Abenddämmerung

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„Astâ bitte, wir reiten die Pferde noch zu Grunde, wenn wir keine Rast einlegen." Die Hälfte des Weges bewältigten wir bereits, als die Sonne ihren Zenit erreicht. Schnell waren unsere Pferde, aber Dwalins Stute benötigt dringend eine Pause, wie ich an dem vielen teils getrockneten Schaum um ihr Maul und den zeitweiligen Stolpern erkennen kann. Khajmel hingegen erschöpfte selbst das lange galoppieren bisher nicht. Ruhig gehen Atem und Herzschlag unter mir. Aus einer alten Zuchtlinie zwergischer Ponys entstammt er, die sich einst mit elbischen Einflüssen vermischten. Ausdauernder ist er daher.

Wir rasten am Ufer eines schmalen Baches der an den Ausläufern des Evendim-Gebirges plätschert unter den tiefhängenden, goldblättrigen Rutenästen einer Trauerweide. Begierig trinken die Tiere das kühle Wasser, während wir eine kleine Mahlzeit zu uns nehmen. Unruhig jedoch schweifen die Blicke immer wieder Richtung Osten. Die Stadt Annúminas liegt eingebettet zwischen südlichen und westlichen Hängen des Gebirges an den Ufern des Abendrotsees. Ein mysteriöses Gebiet, denn lange bevor die Menschen hier siedelten, bewohnten Elben die Lande und hinterließen allüberall ihre magischen Spuren. Eigenartige Pflanzen wachsen dort noch immer. Heilkräfte besitzen sie, die wissend angewendet, selbst die tödlichsten Krankheiten kurieren können. Die Bäume sind alt und knorrig, flüstern untereinander mit grotesk klingenden Stimmen, können sich sogar bewegen, wenn ihnen böses angetan wird. Aus den Wassern des Sees, so berichten Sagen, soll allabendlich die Dämmerung entspringen, die sich über Mittelerde legt.

„Wir müssen weiter", dränge ich zum Aufbruch, nachdem sich die Pferde sichtbar erholten. Dwalin stimmt nickend zu und erhebt sich erdenschwer. Auch mir fällt das Aufsitzen nicht leicht, denn der Rücken schmerzt bereits und die Schulter fühlt sich ein wenig taub an. Jedoch keine Gründe, um unnütz länger zu verweilen.

Der Ritt durch die dichten Wälder ist mühsam. Kaum erkennbar ist ein Weg, aber durch die Truppen umgeknickte Sträucher, zur Seite geschobene Blätterhaufen, abgebrochen Äste und Rastplätze leiten uns durch das überall gleich erscheinende Gewirr an dichtstehenden Bäumen.

Die Durchquerung der Moore ist noch mühsamer. Oft müssen wir die Pferde führen, denn ansonsten unrettbar einsacken würden ihre Hufe im weichen Untergrund. Schwerer Morast klebt hartnäckig an unseren Stiefeln und erschwert das Gehen. Müde werden wir. Erschöpfung zehrt an den Beinen. Hunger knurren die grimmigen Mägen. Aber die Furcht vor dem Ungewissen, die Angst, die die Träume erweckte, treiben uns unerbittlich weiter.

Schließlich gegen Ende des zweiten Tages sehen wir die verfallenen Ruinen der Wachtürme der Stadt hoch über die Kronen der alten Bäume aufragen. Ruhig ist der Wald. Kein Vogel zwitschert. Kein Wild bricht durch das Geäst. Selbst das Rauschen des aufziehenden Herbststurmes durch die Wipfel ist verstummt. Blätter fallen lautlos auf den moosigen Boden, aus dem eigenartige schwarze Pilze sprießen. Totenstille herrscht.

Vorsichtig mit gezogenen Schwertern wagen wir uns näher, nachdem wir die Pferde an einem umgefallenen Baumstamm festbanden. Die Stille ängstigt mich. Das Herz pocht durch sie bedrückt anstrengend schmerzhaft in der Brust. Jeder Schritt fällt mir schwer. Eng beieinanderstehende Bäume, hohe Wachholdersträucher und buschige Farne versperren uns die Sicht. Schummrig wird es plötzlich, als eine sturmgetriebene Wolke die wenigen Sonnenstrahlen verbannt, die es bisher vermochten, durch die dichten Kronen zu dringen. Kaum etwas sehen kann ich im ersten Moment und stolpere daher über eine herausragende Wurzel oder dicken Ast, der mir vor den Füßen liegt. Weich komme ich auf, den das Moss bremst den Fall, allerdings in irgendetwas nass Klebriges greift die Hand beim Wiederaufrichten. Ich betrachte es vermutend und erschrecke dennoch fürchterlich. Blut. Schwarzes Blut jedoch, das bestialisch stinkt. Orkblut.

Ich sehe zurück zu dem Ding, das mir im Weg lag, und erschrecke noch fürchterlicher. Ein Ork liegt dort. Sein Schädel ist unzweifelhaft durch einen gewaltigen Axthieb gespalten, die Rüstung durch Kriegshammerschläge verbeult. Aber warum ist er hier? Warum ist er durch einen Kampf mit eindeutig einem Zwerg zu Tode gekommen?

