VI Die Umarmung

Ich verabschiede eine Touristengruppe. Drei ältere Frauen in kurzärmeligen, weißen Blusen mit Lochstickereien und zwei Männer. Einer trägt eine von jenen Stoffkappen mit breitem Rand, die man zusammengeknüllt in jeder Tasche unterbringen kann.
Wahrscheinlich legt dieser sie sorgfältig zusammen. Er wirkt sehr akkurat, ein ehemaliger Ingenieur.
Wir sind soeben aus dem Bauerngarten auf der Rückseite des Museums wieder vor den Eingang getreten.
Der Tag ist warm, der Sommer noch nicht ganz zu Ende und hinter dem Gebäude buhlen orange Ringelblumen, gelber Rainfarn und blauer Borretsch um die Aufmerksamkeit der Insekten.
Es gehört zu meinen Aufgaben, den Garten zu pflegen.
Jedes Jahr setze ich auch einige historische Pflanzen darunter, wie den berüchtigten gefleckten Schierling, an dem Sokrates philosophierend zugrunde ging. Er sorgt immer für ein staunendes Publikum.
Außerdem säe ich Kräuter, die probiert werden dürfen, wie die krause Minze, deren Duft mir jetzt an den Fingern klebt. Einen Teil davon zweige ich für meine eigene Küche ab.

Das Auto des Revierförsters hält vor dem schmalen Sandweg, der zu uns heraufführt. Manchmal kommt er vor Feierabend auf einen Kaffee vorbei.
Heute muss er einen schlechten Tag gehabt haben, vielleicht der Eichenprozessionsspinner, vielleicht illegal abgekippter Müll.
Er nähert sich mit düsterer Miene und eine dunkle Ahnung beschleicht mich. Ich werde diesmal keinen Kaffee kochen.

***

Ertebölle ist heute gestorben. Er lag auf einer Plane im Kofferraum des Försters. Aus seinem fetten Bauch ragten die kurzen Stummelbeine und er sah nicht aus, als ob er schliefe. Er sah aus, als wäre er tot.
„Kommst du auch für ihn?", war alles, was ich denken konnte. Die Frage hämmerte in meinem Kopf. „Kommst du auch für ihn?"
Ich versuchte, mich umzusehen und erkannte nichts. Die Welt war verschwommen. Es dauerte einen Moment, bis ich bemerkte, dass ich weinte.

Er ist nicht erschienen.
Ich sitze auf meiner Bettkante und werfe einen Blick auf das Fußende. Natürlich steht niemand dort, dabei könnte ich eine tröstende Schulter brauchen. Eine Umarmung, ein aufmunterndes Lächeln.
Ich muss ihn bitten herzukommen, ich will nicht allein sein.
Bevor er eintrifft, bereite ich alles vor. Es gibt Baguette mit Kräuterbutter, die ich mit Pflanzen aus dem Garten bei meinem Museum zubereitet habe. Dazu einen roten, schweren Wein.
Ich kann nicht widerstehen und probiere ihn. Seine Farbe ist tief, fast schwarz, der Geruch eigentümlich.
Er schmeckt erst süß, wird dann beinahe scharf und hinterlässt ein aufregendes Brennen auf der Zunge.

Kaum habe ich einen Schluck getrunken, trifft mein Gast ein.
Endlich sehen wir uns wieder.
Unsere Blicke begegnen sich und Jahre sind weggewischt. Er strahlt die vertraute Ruhe aus, die mich so schnell tröstet, wie sonst nichts.
Ohne Hut oder Mantel abzulegen, setzt er sich zu mir an den Tisch.
Wir lächeln uns an und er reicht mir die Hand. Ich lege meine ohne Zögern in seine und er hört mir schweigend zu, während ich ihm berichte, was geschehen ist.

Ich habe das Glas geleert, vielleicht zu schnell. Ich bin ein wenig betrunken, die Beine sind zu leicht und die Zunge zu schwer. Obwohl etwas Wein sonst zuverlässig meine Stimmung hebt, bin ich jetzt noch immer traurig. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt weinen musste, aber heute scheine ich nicht damit aufhören zu können.
Er hilft mir aufzustehen und begleitet mich zum Bett. Ich bin müde und will mich hinlegen und an ihn schmiegen, wie ich es zu lange nicht mehr getan habe.

Lautlos legt er sich zu mir und schließt mich in die Arme. Mein Schluchzen ist kaum noch zu hören, so fest presse ich das Gesicht gegen den Aufschlag seines Mantels.
Ich bin froh, ihn wiederzusehen. Diesmal werden wir zusammenbleiben; er ist gekommen, das ist mehr als ein Versprechen. Ich bedeute ihm etwas. Er ist hier und wir verbringen die ganze Nacht ineinander verschlungen.
Der Kater ist nicht umsonst gestorben.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top