Das Feuer in mir, das Feuer in dir

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In den nächsten Tagen geht es mir überraschend gut. Schmerzen und allgemeines Unwohlsein der ersten Zeit halten sich im erträglichen Maß und immer mehr wird mir bewusst, was in meinem Körper geschieht und welch Leistungen er vollbringt. Gleichwohl achtet Thorin sehr auf das Wohlgefühl. Das geringste Anzeichen von Erschöpfung oder Übelbefinden nimmt er als Anlass, Pausen einzuberufen, mir selbst Kleinigkeiten abzunehmen und sogar seine Schwester zu fragen, was für Kräuter, Tinkturen, Umschläge oder weiteres mir helfen könnten. Seine Besorgnis ist herberührend ... aber zu weilen auch leidig.

„Majestät, ich bitte Euch, das ist doch nun wirklich nicht nötig", beschwöre ich ihn mit bettelnder Stimme, als er sogar nach Yrsa schicken möchte, nachdem die Blutung bisherig länger dauert denn nur einige Tage. Aber nicht davon abringen will er sich von mir lassen. Hilfesuchend blicke ich in meiner Verzweiflung zu Dís, die sich sein Schauspiel bisher schweigend mit an sah, gleichwohl ein leichtes Lächeln nicht verhehlen könnend. Sie erhört mich zum Glück.

„Thorin, das ist vollkommen normal am Anfang", beruhigt sie ihm mit Verständnis für die Unruhe verdeutlichender Stimme. Jedoch auch eine sanfte Warnung höre ich heraus. Er sollte sich nicht über gebührendes Maß um das Wohl einer Dienerin bemühen. Schon gar nicht wegen solcherlei, das ihn eigentlich nichts anzugehen brauch. „Die Regelmäßigkeit muss sich erst finden. Bis dahin kann sie kürzer und länger dauern, manche Monate ganz ausbleiben oder im Abstand weniger Wochen auftreten. Du solltest dir und auch Astâ deswegen wirklich nicht so viele Unannehmlichkeit bereiten."

Sie spricht das aus, was ich nur denken darf. Es selber gehört habe ich bislang nicht, sehrwohl aber wurde mir zugetragen, dass einige Höflinge sich über seine Überfürsorglichkeit das Schandmaul zerreißen. Was für ein abträglicher König mag das sein, der sich mehr um das Frauenleiden einer Dienerin kümmert denn um wichtige Staatsgeschäfte. Ihr mögt euch sicherlich denken, von wem diese infamen Lästereien stammen. Unbestreitbar ausnehmend ist sie, jedoch des festen Glaubens bin ich, wäre ich seine Tochter, genauso sorgen würde er sich. Gleichwohl einen Grund zur Berechtigung erhielte sie gewiss durch diesen Aspekt.

Thorins unbelehrbarer Sturkopf denkt jedoch nicht daran, sich von den Argumenten überzeugen zu lassen, dass es mir gemäß den Umständen gut geh, alles ganz natürlich ist und keinerlei Aufhebens darum entfacht werden müsste. Grimm funkelt bedrohlich in seinen Augen, während er seine Schwester anblickt, sie daraufhin nach einem kurzen Niederschlag mit einem etwas weicheren, gleichwohl gebieterischen Ausdruck versieht, um mich zu betrachten. Unwohl wird es mir unter ihnen. Tausende Tausendfüßler scheinen über meine Haut zu krabbeln und ein beengendes Gefühl entsteht in der Brust, sodass es schwerfällt zu atmen.

„Trotz alledem wird sie übermorgen nicht an den Feierlichkeiten zur Eröffnung des ghelekvustmerag* teilnehmen, sollte die Blutung bis dahin nicht aufgehört haben." Es ist der Befehl eines Königs. Ohne Widerstand oder Einspruch muss er ausgeführt werden. Darum weiß Dís und auch wenn sie Prinzessin und seine Schwester ist, so müsste auch sie sich seinem Willen beugen.

