen zeigen, schon gar nicht seinem Sohn.
„Seitdem Ihr an diesen Hof kamt, redet er im Beisein von Familie, Freunden und wichtigen Bekannten schlecht über Euch. Aber nichts von alle dem ist wahr, wie mir von anderen zugetragen wurde und ich nun selber erleben darf." Eine listig ausgedachte Bekundung könnte es sein, dafür geeignet, mir das Misstrauen ihm gegenüber zu nehmen, daher zweifle ich an ihrer Ehrlichkeit. „Euer Vater wird seine Gründe haben, eine solche Meinung von mir zu haben. Nicht als fehlerlos möchte ich mich bezeichnen und zudem, als Günstling des Königs muss ich mit solcherlei Gerede umgehen können." Er umkreist mich, nimmt erneut meine Hand und verbeugt sich. Ich erwidere. Penibel vorgegebenen Regeln und Abläufen folgt der Hoftanz. Zuwider ist er mir manches Mal, denn ein Reigen oder Menuett ist angenehm freier.
„Dennoch sollt Ihr wissen, dass ich seiner Ansicht dahingehend nie gefolgt bin, auch, wenn ich bislang nicht das Vergnügen Eurer Bekanntschaft schließen durfte. Jetzt jedoch, da ich Euch nicht mehr nur von weiten bewundern darf, bestätigt sich meine Einstellung." Herausgetreten aus dem Schatten seines Vaters gibt er sich ausgesprochen und angenehm redselig, obwohl mich weiterhin das Gefühl warnt, er spiele dies alles nur zum Zwecke eines hinterlistigen Ziels.
„Ihr mögt Bücher?" Fragend wie er zu diesem Schluss kommt, sehe ich ihn an. Er versteht schnell. „Ihr erwähntet, dass Ihr mich in den Hallen des Wissens saht. Nur zu einem Zweck verirrt sich ein Zwerg dorthin." Ich lache. Ja, natürlich, begeistert schien er über diesen Zufall. „Ich hatte an diesem Tag eine Rechercheaufgabe für Ihre Majestät zu erledigen", sage ich in der Hoffnung, er möchte keine genauere Auskunft darüber, welche Fragestellung ich in den alten Büchern nachschlug. Allerdings Enttäuschung sehe ich die Rauchquarzaugen überschatten. Nicht die Antwort, die er erhoffte, war diese wohl. Das Drängen ihm diese wieder zu nehmen, überkommt mich überraschend. „Ja, ich mag Bücher. Jeder Art und jedes Themas, besonders aber epische Heldensagen." Sofort beginnen die Augen von Neuem zu leuchten und trotz des noch immer herrschenden Misstrauens ob der Tatsache, dass er der Sohn Abarrons ist, freue ich mich darüber. „Kennt Ihr die Sagen des Sigfrieds?" Ich nicke lächelnd. „Zerlesen habe ich sie." Das Musikstück endet in diesem Moment und wir verbeugen uns höflich zum Dank für den Tanz voreinander. Nicht gänzlich so schlimm wie zu Anfangs gedacht war er. Genau genommen sogar recht angenehm.
„Ich weiß, es ist eine ungebührliche Frage, da Ihr mich kaum kennt und Mündel des Königs seid ... aber würdet Ihr mich ... vielleicht ..." Erneut eine leichte Röte überzieht die bebarteten Wangen. Er befeuchtet die trockenen Lippen und hält Ausschau nach einem der Pagen, die Tabletts mit Wein herumtragen, erspäht jedoch keinen von ihnen in Rufnähe. Ich trete derweil einen Schritt zurück, ermögliche ihm den wohl nötigen Abstand, denn endlich weiter spricht er. „Würdet Ihr mich vielleicht hinaus begleiten? Es würde mich sehr freuen, wenn wir unser Gespräch dort vertiefen könnten."
