Schneegespräche


Freitag, 08:00 Carla WG?
Hättest du morgen Zeit für eine Besichtigung?

Freitag, 15:00
ok

Freitag, 15:02
Würde dir um 15:00 passen?

Freitag, 20:00
ok

Freitag, 20:05
Super! Vielen Dank, dass du mir ne Chance gibst.
Ich bin schon bisschen verzweifelt...

Freitag, 23:00
*hat mit „Daumen hoch" reagiert*

Samstag

Ruben weiß nicht, wie er ausgerechnet hier gelandet ist. Neun Uhr abends im Dunkeln auf einer Parkbank neben dem verschneiten Sandkasten eines Kinderspielplatzes. Frierend. Klettergerüst, Rutsche, Schaukeln, die bunten Sandelförmchen, alles liegt halb versteckt unter frisch gefallenem Schnee. Auf dem kleinen Hügel mit kaum nennenswerter Steigung neben dem Spielplatz hat der Neuschnee die Schlitten- und Bobspuren der begeistert rodelnden Kinder vom Nachmittag sanft bedeckt. Das einzige Überbleibsel des Gejohles und Herumgerennes ist der Schneehaufen einer Schanze, die der Junge in der roten Jacke mit seiner in einen dicken grünen Schneeanzug gepackten Schwester gebaut hat. Tausende Male sind sie juchzend und kreischend, wild lachend und einmal auch weinend darübergesaust und mitsamt des Holzschlittens in den Schnee gekippt. Weil Schanzen nie so funktioniert, wie man das gerne hätte. Aber die Kinder haben bis zum Dunkelwerden ununterbrochen durchgehalten. Auch als es angefangen hat zu dämmern und die spielenden Kinder nach und nach von ihren Eltern nach Hause bugsiert wurden, haben die Geschwister sich nur unter Protest von ihrem Vater mitziehen lassen. Als Kind hat man diese Energie wohl einfach.
Und dann ist da noch der Schneemann, direkt gegenüber von Rubens Bank, den eine andere Gruppe Kinder der in den Sandkasten gebaut hat (nachdem die erste Version auf der Schlittenpiste mehrfach umgefahren worden war). Ruben starrt den Schneemann schon seit einer Weile an, auf seiner Bank sitzend, genauso steif wie die frostbedeckten, kahlen Bäume um ihn herum.
Vielleicht ist es auch nur ein halber Schneemann, denkt Ruben. Immerhin sind Teile seine Oberfläche in Sand paniert, wie das eben passiert, wennn man eine Kugel Schnee durch einenSandkasten rollt und die Schneeschicht nicht dick genug ist. Auf dem Kopf des Schneemanns sitzt ein rosa Sandeleimer, in der mittleren Kugel stecken die üblichen Astärmchen und Steinknöpfe. Eine Steinlächeln und ein e Karottennase haben die Kinder dem Schneemann auch verpasst. Um die Karotte zu holen, ist eines der Kinder sogar extra nochmal nach Hause gerannt. Das Gemüse ist verschrumpelt und klein, als hätten die Eltern des Jungen nur zögerlich eine ihrer guten Karotten zum Spielen herausgerückt, aber ihr orange beißt sich wunderbar mit dem rosa Eimerhut. Diese Farbe hat ein anderer Junge ausgesucht, und fast hätte es eine Streit gegeben, weil ein Mädcen lieber den roten Eimer mit den grünen Streifen wollte.
Ruben weiß das alles, weil er schon den ganzen langen Schneenachmittag über auf dieser Parkbank ausharrt als wäre er weniger Mensch als selbst Teil des Spielplatzes. Diese gebeugte Gestalt mit schwarzem Wintermantel, über den Mund gezogenem Schal (gestreift), dunkelgrüner Mütze und selbstgehäkelten Fäustlingen. Nicht von ihm selbstgehäkelt natürlich.  Die Freundin seiner Schwester hat sie für ihn gemacht, aus grauschwarzer Wolle, weich und gemütlich wie die Abende, die er am Küchentisch der WG seiner SChwester verbracht hat.
