Bilsenkraut und Mohn
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Aus Stein wurden wir einst erschaffen, zu Stein werden wir, sobald uns Mahal zu sich ruft. Krieg, Krankheit, Verletzung ... der Tod ereilt einen Zwerg nur sehr selten auf den friedlichen Schritten des Alters.
Unter Berge, unter Stein, werden wir zur ewigen Ruhe gebettet.
Unter Berge, unter Stein, in die Tiefe, unter die Erde, zum ewigen Schlaf.
Allein unkörperlich verweilen wir in den Hallen des Wartens, gehüllt in Mandos Schutz und den Nebel von Gedanken und Erinnerungen, dem Fea***. Zurück bleibt der Körper, Hroa***, seelenlose Hülle, tot und unter dem Einfluss von Erde und in sie Kriechendes langsam zerfallend. Sowie das Andenken, die Liebe, hinterlassene Spuren in den Leben von Angehörigen und Freunden. Und seien sie noch so klein, bedeutsam und bewegend sind sie dennoch.
Auf Dwalin schaue ich hinab. Kaum ein Schatten des starken Kriegers, den ich bewunderte und liebte, liegt dort vor mir. Gleichwohl nicht Krankheit oder Verletzung nahmen ihm Körperkraft und Dasein. Alt ist er. Haare und noch immer kurzer, zeit seines Lebens zerzauster Bart ergraut. Das vergreiste Gesicht friedlich. Sein von Ilúvatar gegebenes Schicksal wird es sein, nach einem langen, erfüllten, glücklichen Erdenleben geruhsam im Beisein derer die ihn lieben einzuschlafen. In den Hallen Mandos verweilen einige von ihnen bereits - allesamt durch Feindeshand gefallen im Kampf - erwarten ihn mit Freuden, damit er sich ihnen zu Seiten niederlassen kann. Andere schluchzen im Hiersein über den Verlust von Freund, Waffenbruder oder Vater.
Unter Berge, unter Stein. Zur ewigen Ruhe. Zum ewigen Schlaf.
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Trotz der beruhigenden Vision, kalt erschaudernd schrecke ich aus dem Schlaf auf. Tatsächlich ihm verfallen bin ich wohl ob der niederdrückenden Müdigkeit, die wie den Tod kein Wille der Welt bezwingen kann. Oh wie schelte ich mich dafür! Ori schaut erschrocken über das plötzliche Emporzucken von dem Buch auf, in das er sich beflissentlich vertiefte, während ich die verwerfliche Ruhe fand und schamlos ausnutzte.
„Verzeih, ich bin wohl eingeschlafen", entschuldige ich mich dafür, ihm die Bürde der Krankenwacht alleine überlassen zu haben, jedoch er schüttelt den Kopf. „Ihr ward sehr müde, Zabdûnayê, und habt den Schlaf dringend gebraucht. Ich bin froh darum, dass Ihr ihn finden konntet, auch, wenn Ihr, wie mir schient, derweil etwas furchtbar Aufwühlendes träumtet."
Ich lächle dankbar für das Verständnis und betrachte dann prüfend Dwalin. Dicke, klebrige, leicht gelbliche Schweißperlen prangen matt auf Stirn, Brust und Armen. Der typische unangenehme Geruch der Krankheit geht von ihnen aus. Das zweite Stadium erreichte er also mittlerweile, ohne dass wir etwas dagegen unternehmen konnten.
„Meister Balin war hier, währenddessen Ihr geschlafen habt", berichtet Ori. „Ich sollte Euch nicht wecken, aber darf ausrichten, dass Ihre Majestät Euch vom Dienst freistellte. Bifur übernimmt Eure Aufgaben, damit Meister Dwalin die nötige Fürsorge erhält. Er bedauert sehr, dass er nicht bei Euch sein kann, um Euch dabei zur Seite zu stehen."