Allerdings ihr Sturkopf ist gleichermaßen dick und lässt sich selten von einem einmal gefassten Entschluss abbringen. „Thorin, das ist doch wohl nicht dein Ernst!? Der Sommersonnenwendball ist gerade für eine junge Frau der Höhepunkt des Jahres." Klein stehe ich neben ihr, die sich mit kräftiger Stimme für mich einsetzt. Gefreut habe ich mich tatsächlich auf das bevorstehende Bankett. Anders ist er als die sonstigen höfischen Bälle. Weniger steif. Weniger förmlich. Von Blumen und frischen Farben wird er dominiert und kaum jemand schert sich um die Etikette, denn ein Fest der Fröhlichkeit und Leichtigkeit ist es traditionell. Jeder darf mit jedem tanzen und sprechen, ungeachtet von Rang und Stellung. So manch Verbindung zwischen Mann und Frau die dem, meist adligem Elternhaus einer der beiden, niemals im Sinn liegen würde, wird in dieser Nacht geschlossen. Liebe schert sich nicht um anhaftende Titel.

Doch nicht diesem Umstand wegen sehnte ich den Abend herbei. Trotz der Freiheiten wagt es kaum ein Mann, mich anzusprechen, denn dessen ungeachtet stehe ich als sein Mündel weiter unter dem besonderen Schutz des Königs. Nur wenige finden den Mut, sich seinen beurteilenden Blicken zu stellen, die brennender sein können, als die eines misstrauischen Drachen. Nein, vielmehr genieße ich diese perfekten, kleinen Momente voller Nähe zu einem Bestimmten, die sich nur in dieser Nacht bieten. Jedoch skeptisch bin ich, ob sie sich dieses Jahr überhaupt ergeben, denn berechtigte Befürchtung, dass er es vorziehen wird dem Fest fern zu bleiben, ergreift mich bei dem Gedanken an ihn. Daher als schlimm empfinde ich es nicht, dass mein Herr mir ebenfalls die Anwesenheit verwehren will. Demzufolge lege ich eine beschwichtigende Hand an den Arm der Herrin Dís. Sich nicht noch mehr in Ungnade soll sie sich deswegen bei ihm reden. „Bemüht Euch nicht weiter, Hoheit", bitte ich sie flüsternd. „Ich werde derweil auf Fili Acht geben, damit Ihr Euch keine Sorgen bereiten müsst und das Fest in vollen Zügen genießen könnt."

Dís betrachtet mich skeptisch. Sie weiß um die sehnsuchtsvolle Vorfreude, wenn auch nicht genau warum. Jedoch dem Ersuchen gibt sie schließlich aus Gewogenheit zu mir nach, gleichwohl sich Thorin ihrem verärgerten Blick, da er dies überhaupt erst heraufbeschwor, nicht erwehren kann, und ich vermute, sobald sie alleine sind, wird er noch einiges mehr über sich ergehen lassen müssen.

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Stil ist es im Haus. Unheimlich bald, denn herrscht doch sonst immer regsame Betriebsamkeit in den weitläufigen Gängen und in fast jedem Zimmer. Ein ständiges Kommen und Gehen. Besucher, Bittsteller, Ministeriale, die dringende, unaufschiebbare Angelegenheiten vortragen müssen. Kaum einen Tag wird der Empfangssalon des Königs nicht genutzt. Besprechungen in der Bibliothek sind ebenso alltäglich. Lieferanten, die die üblichen Gebrauchsgüter bringen und von den Dienstboten verräumt werden. Handwerker, die hämmernde Reparaturarbeiten gerade an den von Holzwürmern geplagten Gewölbebalken der Gesindeküche durchführen. Ordinäre Hausarbeiten, deren die Dienstmädchen meist schnatternd nachgehen. Abends kehrt zwar schwerfällig Ruhe ein, jedoch weiterhin bewegen sich die Hausbewohner dort und dahin.