Wieder zieht sich Ruben den Mantgel ein wenige enger um die Schultern. Das Kleidungsstück ist feucht vom Schneefall, und sowieso sitzt Ruben schon so lange hier, dass es selbst unter seinen Mantel-Hoodie-Wollpulli-T-Shirt-Unterhemd-Zwiebelschichten schwer ist noch etwas Wärme zu finden.
Die Kälte hat Schicht um Schicht durchsickert und ist von Zehenspitzen und Fingern bis in seine Brust gekrochen. Keine klirrende, herzstillstandverurschachende Kälte, mehr ein nasskaltes, ignorierbares Kältegefühl, das schleichend kommt und nur mit viel heißem Tee, Suppe und Wärmflasche wieder loszuwerden ist, wenn es sich einmal eingenistet hat. Es ist egal, denkt Ruben. Oder zumindest das geringere Übel als in eine leere Wohnung zurückkehren zu müssen, in der neben Wärme und Licht auch Schuld und Einsamkeit auf einen warten.
„Hier hab ich wenigstens einen Schneemann", murmelt Ruben, „vielleicht kann ich mir dich zu Weihnachten in den Kühschrank stellen. Sieh dich als eingeladen."
Er seufzt.
„Ich weiß, ich bin erbärmlich."
Ein 23-jähriger Student, der ganz normale zwischenmenschliche Interaktionen nicht auf die Reihe bekommt und deshalb bis spätabends auf einem leeren Spielplatz in der gefrorenen Pfütze seines eigenen Elends liegt.
„Ich glaub, ich kann das nicht."
Der Schneemann reagiert nicht auf Rubens geflüstertes Eingeständnis. Er ist ja auch nur ein Schneemann.
„Menschen.", erklärt Ruben trotzdem, „Ich kann das nicht."
Vielleicht auch Leben im Allgemeinen, wenn man sich die Geschirrberge, Tiefkühlpizzaschachteln und Staubflocken in seiner Wohnung ansieht, die wahrscheinlich eigentlich nicht ungewöhnlich in einem Studentenleben, aber doch untypisch fürRuben sind. Er hasst wenig mehr als in seinem eigenen Dreck zu ersticken. Eigentlich macht er deshalb regelmäßig sauber, spült rechtzeitig ab und staubsaugt.
"Ein Traum WG-Partner. Bis man dann selbst mit Putzen an der REihe ist und seine Vorwürfe ertragen muss", hat Malik immer gesagt.
„Und warum bist du dann gegangen?", fragt Ruben den Schneemann. Der die Antwort natürlich nicht weiß, weil er ein lebloses Stück Schnee ist, das keine Ahnung von Rubens Leben hat. Ruben schon.
„Weil du für deinen Master mit deiner Freundin zusammenziehen wolltest und die Fernbeziehung euch zerrissen hat.", beantwortet Ruben selbst die Frage anstelle des Schneemanns. Wie Malik es ihm tausende Male erklärt hat.
Es sollte Ruben nicht so kaputt machen seinen Mitbewohner zu verlieren. Wirklich nicht.
„Aber er war der einzige.", gibt Ruben leise zu, „Mein einziger Freund. Scheiße, warum klingt das noch armseliger, wenn ich es laut sage."
Ruben unterdrückt das Bedürfnis zu schniefen, blinzelt eine Träne weg. So wie immer, wenn ihn die Einsamkeit in den letzten Wochen eingeholt hat. Weil es verdammt nochmal nicht so schlimm ist, als dass man dafür Tränen vergießen müsste. Viereinhalb Stunden mit der Bahn sind es bis zu Malik. Er ist nicht aus der Welt. Es ist nicht schlimm. Aber es fühlt sich so an.
„Er würde jetzt überall in der Küche Lichter und seine kitschigen Porzellanengel aufhängen. Und ‚Last Christmas' singen, und das sogar auch noch gut, weil er jahrelang Gesangsunterricht hatte.", erzählt Ruben dem Schneemann, „Ich würde Plätzchen backen und wir würden uns nachmittags auf dem Weihnachtsmarkt mit Glühwein betrinken und Kartoffelpüree essen. Riesenrad fahren. Und mit diesem Bähnchen, das eigentlich nur für Kinder gedacht ist. Aber wozu Weihnachten feiern, wenn man dafür nicht wieder klein sein darf."
Ruben hat Maliks Stimme noch im Ohr, wie er das letztes Jahr vor ihrer Fahrt mit dem kleinen von einer Dampflok angetriebenen Bahn durch die detailverliebte Miniaturlandschaft verkündet hat.
