Wächter der Sterne
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Nein, nein, das darf nicht sein. Etwa drei Wochen Zeit hat sie noch vor sich. Es ist zu früh, viel zu früh, als dass das Kind jetzt bereits ohne Komplikationen auf die Welt kommen könnte.
Ich stütze Dís. Ihr Körper ist in der ihn überrollenden Wehe gefangen. Sie atmet ihr entgegen. Langsam, unverkrampft und tief. Stark scheinen sie bisher nicht zu sein. Vielleicht gelingt es, die Geburt noch aufhalten. Ich sehe mich um und entdecke mit Erleichterung, wie einige aufmerksam gewordene Passanten näher eilen. Nicht wissen werden sie, wem genau sie helfen, nur wenigen bekannt ist das Gesicht der Prinzessin, jedoch gleichgültig ist dies eh, denn eine schwangere Frau in Nöten beizustehen gebietet sich unabhängig von ihrem Rang.
Ich bitte Einen von ihnen nach der Hebamme Yrsa zu suchen und einen Anderen, Mitglieder der Königswache auf meinen Befehl hin herzubringen. Er sieht mich verwundert darüber an, hetzt dann aber in Richtung Marktplatz, wo sich einige auf Patrouille befinden werden. Doch Dís will nicht so lange warten. In einer Wehenpause schleppt sie sich vorwärts.
Ich weiß, dass sie sich selbst mit den vernünftigsten Argumenten nicht aufhalten lassen wird. Viel zu stur ist ihr durinscher Dickkopf, in manchen Angelegenheiten sogar härter als der ihres Bruders. Daher kann ich sie nur dabei begleiten und stützen, ihr so gut wie möglich beistehen, wenn eine Wehe aufkommt, und bin dennoch unendlich erleichtert, als uns endlich der Losgeschickte mit einigen Soldaten aus Dwalins Regiment entgegenkommt. Sie berichten, dass sie Yrsa bereits trafen und vorausschickten, um alles vorzubereiten.
Wohler fühle ich mich, seitdem sie unseren Weg zurück begleiten, gleichwohl dies unliebsame Blicke auf uns zieht. Getuschelt kommt auf, aber auch eine freudige Stimmung, als die ersten Adligen die Prinzessin und ihren Umstand erkennen. Viele vorzeitige Gratulanten müssen die Soldaten zurückhalten und ich bin froh, als wir endlich den Adelstrakt und das heimatliche Anwesen erreichen.
Dort erwarten uns bereits die Hebammen, Oin und einige Bedienstete. Ich bedanke mich bei den Soldaten und sie wissen, ihre Namen werden ihrem General bei nächster Gelegenheit wohlwollend vorgetragen. „Habt ihr nach ihrer Majestät und dem Großherzog geschickt?", erfragt Dís bei Fenna. Die alte Haushälterin nickt. „Sie sind auf den Weg", verspricht sie mit ruhiger Stimme, aber auch in ihrem Gesicht kann ich die Sorge darüber sehen, dass es viel zu früh ist.
Die Geburtsstube ist daher noch nicht gänzlich vorbereitet. Gemütlich warm ist es jedoch und etliche Dienstmädchen eilen hinein und mit neuen Anweisungen der Hebammen wieder hinaus, um alles Nötige herbeizuschaffen.
Dís lässt sich auf die Kante des Bettes nieder. Schwächer scheinen die Wehen geworden zu sein und ich hoffe bei Mahal, dass es nur solche waren, die das Kind zwar tiefer ins Becken schieben, aber nicht geburtsförderlich sind. Jedoch nach einer Untersuchung zerspringt diese.
„Wir geben Euch einige Kräuter, die die Wehen weiter hemmen", beschließt Yrsa, während sie in ihrer großen Tasche kramt. Die Gerüche von Baldrian, Hopfen und Melisse erfüllen schließlich den Raum, als sie alles mit einem Mörser zerstoßen und zu einem dickflüssigen Tee aufgegossen hat. Dís trinkt diesen brav, auch wenn er nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen furchtbar zu schmecken scheint. Müde wird sie danach und um ihr die nötige Ruhe zu gönnen, verlassen wir das Zimmer. Nur eine der Hebammenschülerinnen bleibt sicherheitshalber an ihrer Seite.