Heute allerdings höre ich vor meiner Tür noch nicht einmal das Schlürfen der verschlafenen Schritte zum Abort oder in die Küche, um nachzusehen, ob etwas vom Abendbrot übrigblieb. Alle feiern sie auf den Festen anlässlich des Tages der Sommersonnenwende. Die königliche Familie auf dem Ball, das Hausgesinde auf den vielerorts stattfindenden innerhalb des Berges. Nur ich blieb zu Hause ... allein.

Nein, nicht ganz allein. Fili ist bei mir. Der kleine Junge schläft jedoch seelenruhig, wie es wahrlich nur ein Kind kann, neben mir, den Stoffhasen, den Thorin ihm aus den Feuerhallen mitbrachte und seitdem sein ständiger Begleiter ist, fest an sich gedrückt, einen der Schlappohren über die Äuglein gelegt. Ich schaue von meinem Buch auf und beobachte ihn einen Moment. Groß ist er geworden mit seinen jetzt schon fast vier Jahren. Längst lässt er die Herzen der Frauen höher schlagen mit den dichten Wimpern, den blonden Locken, die seine Mutter bereits zu zwei kleinen Zöpfen flechten konnte und den strahlend blauen Augen, die geschickt eingesetzt vermögen alles und jeden zu verzaubern. Jedoch anders leuchten sie als die seines Onkels, auch wenn ihnen besonders in Situationen, in denen er seine mittlerweile berüchtigten Trotzausbrüche hervorbringt, ein Schimmer von Eis zu eigen ist. Doch ebenso die seiner Mutter sind es nicht, wenngleich die Kostbarkeit eines Saphirs, der das Sonnenlicht eines klaren Wintertages reflektiert, in ihnen funkelt, sobald er die ungetrübte und ehrliche Freude eines Kindes empfindet. Viel öfters scheinen sie mir wie Kornblumen, die an einem plätschernden Bach erblühen und deren zart-blaue Köpfchen im sanften Wind eines Sommerabends wiegen.

Ob des Vergleichs lächelnd, den sein Onkel wohl als äußerst stillos bezeichnen würde, soll er doch einmal ein starker Krieger werden, ziehe ich die leichte Wolldecke, in die er sich kuschelt, über seine Schulter. Mit einem unverständlichen Murmeln dreht sich der kleine Prinz daraufhin jedoch um und strampelt sie wieder beiseite. Mit einem Seufzer um die vergebene Mühe sehe ich zur Kaminuhr. Auf Mitternacht geht es bereits zu und ebenfalls langsam schlafen sollte ich gehen. Auch wenn ich es nicht gerne zugebe, weiterhin ein wenig unwohl ist mir heute und hätte ich die Erlaubnis erhalten, an dem Ball teilzunehmen, gleichfalls um diese Uhrzeit wäre ich wohl freiwillig gegangen. Jedoch ein Glas Wasser will ich noch holen, denn Fili wird des Nachts öfters wach und verlangt danach.

Die Gänge sind stockdunkel und werden nur unzureichend von dem goldenen Schein der Kerze in meiner Hand erhellt. Zum Glück jede Unebenheit des Steinbodens, an dem sich die nackten Füße stoßen könnten, jede Furche in den Wänden und wie viele Schritte es zur nächsten Abzweigung sind, kenne ich und wohl selbst vollkommen blind wär der Weg dorthin ein Leichtes für mich. Auch die Gesindeküche liegt in Ruhe und Dunkelheit. Nur das beständige Fallen der aus der Pumpe austretenden Tropfen in den Bottich darunter ist auszumachen und ermöglicht ein wenig die Orientierung.

Ich entzünde die Fackeln am Eingang und betrachte mit Schrecken das sich mir daraufhin bietende Chaos. Wenig Lust hatten die Handwerker wohl in ihrer heutigen Feierlaune, um nach getaner Arbeit noch aufzuräumen. Überall liegt Werkzeug herum. Grobe Holzspäne und feiner Sägestaub übersähen den Fußboden und, oh weh, auf Fennas heiligem Herd wurden Splinte und übriggebliebene Balkenverschnitte zwischengelagert. Ich höre das morgen früh tobende Donnerwetter bereits bedrohlich nähergrollen und nehme mir vor, mich möglichst weit entfernt davon aufzuhalten.