„Und an Heiligabend würden wir in die Kirche gehen, weil es da so weihnachtlich ist, wenn alle singen. Und ich würde einen neuen veganen Braten ausprobieren, weil das dazu gehört und er würde Unmengen an Knödeln essen. Und dann würden wir ‚Herr der Ringe' gucken bis wir auf dem Sofa einschlafen und uns streiten, ob das als Weihnachtsfilm zählt. Was es natürlich tut."
Ruben schluckt.
„Wie kann mich das jetzt schon so traurig machen? Was tue ich an Heiligabend?", fragt er, fast schon ein bisschen verzweifelt, „Was tue ich?"
Ein ‚ohne ihn' hängt in der kalten Luft neben den Atemwölkchen aus Rubens Mund.
„Ohne ihn", spricht Ruben es doch aus. Weil es dem Schneemann sowieso egal ist, was er fühlt. Weil der Schneemann ihn nur bewegungslos anstarrt, mit seinem Steinlächeln, und sowieso tiefer sinken als auf einem Spielplatz einem einsamen Schneemann seine Sorgen vorzuheulen kann man sowieso nicht.
Ruben überkreuzt die Arme vor der Brust, seine Hände umklammern seine Oberamre, als würde er sich an sich selbst festhalten. Es hilft ein bisschen gegen die Kälte, und gar nicht gegen die Einsamkeit oder die Tränen.
Ruben ballt die Hände zu Fäusten.
„Was mache ich?", die Worte verlassen seinen Mund als rauer Schrei, der irgendwo tief aus seiner Brust kommt. Er ist aufgesprungen no auf einmal ist ihm warm. Weil ihn das alles so unglaublich wütend macht. Auf Malik. Auf sich selbst. Auf die Welt und diese Hilflsoigkeit. Auf Weihnachten. Eine Weile steht Ruben nur da, Fäuste geballt, und starrt auf den Schneemann vor ihm. Mit seiner erbärmlichen Karottennase und dem scheißrosa Eimer. Diesem ewigen verdammten Steinlächeln. Ein Kick no einer seiner Ärmchen liegt im Sandkasen. Die fröhliche Schneefigur wackelt gefährlich.
„Arschloch", presst Ruben heraus.
In einer ruckartigen Bewegng dreht er sich um und flieht. Schnelle Schritte, die fast zu einem Renen werden. Nicht einmal einen ordentlichen Wutausbruch bekommt er hin. Warum hat er dem Schneemann nicht den beschissenen Hut vom Kopf gefegt, und ihn zu Boden getrampelt. Warum hat er nicht laut geschrien und gebrüllt bis ihm die Luft ausging und jedes bisschen Kälte aus seinem Körper gefegt wurde. Warum hat er nicht Malik angeschrien als er es noch konnte, warum hat er ihm nicht gesagt, dass er ohne ihn nicht weißt, wohin und warum und wie. Weil sein ganzer verdammter sozialer Zirkel sich auf einen Freund und eine Schwester bezieht, die beide verdammt nochmal nicht hier sind, wo er sie braucht.
„Arschloch", zischt er erneu als er an seiner Haustür ankommt und sich außer Atem dagegen fallen lässt.
„Arschloch", wiederholt er, ein bisschen müde jetzt. Seine Sclüssel klirren leise gegeneinander als er die Tür aufschließt no sie mit einem leisen Ächzen aufgeht. Warme Luft und der typische Treppenhausgeruch umfangen Ruben. Er hat vergessen, wie kalt ihm war, no jetzt überrollt ihn das Bedürfnis nach einer Wärmflasche und heißemTee. Oder heißer Scokolade. Aber als er durch seinen unordentlichen, leeren Flur, vorbei an Maliks leerem ZHimer und in das leere Wohnzimmer läuft, schafft er es nur noch, sich auf die quietschende Uralt-Couch fallen zu lassen, und sein Handy aus der Tasche zu ziehen. Die leere Wohnung, die eigentlich sein zuhause ist, erdrückt ihn wieder.
Ruben öffnet seinen Lockscreen, weil Instagram die beste ungesunde Therapie gegen Gedanken ist, und mehrere neue Nachrichten tauchen auf dem Bildschirm auf.