Draußen erwarten uns bereits ihr Gemahl und der König. Nicht minder beunruhigt, wie wir alle, sehen sie aus. „Wie geht es ihr?", fragt Vilí sofort und fasst mich an den Schultern. Wie gerne würde ich ihn die Sorgen um Frau und Kind nehmen. Noch lange nicht ist die Gefahr einer frühzeitigen Geburt gebannt. „Im Moment recht gut. Die Wehen haben nachgelassen und Yrsa gab ihr ein Mittel, damit dies auch so bleibt. Aber wir müssen abwarten. Sie braucht jetzt vor allem Ruhe."
„Diese hat sie auch schon vorher gebraucht", schnauft Thorin sich missmutig einmischend. „Warum also ward ihr draußen unterwegs?" Ich höre den Tadel in seinen Worten. Als ihre Nan'ul hasûna wäre es meine Pflicht gewesen, seine Schwester vor jeder Anstrengung, die sie und das Kind gefährden könnte, fernzuhalten, und er hat Recht, ich bin schuld an diesem drohenden Unheil. Die Aufregung und die emotionale Belastung während Tharkûnas Besuch lösten womöglich die Wehen aus.
„Einige Besorgungen für das Kind wollte die Herrin noch tätigen", lüge ich daher, denn fraglich ist, ob Dís den wahren Grund nicht lieber verheimlichen möchte, ob sie irgendjemanden außer mir überhaupt von den besorgnisvollen Träumen erzählte. „Das hättest du auch alleine erledigen können", schimpft Thorin. Ich senke um Vergebung bittend den Blick. Selten erfahre ich Schelte aus seinem Mund, aber immer mit guten Grund.
„Sei nicht so hart mit ihr, Thorin", stoppt Vilí ihn jedoch und tritt beschützend vor mich, „du kennst doch deine Schwester. Sicher hatte sie selbst nicht einmal in Gedanken, was genau sie noch benötigte und befürchtete, Astâ würde das Falsche bringen, wenn sie alleine und nur mit einer vagen Beschreibung dessen ginge."
Augenscheinlich gibt sich Thorin mit dieser Begründung zufrieden. Er will die angespannte Situation wohl nicht noch verschlimmern. Jedoch eine Unterredung darüber droht, sobald wir alleine sind, dessen bin ich mir sicher.
Der Rest des Tages vergeht schleppend und Dís erwacht nicht mehr während diesem. Wohlweislich viel des beruhigenden Baldrians mischte Yrsa wohl in den Tee. Nach dem Abendessen und der Erledigung der Letzten meiner Aufgaben, löse ich die Hebammenschülerin in der Wacht über die Herrin ab. Sie berichtet, dass keine Kontraktionen mehr erkennbar waren, aber sie sehr fiebrig schläft. Der furchterregende Bär treibt wahrscheinlich abermals in ihren Alpträumen sein verheißendes Unheil.
Ich lasse mich auf einen Stuhl neben dem Bett nieder. Tharkûnas Rat kommt mir erneut in den Sinn. Die Schuld der Väter muss abgelegt werden, um das zu verhindern, was sie voraussah. Ich kann mir nicht vorstellen, was dies sein könnte. Jedoch kannte ich König Thráin zu kurz und ungenügend, um darüber zu urteilen, welch Fehler er begangen haben könnte, und die Chroniken, von denen zudem nur wenige erhalten blieben, erzählen oft nicht die vollumfängliche Wahrheit über die Vergehen seiner Vorgänger. Balin und einige seit Generationen dem Königshaus nahestehende Andere werden um sie wissen, genauso wie Thorin und womöglich sogar Dís selbst. Sie wird hoffentlich verstanden haben, was zu unternehmen ist.
Während ich noch grübele, schreckt die Prinzessin plötzlich aus ihrem Schlaf auf und hält sich den Bauch. Sofort haste ich an ihre Seite. Nach ließen wahrscheinlich die wehenhemmenden Wirkstoffe des Tees, gleichzeitig ist ein Einsetzen der Kontraktionen aus der Ruhe heraus kein gutes Zeichen in der jetzigen Situation.
Ich schreie um Hilfe, wissend, dass Vilí im Raum nebenan ebenfalls wacht. Hereingestürmt kommt er ungesäumt, der Blick erschrocken weit, als er erkennt, warum ich rief. „Bleibt bei ihr", bitte ich ihn, „ich muss die Hebammen und Meister Oin holen gehen". Er nickt lediglich und setzt sich zu seiner Gemahlin. Sie greift sofort nach seiner Hand und sieht ihn mit einem entsetzlich sorgenvollen Ausdruck im aschgrauen Gesicht an.
