Bar'ul
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„Ich muss ehrlich gestehen, Majestät, wir wissen nicht mehr weiter." Niemals zuvor, habe ich Meister Skirr so verzweifelt gesehen. Belastet von den Ereignissen ist seine sonst so stattliche Haltung nun die eines greisen Zwerges. Bart und Haare wurden stumpf. Die Augen umrandet von Schatten. Kaum Schlaf fand er sichtlich in den letzten Tagen wenn nicht sogar Wochen, seitdem die Eisenkrise wie ein tödliches Tier unaufhaltsam seine grausamen Krallen nach der armen Bevölkerung ausstreckt. Wenngleich die Preise für Brot, Fleisch, Kartoffeln und anderen Lebensmitteln gering sind, da die Ernten ertragreich waren und sind, so können sie sich diese dennoch nicht leisten. Der Hunger unter den davor schon oft an ihn leidenden Familien ist groß. Kinder und Ältere sterben bereits, denn kaum etwas haben sie ihm entgegenzusetzen.
Thorin weiß darum, daher auch seine Schultern sinken, nachdem er die neusten Meldungen des Meisters des Berges hörte. Stumm steht er vor dem Kamin des Salons, in dem er ihn zum Bericht empfing, und starrt mit leeren Augen in sein Feuer. „Wir finden kein Eisenerz ohne geeignetes Werkzeug und kaum Zukunftsweisendes brachten die Forschungen an Alternativen bislang hervor. Das wenige, was Lord Dáin mitbrachte, wurde schnell verbraucht und eine neue Lieferung aus seinen Hallen erreicht und erst in drei Wochen. Bis dahin jedoch, können die Arbeiter nicht bezahlt werden."
„Genug davon", brummt der König schließlich. Er kann das Elend, unter dem sein Volk leidet, nicht ertragen. „Weist Gloin an, Esswaren mit Mitteln aus der Staatskasse zu erstehen und sie an die Notleidenden zu verteilen. Lasst dies allerdings streng überwachen, nicht, dass sich Schmarotzer beimengen. Zwei Leib Brot, je Person 500 Gramm Fleisch und ein Sack Kartoffeln einmal die Woche ab nun bis ich die Anweisung aufhebe für jede Familie, die nachweisen kann, unter der Krise zu leiden." Eine großzügige Unterstützung. Viele Leben wird sie retten. Jedoch auf Dauer kann dies nicht die Lösung bleiben.
Skirr und Balin nehmen die Anweisung entgegen und werden von Thorin entlassen. Ein wenig milder von Sorge ist das Zufallen der Tür hinter ihnen. Bloß für wie lange? Ich verweile daher wehmütig an der Seite meines Königs, der sich weiterhin nicht vom Feuer abwendet. Sein Schweigen ist erdrückend. Der Blick düster und kalt. Die Haut fahl im Feuerschein. Wie gerne würde ich ihm helfen.
„Hast du noch einen Einfall?", flüstert er plötzlich und allein, da niemand sonst im Zimmer verweilt, bin ich einsichtig, dass er die Frage an mich richtete. Trotz der Ehre verneinen muss ich. Zu wenig ist mir über das Geschick des Bergbaus bekannt, jedoch anerkenne ich die eben beschlossene Zuteilung.
Thorin seufzt tief und wendet sich vom knisternden Feuer ab. Fallender Schatten verdüstert sein Antlitz, als er sich auf die raschelnden Damastpolster des Sessels niederlässt. „Ihr solltet nicht verzagen, Majestät. Es wird sich bestimmt bald eine Lösung finden." Minder ist mein Trost, das ist mir bewusst. Schwerfällig streicht er sich mit der Hand über die müden Augen. So manches Schicksal musste er bislang erleben, manch schwere Entscheidung als König treffen, gleichwohl wird die Verantwortung niemals leichter zu (er)tragen.
„Du hast dich mit Disa angefreundet?", wechselt er letztendlich zu unser aller Wohl das Thema. Ich nicke. „Sie ist eine sehr herzliche und einfühlende Persönlichkeit und uns verbindet das gleiche Alter sowie einige Interessen." Thorin wendet sich mir zu. Anders ist sein Blick nun. Die gewohnte Wärme, gleichwohl sie noch nicht die Wohligkeit erlangte, mit der er mich sonst bedacht, kehre verhalten zurück. „Sei nur vorsichtig, wem du dein Vertrauen schenkst", ermahnt er und ich vermute, welcher Grund ihn dazu treibt. Mit gesenktem Blick nehme ich die Erinnerung an mein Versprechen an.
