1. Kapitel
"Die Gedanken sind frei. Wer kann sie erraten? Sie fliegen vorbei, wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, mit Pulver erschießen. Es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei."
-"Die Gedanken sind frei" aus"Schlesische Volkslieder" von Hoffmann von Fallersleben und Ernst Richter
Der Wind wehte mir unter den Anorak. Orangefarbene Blätter fielen von einem der frisch gepflanzten Bäume am Straßenrand. Eines traf mich mitten im Gesicht, was die ohnehin nicht sehr ausgeprägt romantische Stimmung noch verschlimmerte. Fluchend wischte ich mir das klitschnasse Ding mitsamt meinem halben Makeup vom Gesicht. Das fehlte mir gerade noch. Die Rush-hour war eigentlich vorbei aber es war trotzdem noch ziemlich viel los. So viel zu meinem Plan, nicht in Menschenmengen zu geraten dachte ich seufzend und drängelte mich mit ein paar Mal „Verzeigung" und „Dürfte ich hier kurz durch?" durch eine Gruppe Londoner, die mit „Coffee to go"-Bechern herumstanden und redeten. Very british! dachte ich(was war mit dem Klischee, das Engländer nur Tee trinken?)und bleib kurz stehen um mich umzusehen. Es konnte nicht mehr weit sein aber bei diesen Straßen- und Menschenmassen versagte selbst mein sonst ausgezeichnetes Orientierungssystem. Ich kramte in meiner Anoraktasche, die, wie ich nun leider feststellen musste, dem typisch britannischen Wetter nicht stand gehalten hatte: Sie war von innen ganz durchnässt. Ich stöhnte verzweifelt auf und zog meine Wegbeschreibung (oder besser das, was davon übrig geblieben war) heraus. Die Schrift hätte nicht einmal ein gelehrter entziffern können, so zerlaufen war sie. Wenn ich die Verkäuferin, die mir diesen schrecklich überteuerten, von Kindern in Bangladesch gemachten, qualitätstiefen Anorak aufgeschwätzt hatte, in die Finger oder besser in mein Blickfeld bekam, dann war kein Geheimnis von ihr mehr Sicher, soviel stand fest! Wäre ja nicht das erste Mal, dass ich das Leben eines Menschen ruiniere! Ich würde es wieder tun, sollte ich wegen diesem undichten Teil auch nur eine Minute zu spät bei meinem neuen Job erscheinen.
Einer der Männer, die dort standen und sich unterhielten, hatte offenbar die riesigen Rauchwolken bemerkt, die aus meinem Kopf aufstiegen und ging auf mich zu.
„Kann ich ihnen helfen?"
„Ja, das können sie: Wissen sie wie ich zu..." ich gab mir beste Mühe, die verwischten Worte zu entziffern, doch es war einfach unmöglich. Ich spürte, wie ich rot wurde, als mir auffiel, das ich meine verzweifelten Leseversuche gerade laut aussprach: „Kaaa....nn...nein das ist ein...uuu"
Verlegen hob ich den Kopf und sah ihm in die Augen. Ein fataler Fehler. Es hatte schließlich einen Grund, dass ich direkten Augenkontakt grundsätzlich vermied: Bilder Formten sich vor meinem inneren Auge und bei nicht allen war ich mir sicher, ob ich sie sehen wollte. Ich konnte Stimmen hören aber im Augenblick sah ich keinen Grund mir sein Gefühlsleben anzutun. Es klang nämlich stark nach einem Streit mit seiner Freundin. Ich schloss mein inneres Auge, etwas was ich seit etwa 4 Jahren beherrschte und es ziemlich genoss.
„Ach genau!" ich zerknüllte den Zettel und warf ihn möglichst unauffällig über meine Schulter. „Dieses Kaufhaus, in dem 2005 eine Bombe explodiert ist, wie komme ich dahin?" Eigentlich hatte ich dieses Gebäude im Bezug auf den Weg nicht erwähnen wollen, denn es stand seither lehr, jedenfalls ging man davon aus und es war wegen Einsturzgefahr gesperrt, weshalb es etwas komisch herüber kam, danach zu fragen.