Gleichwohl um größeren Schaden von den anscheinend ihren Tod herbeisehnenden Handwerkern abzuwenden, müssen sie doch ihre Arbeit noch fertig stellen und dies geht wahrlich schwer unter den Schmerzen von kochlöffelförmigen blauen Flecken, versuche ich ein wenig Ordnung zu schaffen. Schnell wurde das Gröbste zusammengeräumt, aufgefegt und beiseitegeschafft. Jedoch Durst plagt mich nun und Hände und Gesicht sind verschwitzt und dreckig.

Das Wasser im Bottich rinnt kühl über die Haut und die staubkratzige Kehle entlang. Es schmeckt nach dem Stein, den es auf seinem Weg vom klaren Bergsee oberhalb der Hallen bis hierher tropfenweise durchfloss. Einen Moment lang, begierig auf die nährenden Stoffe, die es dabei in sich aufnahm, lasse ich die feuchten Finger an den Lippen verweilen und schließe die Augen. Sein Anblick kommt mir währenddessen in den Sinn. Unzählige Diamantensplitter funkelten auf der sonnenbeschienenen Wasseroberfläche, die vom Wind völlig unberührt so makellos glatt lag wie polierter Aquamarin. Dwalin führte mich im letzten Sommer an sein Ufer. Lange musste ich ihn darum anbetteln, denn nicht ungefährlich ist der Aufstieg. Weder geebneter Pfad noch gehauene Treppe führen dorthin, nur ein schmaler Steig, der sich an bodenlosen Klüften entlang windet. Jedoch der Ausblick entlohnte die Anstrengungen. Bis auf seinen tiefen Grund konnte ich durch das Wasser blicken.

Eigenartige Wesen schwammen dort unten, Fischen gleich, aber dennoch anders in ihrem Verhalten. Inne hielten sie, nachdem sie mich erblickten. Sich wunderten oder vielleicht auch bangten über mein Erscheinen. Wie Perlen funkelten ihre hervorstehenden Augen. Von kleinen weißen Muscheln waren ihre schlanken Körper überzogen und die dagegen kräftigen Schwanzflossen schimmerten in allen Farben des Regenbogens. Sie schützen das Wasser vor Übel und Verunreinigung, so erklärte mir Dwalin. Trotz ihrer geringen Größe beschwören sie wirkungsreiche Kräfte allein aus der Macht, die Ulmo ihnen einst gab und die sie noch immer mit ihm verbinden. Eine wunderschöne Stimme besitzen sie und manchmal an klaren Tagen, in denen sogar die Gipfel der Berge von weiter Ferne aus gut zu sehen sind und wenn der Wind günstig steht, kann man ihre Lieder hören, die die Gesänge der Ainur in sich tragen sollen. Was würde ich geben, um ihnen einmal nur zu lauschen.

„Was treibst du dich denn hier herum?" Eine andere Stimme, tief und fest und manchmal knurrig, jedoch nicht jetzt, scheucht mich allerdings an ihrer Statt aus der Träumerei. Erschrocken blicke ich zur Eingangstür. Gut zu erkennen im Schein der Facklen ist seine Gestalt. Die Uniform eines angesehenen Generals trägt er noch. Tiefrot ist sie. Mehr schwarz, als rot, verziert mit Silberfäden, aus denen Raben und Runen und kleine Schnörkel mit viel Geduld und Sorgfalt und spitzer Nadel gestaltet wurden. Erst vor kurzem muss sein Diensttag zu Ende gegangen sein, obwohl er wohl eine der wenigen war, der ihn heute verrichtete. Auf eine Erwiderung scheint er zu warten, oder verweilt er aus einem anderen Grund auf der Schwelle, den Blick nur flüchtig von mir nehmend, um das, wenn auch so gut es eben allein gelang, beseitigte Chaos, zu betrachten. Genauso er wird für morgen früh planen, dem Donnerwetter lieber so weit wie möglich fern zu bleiben.