Ich sehe zu den bodengleichen Fenstern in die vor ihnen herrschende Nacht hinaus. Golden gleißt der hinausschimmernde Schein der Kerzen auf der hohen, unberührten Schneedecke. Frostig wird es sein, jedoch unempfindlich sind wir Zwerge zumindest für eine Zeit gegen Winterkälte. Die Luft von Frische erfüllt und damit unbestritten angenehmer als die stickige und von den Gerüchen des Banketts, dem schweren, süßlichen Parfüme der Damen und allerhand anderen durchsetzten hier drin. Bezaubernd der sternenklare Nachthimmel. Gleichwohl beschleicht mich erneut das ungute Gefühl. In einem vollen Saal, unter der Beobachtung von Freunden, mit dem Sohn des Erzfeindes zu tanzen zwar ebenfalls gefährlich, allerdings noch sehr viel gewagter könnte ein Gespräch fernab im Notfall Eingreifender sein. Weiterhin vermute ich keine gute Gesinnung hinter der freundlich lächelnden Maske, die mir erwartungsvoll entgegenschaut. Jedoch sein Ersuchen abzulehnen erscheint mir genauso riskant. Als Beleidigung könnte Abarron sie auffassen, üble Behauptungen daraus erspinnen.
Ich versuche, eine vertraute Gestalt in der feiernden Menge zu entdecken. Balin, Gloin, Oin, irgendwen, in der Hoffnung, ihnen wird die Misere gewahr, in der ich mich befinde, und sie kommen mir zu Hilfe. Oh wie sehne ich mich plötzlich nach Dwalins immerwährendem aber bislang nie gebührlich geschätztem Beistand. Schon beim kleinsten Anzeichen des Unwohlseins wäre er an meine Seite geeilt und hätte eingegriffen. Jedoch hier ist er nicht und zweifelhaft, ob er, sollte er denn jemals zurückkommen, diese starke fürsorgliche Obhut weiterhin aufrecht erhält.
„Gerne", erlaube ich schließlich unter mulmigen Gefühl und Armand reicht mir seinen Arm, damit ich mich unterhaken kann. Wie erwartet frisch, aber wunderschön, ist es im Garten vor dem Ballsaal. Schnee glitzert von Mondschein und Sternen beschienen auf den Wegen, Brunnenrändern und ob seiner Last tiefhängenden Ästen der Bäume. Nur die zarten Fußtapsen von Vögeln drückten sich bislang in seine Weichheit. Nicht weiter als bis zum Rand der von Kerzenschein beschienenen Stufen, die von der Terrasse hinunter führen, gehen wir auf meinem Wunsch hin.
„Ihr vertraut mir nicht." Wehmütig darüber klingt seine Stimme. Ich versuche sie zu ignorieren und schiebe mit dem Fuß ein wenig Schnee zusammen. Kälte Nässe sickert sofort in den zarten Tanzschuh. „Grämt Euch nicht deswegen, ich musste unter Schmerzen lernen, dass es gefährlich ist, jemandem vorschnell Vertrauen zu schenken."
„Mein Vater, oder vielmehr sein Einfluss, hatte an Euren Erlebnissen womöglich keinen geringen Anteil." Ich seufze verzagend. Vermutungen sind es bislang, die wir hatten. Jedoch nie ließ sich eine Beteiligung nachweisen, trotz aller Bemühungen und auch seine Worte, wenn sogar bedeutend, wurden ohne Zeugen gesprochen und könnten einer Anklage geschweige denn Verurteilung nie genügen.
„Wisst Ihr, Nathûna, warum er mich Euch jetzt erst vorstellte, obwohl sich die Gelegenheit dazu schon so oft bot?" Ich schüttle den Kopf und richte den Blick weiterhin den seinem ausweichend auf den Schneehaufen zu meinen Füßen. „Er will, dass ich Euch eheliche." Ein spöttisches und zutiefst verachtendes Lachen ob dieser Unverschämtheit kann ich nicht unterbinden. Die Position, die er seit Ewigkeiten für ihn vorsah, habe ich inne. Jedoch sobald ich heirate, müsste Thorin mich von allen Ämtern entbinden. Gleichwohl niemals einer Ehe würde er zustimmen, außer, ich bäte ihn inständig darum, denn gleichfalls hieße dies, dass er mich freigeben muss. Ein Umstand der jetzt, nachdem ich ihn auf eine Weise diene, die tiefer geht und noch verbindender ist als ein normales Verhältnis zwischen Herrn und Dienerin eigentlich sein sollte, niemals eintreten wird. In einen goldenen Käfig ohne selbstgewählten Ausweg zwängte mich die Leidenschaft gewissermaßen, wie mir jäh bewusst wird.