Ich behielt recht: Der Mann hob die Augenbrauen und sah mich verwundert an. „Was wollen sie denn da?"
Jetzt musste ich improvisieren. Ich kramte in meiner anderen Manteltasche, welche von innen auch etwas feucht war (diese Verkäuferin spielte mit ihrem Leben) und zog meine Brieftasche heraus. Ich klappte sie auf und konzentrierte mich auf einen Marketingausweis. Gedankenmanipulierendes Papier. Ein Geschenk von meinem alten Arbeitgeber, welches mir schon allzu oft aus der Patsche geholfen hatte.
„Ahh, verstehe!" sagte der Mann sofort und lächelte freundlich. „ Die Straße da langlaufen, die stößt dann irgendwann auf eine größere und dann müssten sie es eigentlich schon sehen."
Ich bedankte mich hastig und machte mich auf den Weg. Während ich mich entfernte, warf ich noch schnell einen Blick auf das Papier, welches ich ihm vorher unter die Nase gehalten hatte. „Madison Cooper" stand dort als Name. Was dachte sich mein Unterbewusstsein, wenn ich aufgeregt war immer für Namen aus? Ich meine: Madison. Das war der Name von meiner Putzfrau aus der Zeit, als ich noch nicht in London gewohnt hatte (ich hatte sie noch ein paar Wochen vor meinem Umzug gefeuert, weil ich in einen ihrer Erinnerungen gesehen hatte, wie sie zehn Euro hatte mitgehen lassen). Und das Passbild war auch nicht das vorteilhafteste: Mein langes, braunes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, was bei mir wirklich nicht sonderlich aussah, und ich trug doch tatsächlich genau den knallroten Anorak, den ich gerade trug. Immerhin ließ er meine wirklich giftgrünen Augen hervorstechen, worüber ich dankbar war, denn ich war noch nie einer von den Menschen gewesen, die vor dem Spiegel sitzen und über ihr Aussehen heulen. Aber der Name der Firma: Cooper GmbH. Einfallsloser ging 's wohl nicht? War dem Mann das wirklich nicht aufgefallen?
Ich lief zügig weiter. Inzwischen hatte es wieder begonnen zu regnen und ich klappte meine Kapuze hoch, was allerdings nicht viel brachte, der Regen begann schon nach ein paar Minuten durchzusickern („Das ist unser neustes Exemplar! Probieren sie es doch mal an! Fantastisch! Die Farbe passt wirklich zu ihren Augen! Da drin macht ihnen das englische Wetter nichts aus!").
Ich musste nur ein paar Minuten gehen, dann kam ich an die Kreuzung, von der der Mann erzählt hatte. Als ich nach rechts blickte, konnte ich das Gebäude sofort erkennen. Mit seinen immer noch verkohlten Fensterrahmen und zersplitterten Scheiben tat es sich deutlich aus den vielen Kaufhäusern hervor, die die Straße entlang aufgebaut waren. Ich lief über die Straße, was nicht einmal so einfach war, denn die nächste Fußgängerampel war 100 Meter weiter links und die Ungeduld zwang mich die Straße auf direktem Wege zu überqueren. Keine meiner besten Ideen: Mindestens drei Leute hupten mich an und einer ließ es sich nicht nehmen, extra das Fenster runter zu kurbeln, nur um mich zu beschimpfen.
Auf der anderen Seite angekommen musste ich nur noch ein paar Meter nach links gehen um an mein Ziel zu gelangen: Die einst große, verglaste Tür war mittlerweile durch eine schmiedeeiserne Tür ersetzt worden. Wie ich sie zu öffnen hatte, hatte man mir in einem Telefonat bereits mitgeteilt: Ich zog den Stick, welcher mir vor zwei Wochen zugeschickt worden war in den dafür bestimmten spalt neben der Klinke. Ich spürte wir mir ein Schauder den Rücken herunter lief: Ich fühlte mich, wie in irgend so einem Mission Impossible Film. Ich meine: Sticks anstatt von Schlüsseln? Hallo?