Ich nicke Dank bekundend für die womöglich wortgetreue Überbringung der Nachricht ohne die Augen von Dwalin zu nehmen. „Hast du schon etwas finden können?", frage ich hoffnungsvoll, aber die plötzliche Trübheit seines Blicks verrät mir die Antwort, noch bevor er sie gibt. „Leider nein. Ich muss auch ehrlich zugeben, einige Wörter oder Formulierungen verwirren mich, da sie mir völlig unbekannt sind." Ich lächle wissend, was er damit meint, denn elbische Literatur ist allgemein ein wenig unverständlich. Sehr gehoben vermögen sie selbst solch trockene Themen wie Medizin niederzuschreiben. Ihr solltet jedoch einmal diverse Abhandlungen über den Sternenhimmel lesen. Mit ausschweifenden Worten lobpreisen sie die Schöpfung Vardas, ungeachtet dessen, dass auch Aule einige der Sterne und Sternenbilder schuf.
„Die Elben nennen ihre Heiler ‚Cýrandir', das bedeutet doch ‚Erneurer', oder?" Verblüfft blinzelnd lenkt Oris Frage meine Aufmerksamkeit von Dwalin auf ihn. „Elbische Wörter in diesen Hallen auszusprechen ist gefährlich, woher also kennst du sie?" Unbeabsichtigt streng rügend klingt die Nachfrage. Ich persönlich bedauere diesen Umstand, sind Sindarin oder das noch ältere Quenya doch melodische Sprachen voller Mystik und Magie, jedoch auch diese sterilen Wände könnten immerwache Ohren haben und so leichtfertig Ausgesprochenes an falsche Stellen weitertragen, die ihn in Schwierigkeiten bringen.
Ori wendet schuldbewusst den Blick zur Seite. „Ich habe einige Bücher, in denen sich Kapitel mit der Übersetzung in verschiedene Sprachen befanden, in unserer Bibliothek entdeckt. Versteckt hinter anderen, sehr alt, abgegriffen und staubig. Verzeiht bitte, dass ich mir erlaubt habe, sie zu lesen."
Wie könnte ich nur böse auf ihn und besonders seine Wissbegierde sein. Von Balin erhielt er vor kurzem die uneingeschränkte Erlaubnis in allen Werken, die ihn interessieren, studieren zu können. Womöglich in Unwissenheit der längst vergangenen, vielen nicht bekannten, aber bei Einigen nie vergessenen Ereignisse, die zu einem Bruch führten und dem daraus folgenden Abschwören allem, was mit der einstigen Freundschaft einherging, handelte er. Jedoch wundert es mich ehrlich, dass sich solcherlei Bücher in der königlichen Bibliothek überhaupt finden lassen. Zudem, nicht aus reinem Zufall werden sie hinter anderen versteckt ihr Dasein fristen. Wer sie wohl dort platzierte?
Müßig ist es jedoch, sich darüber Gedanken zu bereiten. „Ja, das Wort bedeutet so viel wie ‚Erneurer'", beantworte ich somit seine eigentliche Frage. Er sieht mich daraufhin wieder an, mit diesem wissensdurstigen Funkeln in den Augen, das ich so sehr an ihm schätze. Daher genauer erkläre ich die Herkunft der Bezeichnung, zumindest soweit ich sie einst von Oin erläutert bekam. „Elben sind unsterblich, gleichwohl sie beim Erleiden schwerer Wunden, die ihren Körper zerstören, oder bei großem Kummer, der ihr Herz betäubt und den Lebensfunken schwächt, ebenso wie wir die Hallen Mandos erreichen können. Andere Verletzungen heilen schnell und aus eigener Kraft. Jedwede Krankheiten ereilen sie nicht. Daher befassen sich die elbischen Heiler zumeist mit der Lehre der spirituellen Lebenskraft, ihrer Schönheit und Stärke. Sie entwickeln Methoden, sie zu erhalten, zu kräftigen oder eben zu erneuern, sollte ihr Schwinden drohen. Begrenzt anwendbar auf Geschöpfe, die einer Art der Olvar* oder Kelvar** angehören, denn die größte Wirkung haben sie naturgemäß auf die Wesen, die aus Fea*** und Hroa*** bestehen. Gleichwohl durch die Freundschaften mit Menschen und Zwergen, beschäftigten sie sich ebenso mit irdischen Krankheiten, analysierten sie, fanden Heilmittel und Behandlungen, die bereits so mancher Seuche Einhalt gebot. Leider ging viel des kostbaren Wissens verloren, als diese Bündnisse zerbrachen oder sich voneinander entfernten."