Ich blicke zu Dwalin, aber auch er scheint völlig verwirrt über die Gründe seines hier liegenden Kadavers. Wir gehen daher weiter. Vorsichtiger noch als vordem. Darauf bedacht keinerlei Geräusch zu verursachen. Die Bäume lichten sich und plötzlich treten wir auf eine große Lichtung, die sich vor den zerfallenen, efeuberankten Mauern der Stadt befindet.

Und unsere schlimmste Vermutung wird auf ihr zur Wirklichkeit.

Die toten, schlachtverstümmelten Körper von Zwergen und Orks liegen dort verstreut. Übereinander, nebeneinander, in ihrem und dem Blut des Feindes. Abgetrennte Glieder und zerbrochene Waffen überall. Weit aufgerissene Augen, erstarrt im Angesichte Mandos. Der Geruch des Todes schwebt über der Lichtung wie Nebelschwaden eines Wintermorgens. Ungeachtet dessen, dass das Orkblut noch immer an ihr klebt, schlage ich die Hand vor dem Mund zusammen, damit kein Schrei des Schreckens ihn verlässt.

Dwalin betritt das Schlachtfeld. Zögerlich. Zitternd. „Es war eine Falle", flüstert er mit tränenschwerer Stimme und beugt sich hinunter, um einen unserer gefallenen Krieger an der Schulter zu berühren. Jung war er noch, aber fähig und loyal, sonst hätte Vilí ihn nicht ausgewählt. „Die Khuzdu id-zann hatten Kenntnis darüber, das wir kommen, und haben mit den nach Rache gierenden Orks kooperiert. Die Orkmeute, die die Späher erledigten, war nur ein verdammter Köder." Zorn überflutet ihn, während er spricht. Wir hätten es wissen müssen. Aber woher ...

Ich setzte ebenfalls einen Fuß vor, rutsche beinahe auf dem blutnassen Blättern aus, die das Gras überall bedecken. Ein Schwert liegt darin gebettet. Ein bekanntes Schwert. Wie in meinem Traum. Atemstockend hebe ich es auf. Es wiegt schwer und kostbar in der Hand.

Dwalin sieht es an und seine Augen weiten sich tränenvoll. „Vilí!", schreit er und blickt umher. Nirgendwo regt es sich. „Vilí!" Seine Stimme bricht. Angst und Schmerz zittern in ihr.

Wir laufen umher. Weinen über die gefallenen Brüder, verdammen die getöteten Feinde, finden den Gesuchten nicht unter ihnen.

Ich verzweifle. Tränen behindern die Sicht. Als ich sie mit dem schmutzigen Ärmel wegwische, schweift der Blick an den Saum der Lichtung. Ein mächtiger Baum, desen Stamm im Laufe der Jahrhunderte vermorschte, wurde dort schließlich durch einen Herbststurm entwurzelt. An ihn lehnt halb sitzend, halb liegend ein Krieger, der den Helm vom blutenden Kopf nahm. Seine Rüstung, obwohl aufwändig aus kostbarem Silber gefertigt, schimmert golden im Abendrotlicht, das allmählich aus dem nahen See aufsteigt.

Ich rufe Dwalin und eile mit ihm an seine Seite. „Hoheit", wimmere ich das Schlimmste aller Elende befürchtend und taste nach seinem blutverschmierten Hals. Ein Pochen ist dort zu spüren. Schwach nur, langsam, kaum merklich, aber vorhanden. Die Berührung und meine Stimme erreichen ihn durch Schmerz und Schwäche hindurch und der öffnet die Augen. Fahl glimmt die Kaminfeuerwärme, die Dís so liebt, in ihnen. Der goldene Schimmer bereits verblasst. Aus einer tiefen Wunde rinnendes Blut verklebt die tiefbraunen Wellen, die sich über die Schultern ergießen.

„Ihr seid hier", röchelt er und verzieht das Gesicht schmerzverzerrt. „Wir werden Euch nach Hause bringen", verspreche ich, aber er schüttelt erschöpft den Kopf und hebt seine Hand, die bislang auf seiner Brust ruhte. Eine tiefe Stichwunde klafft dort. Blut quilt bei jedem flachen Atemzug in Mengen aus ihr. Die Lunge wurde verletzt. Das er noch immer lebt ein wahres Wunder, von Mahal begünstigt.

Ich presse die Hände darauf, verzweifelt darum kämpfend, den Strom von Luft in den Brustkorb zu verhindern. Zusätzlich beengt sie die Lunge und erschwert dadurch das Atmen. Aber tief in meinem Inneren weiß ich genauso wie Dwalin und er, keine Rettung erlaubt diese Verletzung. „Ihr dürft nicht aufgeben", beschwöre ich dennoch, bemüht die Stimme nicht vor aufkommenden Tränen vergehen zu lassen. Vilí lächelt. Ein Lächeln wie Sommersonnenstrahlen so hell, wenngleich kleine Rinnsale von Rot die Mundwinkel hinabtropfen und ein schalkhaftes Gefunkel glänzt in den Augen, während sie immer mehr verblassen.