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Der uralte Staub krabbelt mir in die Nase und riecht dennoch wundervoll, als ich das dickste aller Bücher in der Halle der Weisheit aufschlage. Schwer ist sein lederner Einschlag mit dem eingeprägten Emblem Durins. Dagegen seidendünn und eng beschrieben die Seiten. Rau fühlen sie sich an und mit allergrößter Vorsicht blättere ich sie um. Nur ungern zeigte mir der anwesende Verwalter, ein grauhaariger Zwerg mit Namen Asgrim, den Weg zu ihm, denn mit keinem Wert der diesseitigen Welt kann es und sein Inhalt bemessen werden. Jedoch als ich sagte, wer ich bin und wessen Auftrag mich in die Bibliothek, in der alles Wissen was über Zeitalter voller Krieg, Vertreibung und Heimatlosigkeit gerettet werden konnte, kommen ließ, zögerte er nicht länger.
Kunstvolle und detailreiche Kupferstiche von Handwerkern, Marktfrauen, Bergarbeitern und Adligen fallen mir auf. Zeichnungen von Hallen, so gewaltig und schön wie der Himmel bei Nacht. Alt sind die Runen, die die Seiten und flatternden losen Blätter füllen, zu Zeiten geschrieben, in denen unser Volk jung und dennoch machtvoll war. Wenige von ihnen kann ich lesen. Jedoch euch Texte in den Ausprägungen des Cirth, die mir bekannt sind und sogar in elbischen Tengwar, lassen sich finden. Generationen arbeiteten voller Sorgfalt und Hingabe an diesem Buch. Das es aus den Hallen des Erebors gerettet werden konnte und nicht in den Flammen des Drachen verbrannte oder noch in ihnen verschüttet liegt unter Staub und Schutt, verdankt unser Volk einem mutigen Gelehrten, der es entschlossen mit sich nahm, bevor er fliehen konnte.
Einige Zeit lese ich allerhand über die Förderung von Grundwasser aus großen Abgründen, der Fertigung von stabilen Säulen und das Anlegen von unterirdischen Gärten und wie viel Sonne welches Gewächs benötigt, um auch in bergesschattiger Tiefe zu gedeihen. Irgendwo muss jedoch das geschrieben stehen, was ich suche. Unsere Vorfahren gestalteten einst Hallen, die so großmächtige Ausmaße annahmen, dass zu Fuß ein ganzer Tag und mehr vonnöten war, um sie zu durchqueren, und das nur innerhalb weniger Jahre. Nicht mit Meißel und Hammer und alleiniger Muskelkraft wäre dies zu bewältigen gewesen, sondern irgendein Geschick muss ihnen dabei geholfen haben. Dieser Gedanke kam mir in der letzten schlaflosen Nacht, als ich angestrengt darüber sinnierte, wie Stein nur ganz ohne Werkzeug gebrochen werden könnte.
Eine weitere Seite blättere ich um. Das nachfolgende Kapitel handelt über die Geschichte Khazad Dûm, dem Reich der Reiche unter dem Nebelgebirge. Vor langer Zeit verloren ging es an einen Schrecken aus Feuer und Rauch. Ein Dämon, erweckt von ... bar'ul, wie mir die Schrift verrät. Unbekannt ist mir dieses Wort. Das Sprengen von Stein beinhaltet es, jedoch nicht durch natürliche Kraft. Ich notiere es mir, suche in einem weiteren Buch eine ältere Schreibweise. Als ‚großer Knall' wird es dort beschrieben.
Ich bitte Asgrim zu mir, frage ihn nach Schriften, die eines der Wörter enthalten. Er überlegt angestrengt, den tintenblauen Zeigefinger auf die schmalen Lippen gelegt. Wenn jemand etwas darüber weiß und wo es zu finden ist, dann er.
„Es gibt eine Abhandlung des Philosophen Jaskier, der diesem Begriff ein ganzes Kapitel widmete, ich habe es mir aber nie angelesen, denn er schmückte seine Texte nicht selten mit blumigen Wörtern aus. Er war nämlich auch Poet und Barde, wisst Ihr. Außerdem sagte man ihm nach, dass er Geliebter der Königin Disa von Khazad Dûm war, obwohl ich das nicht glaube, denn sie war eine ehrenhafte Frau."