„Wie töricht", sage ich daher und umgehend wird mir gewahr, wie verletzend dies wohl klang. Entschuldigend sehe ich ihn schließlich doch an. „Verzeiht, das war nicht auf Euch bezogen. Ihr seid womöglich ein ehrenhafter Mann und so manche Frau glücklich, wenn sie an Eurer Seite stehen könnte, allerdings ich ..." Er unterbricht mich, in dem er näher tritt. Nicht zu nah. Anstand und Respekt gebieten einen gewissen Abstand voneinander, gleichwohl auch der Wille, nicht zu beängstigen, zeigt sich darin.
„Ihr seid bereits jemandem versprochen?" Ich schüttle schnaubend den Kopf und sehe plötzlich bekümmert wieder zu Boden. „Ich war es einst, irgendwie, denn niemals wirklich oder ernsthaft sprachen wir darüber. Jedoch ab wandte ich mich von ihm." Gleichermaßen wie alle am Hofe wird er ebenso von Dwalins selbstgewähltem Exil wissen, und genauso wenig, aus welchem Grund er den Berg verließ.
„Ich verstehe", sagt er und tatsächlich mitfühlendes Bedauern findet sich in den Worten. „Wisst Ihr, auch ich darf niemals mit demjenigen zusammen sein, dem ich heimlich mein Herz schenkte." Ungläubig sehe ich auf. Aber nein, ich scheine mich nicht verhört zu haben, denn erneut eine leichte Schamesröte überzieht sein Gesicht und verlegen sowie bange ob des Geständnisses tritt er von einem auf den anderen mittlerweile durchgefrorenen Fuß.
Eine Verbindung zwischen zwei Männern oder zwei Frauen ist bei Zwergen nichts Ungewöhnliches oder gar Verwerfliches, egal, ob sie alleinig zum Zwecke der Befriedigung oder aber mit ernsten Absichten geschlossen wird. Gleichwohl in Adelshäusern wird solcherlei nicht unbedingt akzeptiert, denn das Fortbestehen der Blutlinie hängt oft nur von einem einzigen Nachkommen ab. Eine jüngere Tochter hat Abarron zwar, die auch bereits einem viel älteren, jedoch hochangesehenen und machthabenden Herzog versprochen wurde, indes die Hauptlast des Erbes bedrückt die Schultern seines Sohnes. Niemals würde er einer Heirat zustimmen, die keinen weiteren direkten Spross des Stammbaumes hervorbringt.
„Der junge Zwerg, der Euch sonst immer begleitet?", mutmaße ich, ohne lange darüber nachzudenken. Er nickt bestätigend und wider Erwarten Sympathie erweckt der Umstand. Geradezu Bedauern empfinde ich. „Weiß Euer Vater davon?" Mit fürchterlicher Angst in den Augen schaut er auf, die mir die Frage umgehend beantwortet. In die Seele schneidet sich sein Kummer. Niemals Erfüllung in der wahren Liebe wird er finden. Irgendwann gezwungen werden in eine nutzbringende Ehe.
Ich schaue zurück in den hell erleuchteten Saal, sehe Abarron dort stehen, wie er uns mit einem Glas Wein in der Hand aufmerksam beobachtet, erwartend, dass sein Sohn die an ihn gesetzten Anforderungen zu seiner vollsten Zufriedenheit erfüllt, wie bislang immer. Eine noch größere Verachtung als bisher bereits, empfinde ich für ihn. Auch er wird gefangen gehalten in einem goldenen Käfig ohne jegliche Hoffnung auf Entkommen.
„Ich vermag Euch leider keinen Rat zu geben", bedaure ich schließlich. „Außer, dass Ihr Eurem Herzen folgen solltet." Sanft nehme ich seine Hand mit der meinen auf. Schrecklich kalt ist die Haut, dennoch nicht allein darum zittert sie. „Begeht nicht den gleichen Fehler, wie ich einst, und verleugnet Eure Gefühle nur aufgrund falschem Pflichtverständnisses und zum vermeintlichen Schutz derer, die ihr liebt. Der Schmerz ihres Verlustes ist grausamer denn jeder andere." Er schaut auf mich hinab, mit schimmernden Tränen in den rauchquarzgrauen Augen. Hoffnung findet sich jedoch darin und der Funke eines Entschlusses, wenn auch noch zart glimmend. „Ich danke Euch", haucht er aus und drückt meine Hand zu Verdeutlichung wie sehr.
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