Er blinzelt und verloschen im Dunkel des Schmerzes ist auch dieser letzte Funke. „Kümmere dich um Dís, Fili und Kili", flüstert er und greift nach meinen Händen. Kalt und klamm fühlen sich die Finger an. Schwach sind sie. Blut klebt an ihnen. Sein Blut, das Blut der geschlagenen Feinde. „Und um Thorin. Du bedeutest ihnen viel mehr, als du dir jetzt noch vorzustellen vermagst." Ich schluchze von schwerem Harm ergriffen, während ich es beschwöre.

Er wendet den Blick Dwalin zu. „Und du dich gut und ehrenvoll um sie, versprich es mir." Der Krieger, der neben mir kauert, nickt zusichernd und legt die Hand auf die Schulter des sterbenden Freundes. „Das werde ich."

Vilí sieht auf zum Himmel. Die Abenddämmerung glänzt dort in den faszinierendsten Farben. Rot. Orange, Gelb und eine Spur von dunklem Lila, das die wenigen Wolken bedeckt. Wohl nur hier, am Quell des Leuchtens, ist sie in ihrer Herrlichkeit so unverfälscht. „So schön ...", flüstert er und dann ... werden seine Augen fahl und kalt. Die Hand erschlafft und rutscht von den meinen herunter, fällt der Lebenskraft beraubt neben seinen Körper.

Mandos schreitet näher. In den Schatten der Bäume verbarg er sich, nachdem er bereits die Seelen der in Würde Gefallenen mit sich nahm. Weit bläht sich der schwarze Mantel von ihnen. Viele waren es. Sinnlos war ihr Tod, wenn auch ehrenvoll. Jeder Einzelne von ihnen. Er wartete geduldig auf die Letzte, die sich unvermeidlich löste vom sterblichen Leib. Ich verfluche ihn dafür, dass er sie ergreift, jedoch unberührt und unerbittlich ist er.

Sein Zwielicht kommt über uns, vertreibt die Schönheit des Sonnenunterganges und entfesselt schließlich die Trauer. Schmerzhafter ist sie als jede Verletzung. Bitterer als jeder Verlust bisher. Taub werden Körper und Gedanken. Leer fühlt sich plötzlich alles an. Sinnlos. Schmerzensblind. Die Tränen beginnen zu fließen. Heiß und klebrig. Brennend auf den Wangen. Die Stille des Waldes wird von meinem leidverzerrten Schluchzen erfüllt, als ich die Stirn auf die Hände bette, die noch immer die verheerende Wunde versuchen zu verschließen und sich in die feinklirrenden Ketten des Harnisches krallen, der ach so nutzlos war. Kein Eid zur Stärke, keine Verpflichtung, jeglichen Gefühlen nicht die Macht über sich ergreifen zu lassen, kann das Ausmaß des Kummers und den Ausbruch mindern. Es schmerzt so sehr. Warum? Warum nur er?

Dwalin dagegen ist still. Fassungslos starrt er auf den Toten, den er schwor ebenso zu beschützen, als er in die Familie aufgenommen wurde. Langsam erhebt er sich. Kaum zu ertragen wird mein Schluchzen für ihn sein. Die Trauer gleichwohl so tief in ihm, so peinvoll, so intensiv, dass er ihr nachgeben muss. Jedoch anders als ich.

Er tritt auf das Schlachtfeld. Blickt auf den Leichnam eines der Khuzdu id-zann herab. Kummer und Wut erfüllen ihn. Wut über diese sinnlose Schlacht. Wut darüber, nicht mit ihm ausgezogen zu sein. Wut darüber, versagt zu haben. Er greift nach einer seiner Äxte, holt aus, und schmetter sie gegen einen nahen Baumstamm. Immer und immer wieder. Fest, voller Zorn. Schreiend und wütend und weinend.

Ich springe auf. Noch immer tränenblind. Körper und Geist noch immer von Kummer taub. Jedoch gemeinsam lässt er sich leichter ertragen. Meine Arme umschließen ihn, mein Gesicht presst sich an seine von kleinen Holzspänen bedeckte Brust. „Hör auf", flehe ich. Die Stimme nur ein bibberndes, heißeres Flüstern. „Ich brauche dich." Er stoppt abrupt in der Bewegung. Die Axt entgleitet seiner Hand, kommt dumpf auf dem mit blutbefleckten Blättern übersäten Boden auf. Er schweigt jedoch. Unfähig zu sprechen, die Trauer zu benennen, die unsere Herzen gleichermaßen zerreißt.

Wir stehen dort inmitten der Zerstörung. Uns umarmend. Gemeinsam trauernd. Weinend. Seine Tränen schwer und heiß auf meinen Wangen. Sie vermischen sich mit den Meinen und rinnen hinab, während sich die Dunkelheit der Nacht über die Lichtung und Mittelerde legt.


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