„Ich wollte nur ein Glas Wasser holen ... für Fili", stammle ich sie endlich. Dwalin lächelt daraufhin. „Fili darf neuerdings also auch auf Feste gehen." Kurz stutze ich über diese Bemerkung, verstehe sie dann aber. Ich schüttle den Kopf, während er schließlich doch näher kommt. Stolz repräsentiert sein Gang. Stärke. Selbstvertrauen. All das, was ich an ihm bewundere, konzentriert in wenigen Schritten. Letztendlich direkt vor mir bleibt er stehen. Sein Blick vertraut und gleichwohl ... etwas Fremdes findet sich unerwartet darin. Und dann wird der unerschrockene Krieger plötzlich von Kleinmut befallen.

„Ich dachte, du bist auch auf dem Ball, deshalb verzeih bitte, sollte ich dich durch mein unbedachtes Auftauchen erschreckt haben." Wie es scheint, hielt niemand es für nötig ihn darüber zu unterrichten, was mein Herr mir verweigerte, selbst sein Bruder nicht, obwohl er wie viele andere darum wusste. „Thorin hat es mir die Teilnahme untersagt, da ich die letzten Tage noch etwas schwach war und er sich deshalb sorgte, dass die Aufregung des Abends nicht gut für mich ist."

Dwalin senkt seinen Blick zur Seite. Er scheint zu überlegen, was er darauf erwidern soll. Ob er nach den Gründen fragen, oder sie besser unausgesprochen lassen soll. „Du bist noch immer ... unpässlich?" Für die Aussprache entscheidet er sich letztendlich und es ist gut so, auch, wenn ich merke und verstehe, wie unangenehm ihn diese ist. Kein Umstand ist es, den man mit einer Schutzbefohlenen, vor allem nicht in Zwiesprache, unterreden sollte. Doch mehr bin ich für ihn und er weit mehr als nur ein Hüter für mich.

Ich nicke daher zur Antwort. „Jedoch sehr viel besser als noch vor einigen Tagen geht es mir." Er schiebt mit der Fußspitze einen liegengelassenen Splint zur Seite. Verlegenheit steht ihm ein klein wenig, stelle ich leicht schmunzelnd fest. „Das ... das ist schön", stammelt er. „Ich habe mir nämlich auch Sorgen bereitet, als du ... aber Dís hat danach mit mir gesprochen und es mir erklärt."

Ich stelle mir bildlich vor, wie die Prinzessin den großen Krieger einweiht, was im Körper einer jungen Frau vorgeht und noch etwas intensiver wird das Schmunzeln. Behutsam lege ich eine Hand an seine Wange. Weich ist das Barthaar, auch wenn es allzeit struppig erscheint. Er schaut auf und weiterhin dieses Fremde in seinen Augen strahlt mich an. Jedoch unangenehm ist es mir nicht, gleichwohl es gefährlich, unberechenbar wirkt.

„Ich bin immer noch die gleiche", flüstere ich sanft, hoffend darauf, dass sich nach wie vor nichts zwischen uns drängt, schon gar nicht solch eine triviale Sache. Jedoch er schüttelt seinen Kopf. „Nein", presst er durch bebende Lippen. „Die bist nun endgültig nicht mehr das kleine Mädchen, dass ich einst zitternd vor Angst hierher brachte. Du bist zu einer verlässlichen, starken, selbstbewussten Frau herangereift und nun erzitterte ich vor Angst, ob dem, was dies für uns bedeutet."

Ich verstehe ihn. Anders ist unser Verhältnis zueinander als das, was ich mit Thorin teile. Mehr Freund ist er mir, denn Befehlshaber. Mehr Vertrauter, denn Beschützer. Ich bin ihm zur Ergebenheit verpflichtet, jedoch bislang selten fordert er diese ein. Er würde mich nicht fragen, ob ich ihm weiterhin dienen will, da unsere Beziehung nicht darauf beruht. Gleichwohl stellt er es mir frei, zu entscheiden, ob sie fortan genau so bleiben soll, wie bisher.