Carla, 15:08
Hey, ich bin da, aber niemand reagiert auf mein KLingeln. Könntest du aufmachen?

Carla, 15:09
Der Nachname auf dem Klingelschild ist doch Martins, oder?

Carla, 15:16
Ist alles okay? Hast du dich irgendwie verspätet? Ich kann auch in ner Stunde nochmal kommen.

Carla, 15:30
Hey, ich bin ehrlich bisschen genervt grade. Es ist wirklich kein Problem, die Besichtigung zu verschieben, aber ich warte hier jetzt schon eine halbe Stunde lang. Mir ist kalt. Schreib doch bitte, was ist.

Carla, 15:48
Okay, ich geh jetzt. Schreib, wenn du doch noch Interesse daran hast jemanden für die WG zu finden

Carla, 15:49
Oder lass es einfach

Stöhnend vergräbt Ruben das Gesicht in den Händen. Oh verdammt, verdammt verdammt.
„Sorry", tippt er. Löscht das Wort.
„Es tut mir Leid", versucht er es erneut.
„Entschuldigung"
Er schließt den Chat ohne etwas zu schreiben. Was schlimmer ist als eine seltsame ‚Tut mir Leid'-Nachricht, weil Carla jetzt weiß, dass er ihre Nachrichtengesehn und ignoriert hat. Scheiß WhatsApp. Scheiß er selbst.
Ruben lässt seinen Blick über den Wohungsaufräumversuch schweifen, den er gestartet hatte, bevor er um halb drei kurzerhand die Wohnung verlassen hat. Nur um mal kurz frische Luft zu schnappen, denkt er bitter. Daraus ist ein Nachmittag auf einer Parkbank und ein deprimierendes Gespräch mit einem Schneemann geworden. Ein Tiefpunkt.
Ruben atmet durch und öffnet sein Handy erneut.
Er ignoriert die Nachricht, in der seine Mutter ihn wahrscheinlich für Heiligabend zu sich einlädt und die, in der seine Schwester ihn fragt, wie die WG Besichtigung gelaufen ist in der Absicht, diesmal wirklich eine Nachricht an Carla zu Stande zu bringen, als ein Blick auf den Chat mit Malik fällt. Eine seit einer Woche ungelesene Nachricht wartet dort auf ihn. Zögernd hält Ruben seinen Daumen über die Nachricht, wie unzählige Male zuvor in der letzten Woche, seit sie bei ihm eingetrudelt ist. „ Hey, sorry, dass ich so spät antw-", ist alles, was rum von der Nachricht sehen kann, ohne den Chat-Verlauf zu öffnen. Eine Weile schwebt seinen Daumen über den Bildschirm unsicher. Ignorieren. Antworten. Ignorieren. Mit einem klingen kündigt sich eine weitere Nachricht an vor Ruben entscheiden kann, was er tun soll.

Malik
Und schon jemand für die Wohngemeinschaft gefunden?

Frustriert stöhnt oben auf. Und schließt WhatsApp. Dein Handy auf dem Boden und lässt sich seitlich auf die Couch fallen. Irgendwo unter seinem Rücken spürt er etwas hartes, ein Buch vielleicht. Ruben ignoriert. Es stechen, bleibt auf dem Rücken liegen und starke, die schmutzig weiße Decke. Er kann das nicht. Und zum ersten Mal seit er weiß, dass Malik auszieht, weint er so richtig. Hemmungslos und ohne Zurückhaltung.