Zu meiner Enttäuschung gab die Tür weder ein piepsendes Geräusch von sich noch öffnete sie sich mit einem lauten Zischen, keine Lichter leuchteten auf und die ganze James Bond Sache war mal wieder im Eimer. „Spock wäre enttäuscht!" murmelte ich.
Lautlos schob ich die Tür auf. Das mit dem Einen-Spalt-aufschieben-und-sich-möglichst-unauffällig-hindurchschieben zog meistens noch mehr Aufsehen auf sich als die Tür einfach selbstsicher zu öffnen und hindurch zumarschieren. Und genau das tat ich. Vielleicht etwas zu selbstbewusst aber das war dann auch nicht mehr zu ändern. Nachdem ich die Tür so schwungvoll geöffnet hatte, schob ich sie eher langsam wieder zu, gerade so, als würde es das ganze ausbalancieren wollen.
Als die Tür ins Schloss fiel, merkte ich erst, wie stockdunkel es in der Halle war. Das einzige Licht schien durch die Spalte zwischen den Balken, mit denen die Fenster verdeckt worden waren. Suchend sah ich mich im Dämmerdunklen nach einem Lichtschalter um als ich auf einmal ein klicken vernahm. Langsam steckte ich den Stick zurück in meine Anoraktasche. Ich hatte keine Angst, dazu war die Situation einfach nicht gruselig genug: Ich hatte die Tür in meinem Rücken, dahinter war eine, von Menschen überflutete Straße auf die ich mich ruck zuck hätte retten können und das war nicht meine einzige Fluchtmöglichkeit. Neugierig sah ich mich um. Klick.
„Hallo?"
Klick.
„Hier ist Eve Silver*, ich komme wegen meiner Stellung hier!"
Klick.
Ich seufzte. Wahrscheinlich irgend so eine automatische Körpertemperaturmessung oder etwas in der Art. Ich war endgültig soweit: Jetzt redete ich schon mit Maschinen.
Mit festem Schritt ging ich auf die ehemalige Rolltreppe zu. Laut meiner Informationen...ja, da! Unter der linken Treppe konnte ich eine weitere Tür erkennen, wieder aus Metall und so sauber poliert, dass es einfach nicht zum Rest des Gebäudes passte. Was Tarnung anging schon einmal 'ne 6.
Diesmal wurde nicht einmal ein Stick verlangt, ich konnte sie mit einer Drehung des Knaufs problemlos öffnen. Mit einem Mal stand ich in einem beleuchteten Raum. Vor mir war eine Rezeption aufgebaut. An der linken Seite stand ein Wasserspender an der anderen ein Gerät, das vom Aussehen her stark an einen Kartenautomat erinnerte auch wenn mir klar war, das es sich keinesfalls um so etwas handelte. Hinter der grau gefärbten Theke stand ein junger Mann in einem weißen Hemd mit Krawatte und spielte an seinem Smart Phone. Als er mich bemerkte schrak er auf, zog sich schnell das Jackett über, welches über einem Stuhl hing und lächelte mich leicht gestresst an. Ich schaute ihm in die Augen.
Oliver Flynt*. 26. Er war der Neuankömmling hier. Zuständig für die Drecksarbeit. Er war erst vor kurzem bei seiner Mutter ausgezogen, was ihr wohl nicht sonderlich gefallen hatte. Ich überging seine Erinnerungen nur oberflächlich; das sparte Zeit und ich musste mir nicht das Gefühlsleben von allen antun, deren Erinnerungen ich las.
