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Während Tony durch das Dorf rauschte und jeden einzelnen Trümmerhaufen nach Überlebenden durchsuchte, stand ich still auf unserem ehemaligen Platz und starrte auf meine Umgebung. Den Ort, an dem ich aufgenommen worden war. Den Ort, an dem ich Menschen getroffen hatte, die mein Leben maßgeblich verändert hatten. Den Ort, der niedergebrannt worden war und von Leichen übersäht.

Ich kam keine Sekunde dazu, nachzudenken. Es war komplett still hier, totenstill. Umso lauter klang Tonys Schrei. Er fiel auf die Knie und drückte einen leblosen Körper an sich.

Ich eilte zu ihm. Die Frage, was passiert war, wurde überflüssig, als ich das Mädchen mit den roten Haaren in seinen Armen erkannte. Tony umarmte sie, hielt sie fest, beinahe so, als wolle er sie in den Schlaf wiegen. Dabei war sie schon lange tot. Er murmelte mindestens 1000 Entschuldigungen an Kiras Haare und presste sie an sich.

Ebenso geschockt wie er, ließ ich mich auf die Knie sinken und starrte auf das tote Mädchen in seinen Armen. Die erste richtige Bezugsperson meines Lebens. Bisher war ich immer allein gewesen, doch nun hatte ich Kira gehabt und durch sie auch Carter und Koa. Kira war ein unbeschreiblich wichtiger Teil meines Lebens. Aber Tony traf es schlimmer. Kira war die einzige, die sein wahres Ich ein wenig herausgekitzelt hatte. Als er glaubte, nichts mehr zu haben, hatte er sie. Doch nun war sie tot und wir waren nicht hier gewesen, um sie zu beschützen.

Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verging, in der wir einfach dasaßen und Kiras Tod bedauerten, bis ich den Entschluss fasste, dass es reichte. Wir mussten weitermachen. Ich nahm sie Tony ab. Kurz drückte er sie noch fester an sich, doch, als ich seine Hand nahm, die tröstend über ihr Haar gestrichen hatte, ließ er lockerer und übergab sie mir. Sein Wiederstand war gefallen. Ich legte sie hin, richtete ihr Haar und deckte sie schließlich mit dem Tuch ab, das Tony und ich für unseren Unterschlupf genutzt hatten. Es brach mir beinahe das Herz, denn ich wollte nicht glauben, dass sie wirklich tot war. Doch die Kälte ihrer Leiche hatte es bewiesen.

Tony hatte bereits überprüft, ob es Überlebende gab: negativ. Jedoch wusste ich nicht, ob er die anderen Toten ebenfalls identifiziert hatte.

„Tony..." Ich versuchte, seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, indem ich mich direkt vor ihn kniete und beide meiner Hände auf seine Wangen legte, damit ich sein Gesicht so fixieren konnte, dass er nur mich ansah.

„Ich will, dass du dich jetzt zusammenreißt, okay? Ich brauche deine Hilfe"

Ich sah in seinen Augen, dass er fertig war. Dass er es leid war zu kämpfen und trotzdem zu verlieren. Trotzdem nickte er entschlossen und ließ sich von mir die stummen Tränen wegstreichen. Vermutlich hatte er selbst nicht einmal bemerkt, dass er sie vergossen hatte. Wir standen auf und Tony erhielt seine Fassung zurück.

„Walter ist dafür verantwortlich", presste er hasserfüllt hervor.

„Wie soll er denn das Dorf gefunden haben?", fragte ich zweifelnd und sah mich erneut um. Es änderte nichts an diesem schrecklichen Szenario, es blieb dasselbe.

Tony geriet in Erklärungsnot für seine Vermutung. Er biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. Er war nicht rational im Moment, dazu hatte er gar nicht die Möglichkeit. „Ich weiß es nicht. Das ist mir auch egal. Er hat das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. Ich werde ihn umbringen, ich werde ihn quälen"

„Bleib ruhig, Tony", bat ich und wollte erneut meine Hände auf seine Wangen legen, doch er fing sie knapp davor ab und schubste mich weg, so energisch, dass ich beinahe über Kiras Leiche stolperte.

Er war wütend, er war zornig... Er trauerte, selbst, wenn er nicht bereit war, dies zu zeigen.

Plötzlich begann er im Trümmerhaufen seines Hauses herumzuwühlen und sammelte alles an Waffen auf, was noch nützlich aussah. Er befestigte es an seiner Kleidung und hielt mir ebenfalls etwas hin. Dabei sah er mich auffordernd an. „Du kommst doch mit, oder?" Es klang eher nach einem Befehl.

„Was willst du tun, Tony?", fragte ich ihn kopfschüttelnd und drückte seine Hand mit der Waffe, die er mir anbot, nach unten.

„Walter..."

„Wie stellst du dir das vor? Sollen wir zwei zusammen im Alleingang in Walters Palast eindringen, seine Armee ausschalten und ihn umbringen, nur damit du deine Rache bekommst? Das wäre lebensmüde, wir kommen doch nicht mal an der Stadtmauer vorbei, ohne erwischt zu werden..."

„Du verstehst gar nichts!", brüllte er mich plötzlich an und warf voller Wut ein Messer so gegen einen Baum, dass es dieser einen enormen Riss bekam. Das war der Beweis dafür, dass er seine Magie gerade absolut nicht unter Kontrolle hatte. „Er hat mir alles genommen! Meine Kindheit, meine Mutter, meine beste Freundin, mein zuhause, dich..."

„Aber ich bin doch hier", widersprach ich verzweifelt und trat auf ihn zu. „Ich bin hier, Tony. Ich bin bei dir." Ich hatte im Moment das Gefühl, er war unerreichbar für mich, obwohl er doch direkt vor mir stand.

Seine Mimik drückte so viel Leid aus, so viel Hass, dass ich es kaum aushielt, ihn anzusehen.

„Das warst du nicht immer", erinnerte er mich. „Walter hat dir Schreckliches angetan und mir und Kira... ich kann das nicht einfach so akzeptieren und weitermachen, als sei nie etwas passiert, ich kann ihn damit nicht davon kommen lassen..."

„Das verlangt doch keiner von dir. Ich will nur, dass du einen Moment nachdenkst, bevor du dich in so eine aussichtslose Mission stürzt. Du bist alles, was ich habe. Ich will dich nicht verlieren."

„Tut mir leid, Jamie", sagte Tony. Er klang knallhart bei diesen Worten. „Aber darauf kann ich keine Rücksicht mehr nehmen. Ich kann nicht einen Atemzug tun, ohne daran zu denken, dass er noch frei herumläuft und Menschen verletzt. Ich will, dass er aufhört. Ich will, dass er eine Strafe erhält... Ich will, dass er erkennt, was er falsch gemacht hat. Ich will, dass er sich entschuldigt. Ich will, dass er es bereut. Ich will, dass er fühlt, was ich all die Jahre ertragen musste. Verdammt, ich will doch nur Gerechtigkeit!" Bei jedem Satz verlor er eine Schicht der Mauer, die aus Zorn und Hass bestand. Seine Verzweiflung entkam ihm und er seine Hände ballten sich zu Fäusten, er legte den Kopf in den Nacken und sah hoch in den Himmel, als würde er eine höhere Macht anbeten, uns aus dieser aussichtslosen Situation zu helfen.

Wir hatten keine Ahnung, dass diese bereits unterwegs zu uns war.

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