***

„Hey, sorry, dass ich dich so im Stich gelassen hab."
Ruben steckt vorsichtig das Stöckchen wieder in die mittlere Schneemannkugel und sichert es mit ein bisschen zusätzlichem Schnee ab. Ein Mundstein ist ebenfalls abgefallen, auch den steckt Ruben behutsam wieder in die dazugehörige Vertiefung.
„Ich wollte dich nicht kaputtmachen.", fährt er fort, während er versucht den Stein so in den hartgefrorenen Schnee zu stecken, dass er nicht direkt wieder herausfällt.
„Wir tun einfach so, als wäre es nicht seltsam, dass ich schon wieder hier bin und mit drei übereinandergestapelten Schneekugeln rede ja?"
Besser er spricht die Absurdität dieser Situation direkt aus. Immerhin können er und der Scneemann sich dannn sicher sein dass Ruben durchaus bewusst ist, wie seltsam er sich verhält.
„Aber dich stört es ja nicht, oder?", sagt Ruben und klopft dem Schneemann sanft auf die Stelle der mittleren Schneekugel, die am ehesten einer Schulter entspricht. Wieder fällt der Mundstein heraus. Ruben flucht unerhört sich aus seiner knienden Position in eine stehende. Nur, um sich danach auf die Bank vom letzten Nachmittag plumpsen zu lassen.
„Tut mir Leid", entschuldigt er seine fehlende Motivation, einen neuen Versuch zu starten, den Schneemannmund zu reparieren.
„Ich glaub, das mit uns und dem Mund wird nichts mehr."
Er seufzt.
„Ich hab ihm wieder nicht geantwortet. Und die WG Besichtigung komplett verkackt.", gibt er zu, „Also so, dass sie gar nicht erst stattgefunden hat. Was aber vielleicht auch besser ist als wenn sie stattgefunden hätte, weil die WG das komplette Chaos ist, genauso wie ich, und kein Mensch so je mit mir wohnen wollen würde. Außer vielleicht Malik. Aber der hat's ja auch aufgegeben."
Ruben schweigt kurz.
„Ich weiß, dass das unfair ist. Es ist normal mehr im Leben zu haben als den einen Mitbewohner. Und ich weiß, dass ich ihn nicht ghosten sollte. Ich will nur nicht, dass er weiß, wie scheiße es mir geht. Reicht, wen ich mich dafür hasse, dass ich mein Leben ohne ihn nicht auf die Reihe kriege. Und wirklich, wie soll ich die Frage nach dem neuen Mitbewohner beantworten? Ohne zu lügen?"
Ruben schüttelt nachdrücklich den Kopf.
„Hör mal, ja, ich weiß, ich könnte Carla schreiben oder - keine Ahnung, mir mehr Mühe geben, Zettel aufhängen, was weiß ich. Aber was, wenn ich das gar nicht will? Was, wenn ich gar keinen neuen Mitbewohner will!"
Der letzte Satz hängt verhängnisvoll in der Luft. Ruben hat sich in Rage geredet un d vielleicht sie deshalb endlich rausgerutscht. Die Wahrheit. Der echte Grund, warum er es innerhalb von zwei Monaten nicht geschafft hat jemanden für die WG zu finden. Nicht, weil neue Menschen ihn nervös machen, und er es grundsätzlich hasst mit Fremden über Textnachrichten zu kommunizieren, weil er dann das Gefühl hat jedes Wort zehnmal aus fünfzig Perspektiven überdenke zu messen. Und Emojis! Erfinden mal einer einen universellen Code für Emojis, und eine narrensichere Methode, um den Ton aus einer Nachricht herauszulesen.
Der eigentliche Grund, aus dem Ruben auch jetzt immer noch keine Nachricht an Carla verfasst hat, dass solange Maliks Zimer leer steht, sein Weggehen sich weniger final anfühlt.
„Ich weiß, dass das dumm ist.", fährt Ruben den Schneemann an, als wäre der es und nicht sein eigener Kopf, die ihn für seine Gedanken verurteilen.
„Ich weiß, dass es leer fast noch schlimmer ist. Und ich weiß, dass ich es mir nicht leisten kann allein da zu wohnen, und die Vermieterin mir im Nacken sitzt."
Er verschränkt die Arme vor der Brust.
„Also hör auf, mich so anzugucken."
Ruben seufzt. Das hier entwickelt sich so langsam zu einem echten Selbstgespräch. „Ich vereinsame ja auch nicht komplett. Ich mein, ich Treff Leute in der Uni, und..."
RUB en stockt, setze neu an, „Okay, vielleicht hab ich seit zwei Monaten mit niemandem über etwas anderes als Unistoff geredet. Aber das ist nicht der Punkt!"
Und was ist der Punkt dann scheint der Schneemann, oder auch Rubens innere Stimme zu fragen.
Ruben zuckt hilflos die Schultern.
„Ich werd ein bisschen mehr aus mir herauskommen.", sagt er dann, nach einer Weile des Schweigens, „Versprochen."