Ich unterbreche seinen Redefluss mit höflich dennoch bestimmt gehobener Hand. „Das ist wirklich sehr interessant, aber bei aller Freude Euch zuzuhören, wäre es mir mehr geholfen, wenn Ihr mir die Abhandlung holen könntet, verehrter Meister des Wortes. Gerne könnt Ihr mir, nachdem ich gefunden habe, was ich suchte, Weiteres erzählen." Er hebt seinen Blick stolz ein wenig höher und zieht die Bitte ausführend davon. Kaum ein Buch in diesen Hallen wird es geben, dass er nicht zumindest kennt. Sein Wissen über alle Bereiche des Lebens hinweg so enorm, dass es ein unstillbarer Drang sein wird, dieses zu verbreiten. In einer anderen Situation würde ich ihm gerne lauschen ... aber nicht jetzt.
Wenig später bereits, erscheint er mit einem für sein vermutliches Alter auffallend kaum abgegriffenes Buch. Der türkisblaue Ledereinband ist kunstvoll mit goldgefüllten Prägungen von Efeuranken verziert. Ich bedanke mich höflich, während ich es entgegen nehme und ehrfurchtsvoll aufschlage, jedoch Ernüchterung überkommt das Gemüt zugleich. „Angerthas Moria", seufze ich verzweifelnd. Es gibt nurmehr wenige, die diese alte Runenschrift zu entziffern vermögen. Eine der ersten war es und nur unter den Zwergen Khazad Dûms verbreitet. Das Wissen um ihre Bedeutung ging vor langer Zeit verloren, obwohl das Schriftsystem des Erebors von ihm abgeleitet wurde.
„Das ist kein Problem", sagt jedoch der Verwalter und nimmt mir das Buch wieder ab. Sorgsam, mit Fingern, die es gewohnt sind zerbrechliche Kostbarkeiten zu berühren, blättert er die Seiten um, hält kurz inne, liest, und sucht dann weiter. Gespannt beobachte ich ihn. „Hier ist es", verkündet er schließlich stolz und zeigt auf die Überschrift eines Kapitels. Aufgeregt setzte ich mich neben ihn.
„Jaskier führt hier, in seinen Hehlworten natürlich, aus, wie eine neue Halle der Schöngeistigkeit geschaffen wurde, und lobpreist ihre Herrlichkeit und die Arbeiter, die dies mit dem, was Ihr als ‚großen Knall' bezeichnete, vollbracht haben." Ich folge seinem Finger, der die Runen entlang gleitet. „Steht auch etwas davon, was dies genau ist und vor allem, mit welchen Mitteln er hervorgerufen wird?" Asgrims Augen verengen sich, während er konzentriert weiter liest. Die Seite blättert er um, dann noch eine und immer mehr schwindet meine Hoffnung auf den gesuchten Inhalt. Aber plötzlich, zeigt er auf einen längeren Absatz. „Hier steht es", ruft er freudig aus. „Man nehme dreiviertel Salpeter und gebe zu gleichen Teilen Schwefel und Pulverholz oder Potasche hinzu, zermahle dies zu einem feinen Pulver und forme es mit Wasser zu Kügelchen. Leitet man nun eine Flamme an eine große Menge des Gemischs, vermag es Stein zum Zerbersten zu bringen, dessen Abbau mit Hammer und Meißel Wochen benötigen würde. Ein Hoch auf den Einfallsreichtum unserer Gelehrten und Mahals Güte, dass er uns diese Mittel gab, um seine Schöpfung nach den Gedanken seiner Kinder zu formen."
Ich lasse mich im Stuhl zurücksinken. So etwas Banales könnte unsere Rettung sein, das wird mir in diesem Moment bewusst. „Das ist unglaublich", bemerkt Asgrim, „dieses Wissen schlummerte seit dem ersten Zeitalter in diesen einfachen Zeilen, bisher unentdeckt, denn es wurde in Generationen vergessen, obwohl sein Verweilen doch so nah lag." Nicht mehr als zu einem leichten Nicken der Zustimmung bin ich imstande. Ein Wunder ist es, das wir ihn fanden. „Ich werde Euch den Absatz in Cirth niederschreiben, damit Ihr ihn an Ihre Majestät übergeben könnt."
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„Das ist unglaublich!" Thorin hält den mit gewandt geschwungenen Runen beschriebenen Zettel in seinen Händen, liest ihn immer und immer wieder. „Das ist unglaublich!" Ich senke den Blick, um das aufkommende Lächeln ob der geradezu goldigen Reaktion zu verbergen. Selten sieht man ihn so erstaunt über eine eigentlich kleine Sache, die jedoch gewaltige Auswirkungen haben wird.
„Du hast das in einem Buch gefunden?" Ich nicke. „Gleichwohl nicht alleinig. Der Verwalter der Hallen der Weisheit, Asgrim, erinnerte sich an diesen Absatz und fand diesen Text, der in alten Runen geschrieben wurde. Ohne ihn hätte ich Euch dies nicht bringen können." Es ist mir ein Leichtes seinen Namen bei Ihrer Majestät hochleben zu lassen. Die Ehre soll nicht mir allein gebühren.