Ich eile aus dem Zimmer, befehle dem ersten Dienstmädchen, das mir über den Weg läuft, Yrsa zu holen, und stürme dann in den Salon, denn dort zu warten, versprach mir Oin. Wir brauchen ihn unter der Geburt. Das Risiko für Mutter und Kind ist zu hoch. Komplikationen könnten auftreten, ein schnelles Eingreifen notwendig sein, bei dem er und die Hebammen zusammenarbeiten müssen, jeder kundig und erfahren auf seinem Gebiet.
Sitzend in einem der Sessel, die am Kamin stehen, ist er eingenickt. Ich rüttle ihn sanft wach, denn aufgrund seiner Schwerhörigkeit, ein Überbleibsel eines Anschlags, der einst der Königsfamilie gelten sollte, bemerkte er das Hereinkommen nicht. Verschlafen blinzelt er mich an. „Die Wehen haben erneut eingesetzt", unterrichte ich ihn in der gebürtigen Dringlichkeit. Sofort scheint jegliche Schläfrigkeit bei ihm vergangen, denn mit dem Griff zu seiner neben dem Sessel bereitstehenden Tasche springt er unverzüglich auf und ich habe Mühe, ihm zurück zu folgen.
Als wir in den Gemächern der Prinzessin ankommen, warten dort bereits Hebammen und mehrere Bedienstete, unter ihnen auch Fenna. Nervös krallt sie die Hände in die Schürze und wischt sich mit ihr immer wieder über die tränenglänzenden Augen. Sie erzählte mir unlängst, dass Frerin, Thorins Bruder, dereinst ebenfalls einige Wochen zu früh auf Welt geschickt wurde. Nur knapp und mit viel Fürsorge und Wärme überlebte er die ersten Tage und blieb außerdem sein Leben lang von den Umständen gezeichnet. Vor allem schmaler gebaut war er, als es für einen Durin üblich ist. Ich nehme mir trotz der Hast die Zeit, sie tröstend in die Arme zu schließen.
In der Geburtsstube verbesserten sich mittlerweile die Gegebenheiten. Alles scheint hergerichtet für die drohende Geburt, jedoch sehe ich mit Unbehagen, wie eine der älteren Hebammen unangemessen empört mit Vilí streitet. „Hoheit, ich weiß, es ist eine besondere Situation und Ihr sorgt Euch um Eure Gemahlin, aber ich muss Euch dennoch bitten zu gehen." Die Anwesenheit von Männern, außer Heilern, ist unter der Geburt nicht gestattet. Eine alte Tradition, die ich noch nie wirklich nachvollziehen konnte, solange es die Väter betrifft. Beistand benötigt die Frau in dieser Situation, von Freundinnen, der eigenen Mutter, einer Nan'ul hasûna, aber viele die ich begleitete, verlangten bereits nach dem Mann, den sie lieben, der sie beschützt, ihnen zusätzliche Stärke gibt, oder einfach nur, um diesen unvergleichlichen Moment gemeinsam zu erleben.
„Ich werde keinen einzigen Schritt aus diesem Zimmer setzen", antwortet Vilí mit einer Beharrlichkeit, die er selten zeigt. Ein großartiger Mann ist er. Tapfer, edel, stark, aber mitunter ist seine Meinung zwischen den Dickköpfen von geringerem Wert, obwohl diese oft die Lösung des Problemes wäre. So manches Mal nahm ich sie auf und trug sie Thorin außerhalb der Streitgespräche noch einmal in seinem Namen vor. Wie wichtig ihm das Bleiben ist, verdeutlich daher nicht nur der verhärtete Gesichtsausdruck.
Ich schaue zu Yrsa hinüber, die die stumme Bitte schnell deutet. „Vielleicht sollten wir in Anbetracht der Umstände eine Ausnahme von dieser konservativen Regelung zulassen", will sie die alte Hebamme beschwichtigen, die allerdings nur missmutig darüber schnauft und ihr einen ebensolchen Blick zuwirft. „Eine Ausnahme ... wo kämen wir denn dahin!? Männer stören nur in der Geburtsstube." Hart klingt sie, aber ermutigt von Yrsas Eingriff, treten auch andere hervor und widersprechen ihr. Sogar Oin erhebt das wohlwollende Wort.
