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Ich fühlte mich immer besser, je länger ich einfach so dastand und zuließ, dass mich dieses Gefühl von Macht durchdrang. Es war, als existierte ich dadurch plötzlich in meiner eigenen Welt. Irgendwann jedoch begann ich vor meinen geschlossenen Augen Bilder zu sehen. Es waren Erinnerungen, ausschließlich aus meinem jetzigen Leben. Ich sah, wie meine Eltern sich über meine Geburt freuten. Wie liebevoll sie mich mein ganzes Leben lang behandelt hatten. Ich sah, wie ich meinen kleinen Bruder bekommen hatte. Wie ich zunächst eifersüchtig gewesen war, doch es dann genossen hatte, jemanden zu haben, der zu mir aufsah und auf den ich achtgeben konnte. Ich sah gemeinsame Erlebnisse von Eddi und mir, wenn wir unseren Eltern einen Streich spielten. Ich sah, wie ich ihn in der Schule vor einem Schlägertypen beschützte und dafür selbst zusammen geschlagen wurde. Ich sah, wie ich ihm Mädchentipps gab, obwohl ich doch selbst keine Ahnung davon hatte. Ich sah, wie wir gestritten und wieder versöhnt hatten. Auch Tony war da. Mein Leben lang war Tony schon an meiner Seite gewesen, beinahe wie mein kleiner Bruder. Doch bei ihm war es anders. Ich hatte ihn mir als Freund ausgesucht. Weil ich ihn mochte. Weil ich ihn liebte. Ich sah Erfahrungen vor meinem inneren Auge, die meinen Charakter maßgeblich geprägt hatten und spürte im selben Moment, dass sich etwas gewaltig falsch anfühlte. Die Bilder stoppten, das Gefühl, mich der Welt zu öffnen und eins mit ihr zu werden ebenfalls. Ich öffnete meine Augen und sah mich um.

Die Soldaten, die vor mir gewesen waren, als ich meine Augen geschlossen hatte, waren weg. Eddi und seine Begleiterin aber standen noch immer vor mir.

Jedoch starrten sie mich so an, als hätten sie Angst vor mir. Eddis Blick sprang von mir in den Raum hinein.

Ich drehte mich langsam um und erkannte zwei Personen darin liegen. Wie fremdgesteuert ging ich eilig zu Tony. Er lag knapp neben Walter, hatte die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet, doch er atmete nicht. Die Zeichen auf seinen Armen waren verschwunden, es sah aus, als hätten sie nie existiert.

„Nein", hauchte ich. In meinem Unterbewusstsein hatte ich die ganze Zeit gewusst, was ich getan hatte, doch ich hatte es nicht wahrhaben wollen. Das wollte ich nach wie vor nicht. „Nein nein nein", wiederholte ich und drückte Tony an mich. „Das wollte ich nicht, das wollte ich nicht", murmelte ich dabei verstört.

Ich spürte wie jemand die Hand auf meine Schulter legte. Eddi kniete sich zu mir und sah mich eindringlich an, so als wolle er überprüfen, ob ich noch gefährlich war. Es schien ihm gut zu gehen. Das konnte ich mir nicht erklären. Wieso ging es Eddi gut? Wieso lag Tony leblos in meinen Armen?

„Wir sollten gehen, Jamie", sagte Eddi leise und sah mich dabei mitfühlend an. Ich schüttelte energisch den Kopf und presste Tony an mich.

„Er ist tot, du kannst ihm nicht mehr helfen" Eddi redete auf mich ein. Er sagte so viele logisch nachvollziehbare Sachen, doch ich weigerte mich einfach, es als die Wahrheit akzeptieren. Ich hatte den Mann, den ich liebte, nicht umgebracht. Das konnte einfach nicht sein.

Eddi gab es auf, mit mir zu reden. Er umarmte mich einfach und war da. Obwohl ich ihn seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte, fühlte es sich sofort wieder an wie damals. Eddi sorgte normalerweise dafür, dass es mir besser ging. Nun gab er mir so eine Sicherheit, dass ich mich einfach fallen ließ und begann, bitterlich zu weinen. Eddi hielt mich dabei fest und somit automatisch auch Tony, da ich ihn nach wie vor festhielt.

Ich hatte getan, wogegen ich mich bewusst entschieden hatte. Ich hatte meine Magie in mir aufgezogen und höchstwahrscheinlich waren Walter und Tony nicht die einzigen Opfer. Vermutlich hatte ich auch Carter umgebracht und Mum und jeden einzelnen, der jemals Kontakt mit Magie gehabt hatte. Doch das hatte mich zu keinem Gott gemacht, sondern zu einem Monster. 

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