Ori schaut überlegend auf das aufgeschlagene Buch in seinem Schoß. Zettelchen mit ausgefransten Rändern ragen hier und da zwischen den Seiten hervor, auf denen er wohl Bemerkungen oder Verweise hinterließ, Nachfragen notierte oder die Stelle nur markieren wollte, um sie später erneut zu lesen. „Gibt es Krankheiten, die nur die Fea befallen können?", fragt er schließlich. Ich nicke, erstaunt und stolz auf die schlaue Frage. „Natürlich. Schlimmer sind sie mitunter, als solche, die den Körper ergreifen können, denn kaum sichtbar, anders als Verletzungen oder Gebrechen, quälen sie das Geschöpf und vermögen sogar es in den Tod zu treiben. Manche Frauen leiden im Wochenbett an Überforderung und einer tiefen Traurigkeit. Viele Krieger durchleben immer und immer wieder die Grauen einer Schlacht, reagieren auf Geräusche und Gerüche mit Hysterie. Heiler verzweifeln an der Gnadenlosigkeit einer Krankheit oder dem Anblick schrecklich Verunfallter. Die Hoffnungslosigkeit einer Situation, übermäßige und langanhaltende Schinderei, Einsamkeit, Liebesschmerz ... es gibt etliche Gründe und leider kaum werden sie als genauso das Leben bedrohend wahrgenommen. Doch mit einer verletzten oder toten Seele, stirbt unweigerlich auch der Körper, in gleicher Weise, wie der Geist nichts ohne Leib zu erreichen vermag."
Zufrieden zustellen scheint ihn die Erklärung, obwohl ich vermute, nach einer Nacht oder zwei, in denen er sich noch einmal in Ruhe Gedanken über meine Worte bereiten konnte, wird er weitere Fragen stellen. Vorerst allerdings vertieft er sich mit dem neuen Wissen gerüstet wieder in die Kapitel des Buches, während ich das Tuch aus dem Athelas Sud nehme und Dwalins Stirn damit abtupfe. Kaum mehr Wirkung wird das Gemisch jedoch haben. „Ich werde neues Kräuterwasser holen", informiere ich Ori daher und erhebe mich das erste Mal seit Stunden, um von seiner Seite zu weichen.
Der Weg führt mich durch den Krankensaal für die einfachen Leute. Schrecklich ist ihr Anblick und derer ihrer Angehörigen und Freunde, die neben ihren Betten hoffen, bangen, weinen. Der Gestank erfüllt die Luft mit süßlicher Schwere. Unverkennbar ist er. Erinnert an den, der über Schlachtfeldern schwebt und sich mit dem Wind, der an den zerfetzten Bannern der Sieger wie Verlierer zerrt, in alle Winkel des Landes verweilt wird, um zu verkünden, dass der Kampf vorüber ist.
Der Blick schweift über die armen Seelen, fürchtend jemanden zu entdecken, den ich aus einem früheren oder dem jetzigen Leben kenne. Und plötzlich wird diese Angst nur allzu schreckliche Wirklichkeit, und die in den Händen gehaltene Schüssel mit den Resten des Suds lasse ich beinahe fallen vor Entsetzen.