***

Aus sich herauskommen heißt die nächsten Tage, dass Ruben regelmäßig auf dem Rückwegvon der Bibliothek oder seinen Vorlesungen oder dem Wocheneinkauf, einen Abstecher zu de Spieltplatz, zu seiner Bank, seinem Schneemann macht. Manchmal sagt er gar nichts, manchmal läuft er nur an ihm vorbei, weil es ihm auf einmal doch zu peinlich ist hier zu sein, und er das Gefühl nicht abschütteln kann, von zahlreichen Eltern misstrauisch beäugt zu werden.
Besser ist es an den Tagen, an denen er abends zum Spielplatz kommt. Dann hat er ihn für sich allein und beklagt sich beim Schneemann über Hausarbeiten und die Kälte, die steigenden Preise, seine Professoren und manchmal auch über MaliksAbwesenheit in seinem Leben.
Ruben weiß, dass ein Schneemann sich nicht als valider sozialer Kontakt klassifiziert, genauso wie er weiß, dass er das nicht für immer so laufen lassen kann. Aber wenn Ruben in etwas gut ist, dann darin das Lösen von Probleme viel zu lange herauszuzögern.
Und, es geht ihm besser. Er hat die Wohnun g aufgeräumt und wieder angefangen zu koche. Er hat seiner Schwester geschrieben, dass die WG Besichtigung nicht gut lief, ohne Details zu verraten, und sich danach einem SCwall von FRagen und Besorgenis stellen zu müssen, weil es schwer ist seiner SChwester vorzumachen, es ginge3 ihm gut. ER hat seiner Mutter geantwortet, dass er Heiligabend mit seinen Freunden verbringen wird (ja, mit einem Schneemann auf einer Parkbank, so wie es aussieht), aber wie immer am ersten Weihnachtsfeiertag vorbeikommen wird. Maliks Nachrichten hat er genauso wenig gelesen, wie sich um Mitbewohner ekümmtert. Dafür hat er zugestimmt, zu dieser verdammten Party zu gehen. Warum auch immer seine Kommilitonen es für eine gute Idee gehalten haben, Donnerstags eine Party zu schmeißen, wenn am nächsten Tag Uni ist. Auf einmal hatte Ruben zugesagt, und sich dann dazu gezwungen gefühlt hinzugehen. Als Ausgleich dafür, Malik wieder nicht geantwortet zu haben, obwoh zwei neue Nachrichtn von ihm angekommen waren. Also ist er zu dieser Party gegangen, hat zu viel getrunken, weil er ohne ALkohohl un Malik sonst nicht mit so vielen Men Schuhen auf einmal klarkommt. Ein be schließender Grund, um zu trinken, aber fr ein paar kostbare Stunden hat er seine Sorgen vergessen. Hat getanzt, als würde niemand zusehen, und bei Songs, die er kennt (und auch manchen, bei denen das nicht der Fall ist) laut mitgesungen.
Er hatte Spaß und alles war wieder leicht und unheimlich lustig im zuckenden Blinklicht der Partybeleuchtung. Bis er sich auf einmal torkelnd auf dem Spielplatz wiedergefunden hat.
„Hey", hat er gelallt, und irgendwie hat der Spielplatz, die verlassene Wippe, der einsame Schneemann, die Parkbank alles wieder hervorgebracht. Bestimmt eine Viertelstunde saß er dann weinend auf der Bank, die Arme wie ein kleineres Kind um seine Knie geschlungen.
„Ich hab keine Freunde außer dir", hat er murmelnd herausgebracht, „keinen einzigen", bevor er sich genug gesammelt hat, um den Rest des Nachhausweges zu schaffen. Taumelnd ist er aufgestanden, und versehentlich eben den Schneemann gestoßen. Natürlich hat er einmal nicht nur ein bisschen gewackelt, sondern ist komplett umgekippt. Und natürlich hatte Ruben  nicht das nötige Gleichgewicht, um sich auf den Beinen zu halten, und ist hinterhergekippt.
Danach war nur noch Schneematsch von dem Schneemann übrig, und Ruben saß zwischen rosa Sandelförmchen und Karottennase und konnte wieder die Tänen nicht unterdrücken.
„Jetzt hab ich gar keinen Freund mehr", hat er gedacht und geschluchzt.
Ruben weiß nicht, wie lange es gebraucht hat bis er sich danach wieder aufraffen konnte. Wie oft er versucht hat, den Schnee wieder mit ungeschickten Händen zu einem Schneemann zusammenzuschieben und gescheitert ist.
Aber jetzt, am Mittag danach, sitzt er müde und erkältet in seiner Küche und versucht mit Kaffee seines Katers und seiner Müdigkeit Herr zu werden.
Zur Uni geht er heute nich, wie wahrscheinlich der Großteil der Partygänger von gestern. So wie es gerade aussieht wird er den ganzen Tag am Küchentisch verbringen, weil er sich nicht in der Lage dazu fühlt noch einmal aufzustehen. Warum ist er überhaupt nicht im Bett geblieben, fragt er sich dumpf. Er wollte nach dem Schneemann sehen, erinnert er sich. Bis ihm eingefallen ist, dass der kaputtist und er die Rolläden geöffnet und gesehen hat, dass es über den verschlafenen Morgen hinweg angefangen hat zu tauen.
Das Weiß ist von Dächern und Autos, Bürgersteig und Straßenlaternen verschwunden und hat eine trostlose, nasse Welt zurückgelassen. Ein Wunder, dass der Schnee überhaupt so lange gehalten hat, hat Ruben gedacht, und jede Motivation heute oder morgen oder übermorgen die Wohnung zu verlassen hat sich verabschiedet.
Ruben realisiert erst jetzt, wie sehr seine Besuche beim Schneemann ihn durch die Woche getragen haben.
So zerbrechlich Freundschaften mit echten Menschen hin sein können, Schneemänner sind es noch mehr.
Und jetzt sitzt Ruben wieder genauso da, wie vor dem Schneemann, allein, ohne jemanden zum Rebend, und fühlt sich erbärmlich, weil Tauwetter auf einemal zu so einem großen Einschitt in sein Leben geworden ist.