Währenddessen ging ich zu Dís hinüber, die schwer atmend in den Armen ihres Mannes liegt. Sie benötigt ihre Kräfte für die bevorstehende Geburt, aber ich sehe ihr an, wie auch sie ein Machtwort sprechen möchte. Überdrüssig ist sie der Diskussion. Ich tupfe ihr mit einem mit kaltem Wasser benetzten Tuch die ersten Schweißtropfen von der Stirn. Das Kind ist vermutlich klein, jedoch nicht weniger schmerzhaft und langwierig die Eröffnungswehen. Eine von diesen überrollt sie gerade, als sie das Wort erheben möchte.
„Am Ende sollte doch die werdende Mutter über ihr Wohl entscheiden und ich glaube, ich spreche für die Prinzessin, dass sie äußerst glücklich darüber sein würde, wenn ihr Gemahl hierbliebe." Dís nickt lediglich, denn die Wehe untersagt ihr eine Reaktion über dies. Stark scheinen sie bereits zu sein und unaufhaltsam. Eine gewisse Autorität begleite ich innerhalb dieser Räumlichkeiten, selbst wenn ich nur eine Bedienstete des Hauses bin. Die Hebamme weiß natürlich darum und wie nah ich dem König und seiner Familie stehe. Mit aufgebaut habe ich zudem das Spital, in dem sie auch aufgrund meiner Empfehlung arbeitet, denn aus einem Leben vor diesem kenne ich sie bereits, selbst wenn sie sich nicht mehr genau an mich erinnern wird. Mit einem letzten skeptischen Blick auf Vilí gibt sie schließlich nach.
Schnell schreitet die Geburt voran. Dís ist dankbar über die Unterstützung ihres Mannes, auch wenn er nicht mehr für sie tun kann, als sie von hinten zu stützen, nachdem sie auf dem Geburtsstuhl Platz nahm. Ich sehe ihm jedoch an, wie sehr ihm der Schmerz, den seine Frau erleidet, selber zusetzt. Auf dem Schlachtfeld bekämpft er Feinde, ohne Mitleid zu empfinden. Heere befehligt er. Trägt Verantwortung und Macht, hat Respekt und Unnahbarkeit inne. Gleichwohl in diesem Moment legte er all dies ab, vergisst gesehene Schrecken und konzentriert sich mit vollem Herzen auf sie und das Kind.
„Ihr könnt jetzt pressen, Hoheit", sagt Yrsa schließlich nach einer Untersuchung. Dís wartet die nächste Wehe ab, holt tief Luft und befolgt die Anweisung. Ein ganzes Stück abwärts rutscht ihr Bauch daraufhin. „Sehr gut", lobt die Hebamme, jedoch scheint sie für einen Augenblick stutzig, was mir Sorgen bereitet. Sie ruft zudem eine Weitere heran und bittet darum, die Tücher bereit zu halten. Ich trete an ihre Seite, denn das ungute Gefühl wird stärker, gleichwohl nichts erkennen kann ich bisher.
Eine erneute Wehe treibt das Köpfchen des Kindes weiter hinaus und braune Haare ganz wie die seines Vaters, scheint es dieses Mal zu haben. Ich freue mich bereits darüber und rätsle, ob es auch seine wunderschönen Augen geerbt hat, als ich endlich sehe, was die Hebammen so beunruhigt.
„Hoheit, Ihr erwartet einen shumru'thatûr", informiert Yrsa mit zitternder Stimme. Keine Zeit hatte das Kind wohl, sich in die richtige Geburtsposition zu drehen, und schaut daher mit dem Gesicht nach oben. Es bewacht dadurch die Sterne und hat später eine außergewöhnliche Beziehung zu ihnen, so sagt man. Glück wie schreckliches Unglück kann dies verheißen, da viele Zwerge, die die Lichter Vardas anstatt den Stein, aus den Mahal uns erschuf, als erstes Erblicken, unruhig in ihrem Wesen sind, denn beständig zieht es sie hinaus zu gefährlichen Abenteuern. Reichtum, Macht und Ruhm können diese bringen, aber auch allzu frühen Tod.
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shumru'thatûr – Wächter der Sterne
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