„Thona", wispere ich tränenerstickt, obwohl die Trauer um Dwalin bereits jedwede Zähre in meinen Augen aufzuzehren vermochte. Gleichwohl hören kann die alte und erst vor kurzem wiedergefundene Freundin das Wehklagen nicht, denn wie viele hier liegt sie in Apathie in einem Bett aus Schmerz und Schweiß und die langen, knochigen Finger Mandos' streckten sich unlängst nach ihrer Seele aus. Jedoch ihre Tochter Breda, die neben ihr kauert und dennoch hoffend auf Besserung ihre Hand umklammert, schaut auf. Sie blinzelt mühsam die Tränen aus den verquollenen, roten Augen hinfort und erkennt dann, wer den Namen ihrer Mutter aussprach.
„Oh, Ihr seid es", sagt sie überrascht und will sich respektvoll erheben. Hindern kann ich sie allerdings daran, indem ich hastig auf sie zugehe und ihr eine Hand auf die schmale Schulter lege, denn niemand der ansonsten Anwesenden soll unbedingt zur Kenntnis nehmen, dass ich eine Adlige bin. Wenn bekannt wird, dass ein Zwerg aus des Königs Gefolge erkrankte, wird die Nachricht noch mehr Unruhe im Berg heraufbeschwören als eh bereits.
„Wie steht es um deine Mutter?", frage ich vorsichtig und knie mich neben sie. Schwermütig senkt sie den Blick. Dicke, glitzernde Tränen fallen unvermittelt auf ihre kraftlosen Hände hinab. „Nicht gut", kann ich zwischen leisen Schluchzern heraushören. „Die Heiler wissen nicht mehr weiter." Das unabwendbare Urteil des Todes in diesen schrecklichen Tagen. Nichts Nützlicheres als die Gabe von Bilsenkraut und Mohnsaft können sie wirken, um die Leidens während des langsamen Sterbens etwas zu mindern.
Nicht wahrhaben will ich das, was sie bereits akzeptierte. Dwalin, Thona ... wie viele Zwerge, die ich liebe, werde ich wohl gehen lassen müssen, verlieren an diese Krankheit, bis wir ein Heilmittel finden. Grauenhafte Angst überkommt mich plötzlich. So wirklich all das Leid um mich herum längst war, die Gefahr immer präsent, der Tod ein allseits lauernder Schatten, allzu drohend schlich er sich langsam heran und ist nun allzu greifbar. Er schwebt über Thonas Kopf, dringt in sie mit jedem schwachen Atemzug. Er harrt an Dwalins Bettende, wartend auf den richtigen Moment. Er steht bereits vor der Türe derer, die mir lieb und teuer sind. Schnell müssen wir einen Ausweg finden. Ansonsten ist alles, was wir sind, uns etwas bedeutet, wir so mühsam hervorbrachten, verloren.
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* Als Olvar wurden von den Valar sämtliche wachsenden Dinge mit Wurzeln in der Erde bezeichnet.
** Die Tierwelt von Mittelerde umfasst sämtliche Wesen, die sich fortbewegen können, mit Ausnahme der Ainur, der Kinder Ilúvatars (Elben und Menschen), der Zwerge, Ents, Hobbits und der dunklen Geschöpfe (Orks, Warge, Uruk-hai, Balrogs, Drachen, Riesen und Trolle).
*** Als Fea wird die Seele und als Hroa der Körper eines Geschöpfes bezeichnet, das nicht Olvar oder Kevlar ist. Ohne Seele stirbt der Körper. Und ohne Körper kann der Geist allein nichts erreichen. Nur wenn beide zusammen vereint sind, sind die Kinder Ilúvatars vollständige Wesen. Die Fear stammen aus dem Jenseits direkt von Ilúvatar, wohingegen die Hroar aus rein irdischem Material bestehen. Daher ist eine Fea beständig und verweilt nach dem Tod oder der Zerstörung des Körpers in den Hallen Mandos.
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