Die Auskunft jedoch möchte ich ihn nicht in schnöden Worten schenken. Keine dieser Welt, in welcher Sprache sie auch gesprochen werden, selbst mit ausschweifender lyrischer Schönheit geschmückt, wäre dazu in der Lage, fürchte ich. Daher langsam nähere ich mich ihm und verschließe ohne zu zögern seinen Mund mit dem meinen.

Ein unschuldiger Kuss ist es. Ein Weiterer der vielen, die wir während der zurückliegenden Sommersonnenwendnächte tauschten. Ein Ritual ist es für uns geworden, ein Ausdruck der inneren Verbundenheit zueinander, der Beteuerung auf Größeres, dem Versprechen nach Schutz und Zusammenhalt und noch so vielen mehr, das wir uns gaben und im Laufe des Jahres auf so vielfältige Weise zeigen, jedoch niemals körperlich. Einst begonnen während einer lauen Nacht, an einem Ort weit entfernt von hier, behütet von der Verborgenheit, die uns die Dunkelheit schenkte.

Der Kuss schmeckt daher vertraut, wenn er auch dieses Mal nicht dominiert wird von der Süße des getrunkenen Weines, sondern die leicht salzige Note eines harten Arbeitstages in sich birgt. Gleichwohl noch etwas anderes nehme ich schließlich in ihm wahr, etwas, das stärker wird, umso länger der Moment dauert. Es ist dieses Fremde, das in seinen Augen schimmerte. Warm ist es. Ungewohnt in vielerlei Hinsicht, aber gleichermaßen schön, angenehm sogar. So willkommen, dass ich mich ihrer nicht entziehen möchte. Es kribbelt auf den Lippen, trägt den Geschmack einer bisher ungekosteten Leckerei ... und breitet sich plötzlich von dort aus. Es krabbelt den Hals entlang, die Arme hinab, erfüllt meine Brust, prickelt im Bauch und lässt den Unterleib in einer feurigen Hitze entflammen. Unbekannt ist diese. Erschreckend intensiv, aber in ihrer Wirkung genauso angenehm wie der Kuss.

Und ohne das ich es kontrollieren noch verhindern kann, entkommt meinem Mund ein Geräusch, dass ich bislang niemals von mir hörte, gleichwohl es im Baraz Anâm so allgegenwärtig war, dass mir unmittelbar gewahr wird, was es ausdrückt. Gedämpft wird es zwar von Dwalins Lippen, die weiterhin auf den meinen ruhen, jedoch auch er wird es unzweifelhaft gehört und viel mehr noch das entstandene Zittern gespürt haben. Sicher werde ich mir dessen, als er unvermittelt seine Arme, um mich schließ, mich bannt durch die kompakte Stärke seiner Muskeln, und den Kuss vertieft.

Leidenschaft trägt er auf einmal in sich. Unkontrollierbar ist sie. Angst einflößend. Aber dennoch ... schön. Entziehen kann und will ich mich ihrer nicht, auch wenn sie falsch ist. Oh so falsch und oh so verwerflich. In diesem Moment, in diesem Jahr und auch noch viele Jahre lang. Gleichwohl lasse es zu, dass sie immer mehr Macht über ihn und mich erlangt.

Die Gefühle in Brust, Bauch und Unterleib nehmen zu. Dwalins Körper dicht an den meinen gepresst. Ich spüre ihn. Jeden hastigen Atemzug. Jedes fieberhafte Schlagen des Herzens. Jedes angespannte Zucken der Muskeln. Zögernd jedoch öffnet er seinen Mund, lässt die Spitze der Zunge über meine Lippen gleiten. Nicht drängend. Nicht forsch. Gleichwohl mit der Aufforderung durchdrungen, es ihm gleichzutun. Ich komme ihrer nach. Ohne darüber nachzudenken. Ohne Zaudern. Ohne Verlegenheit. Vorsichtig, ängstlich gar, dringt er in mich. Nicht tief. Kaum eine Berührung will er provozieren. Nur erkunden. Nur schmecken. Den Stein, der Mahal für mich wählte erkennen. Dennoch ein Gefühl wie keines zuvor, durchzuckt mich wie Feuergarben und entfacht die Hitze zu einem Flächenbrand.