So geht das nicht weiter, denkt er endlich am Sonntagmorgen auf seinem Weg zur Kaffeemaschine. Zumindest die Wohnung verlassen muss er wieder. Sein Schnupfen ist deutlich besser geworden. Er braucht dringend neues Toilettenpapier. Im Grunde hat er also keine andere Wahl als sich wieder herauszuwagen. Bewaffnet mit Mantel, Mütze und Handschuhen, weil es zwar keinen Schnee mehr gibt, aber rotzdem scheißekalt ist, verlässt Ruben am frühen Nachmittag die Wohnung.
Während es gestern noch durchgeregnet hat, ist es heute wieder trocken, und Ruben schlägt automatisch den Umweg über den Spielplatz ein.
Der Schneemann wird nicht mehr da sein, aber in den letzten Tagen hat Ruben den Ort an sich liebgewonnen. E ist immer etwas los dort, und es hängt so viel Leichtigkeit in der Luft. Zumindest, wenn man sich nicht, wie die Eltern, die dort stehend und zitternd von einem Bein aufs andere treten, während sie ihrem Kind zum zehnten Mal beim Ritschen zusehen, darum kümmern muss, das das eigene Kind sich nicht streitet oder vom Klettergerüst fällt oder auf die großartige Idee kommt Sand zu essen oder nach anderen zu werfen oder massenhaft in seinen Taschen mit nach Hause zu nehmen.
Heute, an einem Sonntagnachmittag, ist der Spielplatz besonders voll und Ruben ist überrascht über das Lächeln, das sich auf seine Lippen schleicht, sobald der den Weg vorbei an Klettergerüst und Rutsche betritt. Nur sein Vorhaben sich auf die Bank am Sandkasten zu setzen, wird dadurch erweitert, dass die schon von zwei jungen Fraueb besetzt ist, die sich angeregt unterhalten.
Seufzend lehnt sich Ruben an den nebenstehenden Baum und beobachtet die im Sandkasten spielenden Kinder.
Erzieht sein Handy aus der Tasche, um auf die Uhr zu sehen, aber anstelle der Uhrzeit springt ihm eine neue Nachricht ins Auge. Malik. Er steckt das Handy zurück in die Tasche.
„Fuck you", murmelt er in die Richtung des Sandkastens, von dem aus ihn ein Phantomschneemann vorwurfsvoll anguckt, und stößt sich vom Baum auf ab, um doch noch das Toilettenpapier zu kaufen, das er braucht. Ein Kind im Sandkasten weint, währen er sich auf den Weg macht, aber über das Weinen hinweg, härtet Ruben Gesprächsfetzen der beiden Frauen auf der Bank zu ihm herüberwehen.
„Echt abgefuckt, wie er dich einfach seit Tagen ignoriert."
„Ja. Am Anfang dachte ich, gut, sicher ist es einen Grund, dass er so spät kommt. Es kann ja viel dazwischen kommen, vielleicht war er krank, oder"
„Aber er hätte dies trotzdem schreiben müssen, dass aus der WG Besichtigung nichts wird. Wie lange standest du da und hast gewartet? Eine halbe Stunde?"
„Länger"
Ruben hält inne.
„Du bist einfach zu nett, Carla"
Der Name ist nicht unbedingt selten, aber, dass hier eine Carla sitzt, sich über eine fehlgeschlagene WG-Besichtigung auslässt, das kann kein Zufall sein.
Ruben beißt sich auf die Lippen. Sein Handy in der Manteltasche fühlt sich auf einmal schwer an. Eine Woche lang hatte er Zeit und hat nichts in seinem Leben verändert. Mit einem Schneemann angefreundet hat er sich, sich betrunken, aber seine realen Probleme konnte er nicht angehen. Jetzt stehen sie auf einmal wieder vor ihm.
Reiß dich zusammen, murmelt Ruben sich selbst zu. Zwei Monate lang ist er in einem Nostalgie-Sumpf des Nichtstuns stecken geblieben, darauf wartend, dass sich irgendetwas von selbst ändert. Aber so funktioniert das Leben nicht
Langsam zieht Ruben sein Handy wieder aus der Tasche und öffnet What's App. Wenn er aus diesem Sumpf herauskommen will, muss er das selbst schaffen. Zumindest den Anfang.
Es kostet Ruben einige Zeit, und als er fertig ist, sind die beiden Frauen - Carla und ihre Freundin - von der Bank verschwunden. Aber er hat es geschafft, zweimal auf den grünen „Senden"-Button gedrückt. Jetzt heißt es nur noch warten. Und Toilettenpapier kaufen.