Thorin lehnt sich in dem Sessel vor dem Kamin zurück. Erneut liest er die Zeilen. Freude huscht über sein Gesicht. Erleichterung allemal. Als ich ihm am späten Abend nach meiner Rückkehr in seinen Gemächern aufsuchte, war er zunächst erzürnt ob der zwar von ihm genehmigten aber langen Abwesenheit, die mich sogar das Abendbrot verpassen lies. Jedoch die Rechtfertigung dafür, die ich ihm überreichen konnte, stimmte ihn schnell milde.
„Allerdings warnte der Autor auch vor dem Gebrauch. Genügend Abstand sollte eingehalten werden und nur für weit von bewohnten Gebieten entfernte Stollen ist es zu empfehlen. Die Sprengkraft scheint gewaltig zu sein. Vielleicht erst eine kleine Menge herzustellen empfiehlt es sich, um deren Wirkung zu testen." Seine Euphorie und einhergehendes allzu leichtfertiges Handeln will ich eindämmen. Thorin überlegt. „Du wirst wohl Recht haben. Lass uns morgen daher mit Meister Skirr und den anderen Ratsmitgliedern beraten, wie wir weiter vorgehen wollen."
Verhört haben muss ich mich wohl, denn noch nie zog er meine Wenigkeit unverhohlen in Gespräche über solch Wichtiges mit ein. „Ich werde Euch alles, was ich herausfand, niederschreiben, so dass eine schnelle Einhelligkeit erzielt werden kann", sichere ich daher dienstbeflissen zu. Thorin schaut jedoch mit verwundert großen Augen auf. „Du kannst deine Ausführungen morgen selbst vorbringen, meine Liebe. Die Herren werden den Erkenntnissen aus dem verführerischen Mund meiner findigen Dienerin genauso Begeisterung schenken wie aus den meinen feudalen, dessen bin ich mir sicher."
Schmeicheleien von ihm gesprochen sind mir immer willkommen, das weiß er nur zu gut und setzt sie daher bisweilen gezielt ein. Manchmal jedoch kommt es mir so vor, als wolle er damit anderes erreichen, als bloß das Wertgefühl zu steigern. Seit einigen Jahren bereits beziehen sie sich auch auf körperliche Aspekte. Aussehen, Auftreten, Attribute der Weiblichkeit, die mittlerweile vollständig ausreiften. Ich bin wahrlich kein Mädchen mehr, stattdessen eine Frau kurz vor der Mündigkeit stehend. Gefährlich sind seine Worte daher. Unbedacht ausgesprochen, vielleicht sogar in Gesellschaft, könnten uns beide in Verruf bringen. Kein Mann wie jeder anderer ist er, sondern der König. Und ich seine Dienerin.
„Bleibst du heute Nacht bei mir?" Nicht zum ersten Mal nach der gemeinsam in Trauer verbrachten nach Vilís Tod richtet er diese Frage an mich, obgleich es selten ist. Manchmal verneine ich sie, oft jedoch stimme ich dem Angebot zu. Nicht abstreiten lässt sich, wie geborgen und behütet ich mich des Nachts in seiner Nähe fühle. Alpträume quälen uns gleichermaßen weniger während ihrer. Tiefer und ungestörter ist der Schlaf. Manches Mal sogar, wenn sich die Gelegenheit bietet und ich mir sicher bin, das nur ein Orkangriff ihn wecken könnte, erlaube ich mir, ihn in diesem zu beobachten, und ein Gefühl ergreift währenddessen mein Herz, das unbeschreiblich ist. Gleichwohl niemand darf jemals darüber Wissen erlangen. Noch schrecklicher wären die Folgen als bei einem unbedacht schmeichelten Wort.
Ich sehe daher Gefahr und Verlangen abwägend in die Flammen des Kaminfeuers. Er gestattet mir die Überlegung. Drängt niemals zu einer Antwort und akzeptiert sie bislang, ohne jemals nachzufragen. Heute jedoch war ein langer Tag und uns beiden gut würde eine Nacht in Ruhe tun. Daher stimme ich zu. Mahal soll mir verzeihen, dass ich die Nähe des Königs zum Eigenzweck suche, obwohl mir bewusst ist, welch Wirkung - explosiver noch, als die Kraft des wiederentdeckten Mittels - dies hervorrufen könnte.
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Bar'ul – Sprengstoff
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