Er löst den Kuss schließlich, legt die Lippen an meinen Hals, lässt sie dort entlanggleiten. Tiefer. Immer tiefer. Einen Moment verweilend an der Vertiefung oberhalb des Schlüsselbeins. Weiterhin verweigere ich mich ihm nicht, obwohl ich es sollte. Jedoch mein Kopf ist leer, Anstandsgefühl und Schicklichkeit vollkommen eingenommen und betäubt von der aufflammenden Leidenschaft, genauso wie der Körper.

Erneut stöhne ich auf, lang und tief und oh so schamlos wollüstig, als seine Lippen die Rundungen der Brüste erreichen, die knapp von dem leicht fallenden Stoff des Unterkleides bedeckt werden. Sanft streichen sie über die Haut, hinterlassen jedoch gleichwohl eine glühende Spur, die sich kaum durch die so viel kühlere Nachtluft besänftigen lässt. Flammen. Auf mir, in mir. Meine Hand verlässt seine Wange, bettet sich in seinen Nacken, dort, wo er Berührungen niemals dulden würde, bestünde nicht dieses Vertrauen, dass er mir bedenkenlos schenkt.

Jedoch jählings meldet sich die Beherrschung des Kriegers in ihm und er wird sich wohl bewusst, was er ... was wir, gerade für eine gefahrenträchtige Situation erschaffen. Er löst sich von mir, lockert die Umarmung und tritt einen Schritt zurück, wird sich ihrer so wieder habhaft, gleichwohl das Glühen der Leidenschaft weiterhin zwischen uns flimmert wie Sommerhitze über Stein.

Wir schauen uns mit weit aufgerissenen Augen an, nicht begreifen könnend, nicht fähig zu realisieren, was eben geschah. Der Atem flach und schnell. Es war falsch, obwohl es sich richtig anfühlte. Verwerflich, obwohl uns niemand dafür zur Rechenschaft ziehen wird. Unsittlich, obwohl er die Begierde zueinander frühzeitig unterband, noch bevor sie Entehrendes bewirkte.

Ich will etwas sagen, hohle Luft, finde keine Worte, und entlasse sie ungenutzt wieder. Jedoch er ist Fähiger darin als ich. „Verzeih mir", bittet er mit von Schreck und Schmerz gequälter Stimme flüsternd. Dass es nichts zu vergeben gibt, möchte ich ihm verdeutlichen. Dass ich an dieser Situation genauso Schuld trage wie er. Ich hätte es unterbinden können, jederzeit, und er hätte es respektiert. Zu ließ ich seine Annäherung stattdessen, genoss sie sogar, gab mich ihr hin und ohne sein zu Sinnen kommen, wäre vermutlich etwas geschehen, das uns beide in arge Schwierigkeiten bringen würde.

Daher, anhaltend nicht fähig angemessene Worte zu finden, die meine Dankbarkeit verdeutlichen und ihn von aller Schuld freisprechen, lege ich die Hand auf seine Brust, dort, wo das Herz noch immer aufgewühlt von Leidenschaft heftig gegen die Fingerspitzen pocht. Eine zaghafte, geradezu unverdorbene Berührung ist es, betrachte man das eben geschehene.

„Bald", flüstere ich schließlich. Kaum hörbar, selbst das Tropf, Tropf des Wassers lauter, jedoch energischer mit den Lippen geformt, die nach wie vor seinen Geschmack tragen, wie kein anderes Versprechen, das ich jemals gab.

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*ghelekvustmerag – Sommerfest, beginnt am Sommersonnenwendabend, dem 3. Tag des neunten Zwergenmonats âfghelekvust und endet erst an dessen 23. Tag.

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