Sonntag, 18:01
Hey!! Endlich meldest du dich, du idiot

Sonntag, 18:02
Ich weiß, ich kann mich kaum beschweren. Hab selbst zu lang gebraucht

Sonntag 18:02
Aber ich hab mir sorgen gemacht

Sonntag, 18:03
Jaa, ich weiß. Tut mir leid!

Sonnag, 18:03
Besser isses

Sonntag, 18:03
Mir auch

Sonntag 18:04
Aber das heißt, dir gehts gut jetzt?
Hat sich die von der Besichtigung schon gemeldet?

Sonntag, 18:04
Nee. Versteh aber auch wenn sies nicht macht

Sonntag, 18:05
Das wird! Hast du das ticket für Heiligabend schon gebucht

Sonntag, 18:05
jup. Wir sehen uns um zwölf am Gleis! Danke nochmal, dass
ich kommen kann

Sonntag, 18:06
Ja klar! Ich brauch dich doch um Heiligabend zu überleben

Sonntag, 18:06
same


Carla, Dienstag, 07:00
Hey. Ich verstehe, dass es dir nicht gut ging. Aber es war echt respektlos mich so lang im Dunkeln zu lassen. Ich hab tatsächlich noch nichts anderes gefunden. Samstag um vier geht bei mir. Aber  nochmal warte ich nicht so lang. So verzweifelt bin ich auch nicht.

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