Ich konnte das schon so weit ich zurückdenken konnte aber hatte es anfangs für normal gehalten. Wenn man es nicht anders kennt, will man es nicht anders, man kennt den Unterschied nicht. Das es nicht normal ist, einfach so in die Gedanken und Erinnerungen anderer einzudringen, wurde mir erst klar als ich in die erste Klasse kam: Ich sprach meine Lehrerin am ersten Tag darauf an, dass der Mann „mit dem sie da knutschte" ja gar nicht ihr Verlobter sei. Zwei Tage später saß ich mit meinen Eltern beim Elterngespräch, zwei Wochen später beim Psychiater. Mir wurde erst nach und nach klar, dass ich wohl die einzige auf dieser Welt war, die so etwas konnte. Als kleines Kind machte es mich manchmal etwas betrübt, denn auch wenn ich versuchte zu helfen („Glauben sie mir, Mister Allan: Das mit ihrem Sohn, das wird schon wieder."; „Ich kann ja mal mit ihrer Frau sprechen, wenn sie wollen, vielleicht will sie sich dann vertragen!") wurde ich entweder entsetzt angeguckt oder (und das zunehmend häufiger) angefahren, ich sei doch verrückt, was ich denn da für einen Schwachsinn labere. Bei meinen Mitschülern kam meine kleine Fähigkeit ganz unterschiedlich an: Es gab wie immer ein paar blöde Ziegen, die mich als Wahnsinnige bezeichneten (und vielleicht war und bin ich das ja auch), ein paar die sich sogar etwas vor mir fürchteten aber ich hatte genug Freundinnen und Freunde, denen es entweder vollkommen egal war oder es als „voll cool" bezeichneten.
Ich testete es im Übrigen mehrfach nach, ich war ganz sicher nicht verrückt: Mister Allans Sohn war wohl, wie ich später herausfand, tatsächlich drogenabhängig gewesen und hatte es nur mit Mühe und viel Hilfe von seinen Eltern geschafft auf den rechten Weg zurück zu finden (Er war wirklich ein guter Vater gewesen, darum verzieh ich ihm damals sogar das mit dem Nachsitzen.)
Erst jetzt fiel mir auf das ich meinen Gegenüber immer noch wie hypnotisiert anstarrte. Ich blinzelte und fasste mich wieder.
„Was wollen sie?"
„Eve Silver. Ich habe ein Jobangebot von hier erhalten."
Ich kramte in meiner Tasche und zog meine Brieftasche heraus. Diesmal zeigte ich meinen richtigen Ausweis vor, wobei das Foto darauf auch nicht viel besser aussah als das, was meine Gedanken willkürlich erstellt hatten, mit dem positiven Unterschied, dass ich darauf keinen leuchtend roten Anorak aus Bangladesch trug.
Der junge Mann überflog den kleinen Zettel kurz, setzte sich in seinen Drehstuhl und tippte meinen Namen auf der Tastatur seines Computers ein. Dabei summte er Shake it off von Tylor Swift vor sich her.
„Ah, da sind sie...." Er überflog den Text auf dem Bildschirm vor ihm, dann hob er den Kopf und sah mich fast etwas ängstlich an. Er wusste also, wer ich war.
Die Einzelheiten über meinen neuen Job waren mir noch nicht erklärt worden aber bei meinem alten Arbeitsgeber hätte ich eh nicht mehr lang bleiben können: Wenn die Leute Wissen, das du mit einem Blick Dinge über sie herausfinden kannst, die außer ihnen niemand weiß, dann vertrauen sie dir nur so lange wie nötig und sind froh, wenn sie dich irgendwann los sind. Verständlicher Weise.
Oliver Flynn zog nun ein Telefon hinter einem Stapel Papier hervor und tippte hecktisch eine vierstellige Nummer ein. Vermutlich nur ein Zugangscode zu einem privaten Telefonnetz.
„Mister Gosling? Mrs Silver ist so eben angekommen... Gut das tue ich." Er legte den Hörer zur Seite. „Mister Gosling will sie jetzt sehen."
Ich bekomme nie richtige Cliffhanger hin, sry D: Ich hoffe, es hat euch so weit gefallen. Ich freue mich über konstruktive Kritik und jedes kleine Sternchen. :) Danke noch einmal an @Dschokie für das tolle Cover :D (ich kann es einfach nicht oft genug sagen: Wahnsinn!)
Noch einen Schönen Sonntag, euch allen :)
Easy
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